Ich kann mich nicht dagegen wehren, dass Thiens Worte wie eine Axtklinge sind, die die Fesseln mühelos zerschlagen. Thien merkt, dass nun einer dieser Zeitpunkte ist, über die wir gerade gesprochen haben. Er legt sich mit mir auf das Bett. Mein Rücken an seiner Brust. Ich rutsche näher an ihn heran. Er legt sein Bein auf meines, zwängt seine Arme um mich. So fest, als wäre der Wanderplanet direkt über uns, der seinen jährlichen Sturm über die Welt entsendet und mit seinen Orkanen droht, uns auseinanderzureißen. Thiens Hände sind aber groß genug, um mich zu halten. Seine Arme stark genug, um mich zu schützen. Seine Brust kräftig genug, damit ich meinen Kopf müde darauf ablegen kann. Ich brauche grobe Hände, die mich einfach packen, genau dann, wenn ich drohe auseinanderzufallen.
Ich vergieße Tränen wie nie zuvor in meinem Leben und schluchze so laut und so oft, dass mir nach wenigen Minuten schon der Hals wehtut. Ich klammere mich an Thiens Arme. Schmiere ihn mit Rotze und mit Tränen voll.
»Lass mich nicht los!«, flehe ich.
»I’ tame a i’tamu mau tana!«, schwört er.
›Von diesem Tage und dieser Nacht an, für immer.‹
Worte können so viel bewirken. Manchmal sind sie unwichtig. Manchmal trösten sie einen. Manchmal verdeutlichen sie die Taten. Manchmal widersprechen sie den Tatsachen. Ab und an bringen sie einen zum Lachen. Mit ihnen kann man Gefühle ausdrücken. Mit ihnen kann man Kriege erschaffen. Mit ihnen kann man Frieden erlangen. Worte können einen zum Weinen bringen. Worte können einem die Seele zerreißen. Manchmal reicht ein Wort, damit sich alles um einen herum verändert. Manchmal sind keine Worte dieser Welt ausreichend, um jemanden beizustehen.
Thiens Worte aber reichen immer mühelos bis in mein Innerstes. So tief hinein, dass sie zerstörte Teile heilen, von deren Existenz ich nicht einmal etwas geahnt habe.
Ich spüre, wie er seine Nase in meinen Haaren vergräbt und meinen Geruch genauso inhaliert, wie ich den seinen. Hier in seinen Armen zu liegen ist wie … wie ein Tanz auf den Wolken. Man schwebt, hat das Gefühl zu fallen, weil der Magen abhebt, aber man wird nicht fallen. Der Himmel lässt einen nicht los, während man der wärmenden Sonne und den leuchtenden Sternen so nah ist. Jeder Blick ist wie ein Blitz, welcher durch den Körper rast. Jedes Wort zwischen uns wie Donner, der unsere Seelen zum Vibrieren bringt. Jede Berührung ist ein Sturm direkt im Himmel.
Thien vertreibt die Düsternis in mir. Er beleuchtet alles und vertreibt alle Schatten. Bunt färbt er die dunklen Erinnerungen und lässt sie in den Hintergrund rücken, sodass sie nicht mehr als Schatten irgendwo an meinem Gedankenfeld entlang schrammen und immer mal wieder auf sich aufmerksam machen. Er ist heiß wie die Sonne und erfrischend wie ein Regen. Er ist elektrisierend wie ein Blitz und belebend wie ein frischer Wind. Er ist die Hoffnung eines Regenbogens, der egal wie zerstörerisch die Katastrophe war, doch immer wieder am Himmel zu sehen sein wird.
»Ich liebe dich, lei«, wispert er.
Ich krieche tiefer in Thiens Umarmung und stelle mir vor, was passiert, wenn ich tue, was die Vorfahren von mir verlangen. Ich werde mich vor meinem ganzen Volk rechtfertigen, Diskussionen mit ihnen durchstehen und ihren Zweifeln standhalten müssen. Tag für Tag. Ich werde gezwungen sein, die Ho’oulu auf den Krieg vorzubereiten, genauso wie die Moana. Werde gezwungen sein, die Grundlage zwischen unseren Völkern auf einem akzeptablen Grad zu halten, damit das, was wir erreicht haben, nicht wieder zerbricht.
Nicht ein einziger Tag wird mehr nur mir, Anela und Thien gelten. Alles wird sich nur noch um andere drehen und nur noch um das Überleben. Die Vorfahren wollen, dass ich zwanzigtausend Menschen dazu bringe, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich die Hand zu reichen, aber dies liegt nicht in meiner Macht. Was aus uns wird und was für ein Leben wir führen, kann ich nicht beeinflussen. Ich habe es versucht und bin gescheitert, weil es an den Menschen selbst liegt, ihr Leben in die Hand zu nehmen.
Ich habe mich schon einmal dazu entschieden, nicht mehr den Weg zu gehen, der für andere richtig ist. Es ist keine einfache Entscheidung, aber ich kann das nicht mehr tun. Es ist mir einfach nicht mehr möglich. Dafür bin ich inzwischen zu kaputt, zu ausgelaugt. Ich muss endlich einen Weg gehen, der für mich richtig ist.
Natürlich komme ich nicht drum herum, mit meinem Volk Kontakt aufzunehmen, aber ich werde nicht lange bei ihnen verweilen. Es wird ihnen wahrscheinlich wie Verrat vorkommen, aber es ist so, wie es ist. Ich ziehe eine Seite vor die andere, und das wird nicht die Seite der Ho’oulu sein, bei denen ich mich nie zugehörig gefühlt habe, auch wenn mein ganzes Leben darauf ausgerichtet war, das zu erreichen. Hier kann ich ich sein. Hier bin ich nicht das verwunderliche Mädchen mit dem seltsamen Mal. Hier bin ich einfach nur Nayla. Und selbst wenn mein Volk sich dadurch verraten fühlt, dann will ich nichts daran ändern. Das ist immer noch besser, als mich selbst zu verraten.
Mein Ziel ist also ein anderes als das der Vorfahren. Sie wollen mich ausnutzen, meine Opferbereitschaft ausbeuten und sind bereit, mich als Opfer zu verwenden.
Mein Ziel ist das Leben. Es zu leben. Das Glück einzufangen, es zu schützen, damit es nicht zerbricht. Mein Glück. Mein eigenes, welches ich mir nie gegönnt habe. Dasjenige, das gerade die Arme um mich zwängt und meinen Herzschlag teilt.
Thien. Der Junge aus dem Himmel.
»Ich liebe dich auch«, wispere ich.