Entfernt am Horizont färbt sich der schwarze Himmel in ein trügerisches Rot-Orange, welches immer nur von kurzer Dauer ist, bevor das starke Blau die Herrschaft übernimmt. Eine Möwe fliegt über uns und jault, was das Zeug hält, während sie sich vom Wind nach oben tragen lässt, ohne die Flügel schwingen zu müssen. Kaum ein Vogel hat mehr Spaß sich vom Wind treiben zu lassen.
Kasi schmatzt lautstark hinter mir, aber ich schenke ihm kaum Beachtung, da mich mein Gewissen sonst noch mehr plagen würde. Die Erdbeeren und die Trauben, die ich erschaffen habe und die er gerade genüsslich vertilgt, weil er dem Geschmack seit meiner Geburt entbehren musste, könnten ihm schließlich den Tod bringen. Da könnte ich dem Vater des Jungen, den ich über alles liebe, auch gleich ein Messer an die Kehle halten. »Eine Kokosnuss, wäre wohl zu viel verlangt gewesen, hm?«, sinniert er.
Als ich mich kurz umdrehe, sehe ich, dass er ein fast glückseliges Lächeln im Gesicht hat, welches er der aufgehenden Sonne entgegen wirft. Ihn zu ignorieren, schaffe ich nicht mehr. »Worüber freust du dich so? Über deinen baldigen Tod?«
Kasi lacht. Erdbeerstückchen fallen ihm aus dem Mund und bleiben in seinem Bart hängen. »Weil ich mittlerweile glaube, dass du das schaffst, was sie dir auferlegt haben.« Ich bekomme Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit. »Du setzt alles daran, dass sich etwas ändert und es gelingt dir. Warum sollte es diesmal anders sein?«
Ich ignoriere das Thema. »Hast du Angst vor dem Tod?«
So wie ich seine Worte ignoriere, ignoriert er meine. Er ist ziemlich optimistisch, dass mit der Beseitigung von Bhanunis Leiche alles wieder im Lot ist. Ich bin da eher pessimistisch. Nur weil ihre Macht nicht mehr wirkt, die Vorfahren wieder Zugang zu der Insel und dem Volk haben und diese verzehrende Leere nicht mehr da ist, muss das noch nicht bedeuten, dass die Erde nicht mehr giftig ist. Jedenfalls hindert es Kasi nicht daran, sein Gesicht in der Schüssel zu vergraben und die Sonne grinsend willkommen zu heißen.
»Danke, dass du mich zusehen lässt«, säuselt er hinter meinem Rücken. Mein Blick liegt aber nur auf der alten Weide, die am Rand der Lichtung steht. Seit der Segnung, in denen ich nicht nur die Male der Moana bekommen habe, sondern sich auch mein eigenes Mal vergrößert hat, hat sich einiges verändert. Meine Macht hat sich verändert. Hat sich ausgedehnt, mit jeder meiner Zellen verbunden. Ich spüre den Boden, wenn ich nicht einmal den Boden berühre. Ich spüre die alte Macht des Baumes, ohne danach zu suchen.
Es war kinderleicht, die Erdbeeren und die Trauben wachsen zu lassen. Es war kinderleicht, sie wieder zu zerstören und ihnen die Kraft zu entziehen, damit niemand bemerkt, dass ich Essen erschaffen habe. Es muss ja niemand mitkriegen, dass ich Kasi vergiftet habe.
»Wie lange hat es sonst immer gedauert, bis ihr krank wurdet?«, frage ich und lasse meine Fingerspitzen über die alte Rinde gleiten. Die Maserung ist tief und schroff und durch die Versteinerung an manchen Stellen so scharf wie eine Klinge.
»Schon nach ein paar Minuten begannen die Magenkrämpfe«, erklärt Kasi mit vollem Mund. Er kaut weiter, schluckt, spült noch ein paar Schlucke Wasser hinterher. »Darauf folgten Erbrechen und Kopfschmerzen. Die meisten erholten sich wieder. Nur ein paar wenige verendeten daran.«
Ich nicke schlicht, blicke immer noch auf die Rinde. Die Jahre haben so sehr an der Weide gezerrt, dass nicht viel übrig ist, außer dem unteren Teil des Stammes, welcher so breit ist wie Hoku, der seine Flügel entfaltet.
Ich greife nach meiner Macht und einen Wimpernschlag später pulsiert die Hitze nicht nur unverzüglich in mir, sondern auch schon in der Erde unter mir. Ich schließe die Augen genießerisch, denn es fühlt sich so an, als würde ich nach Hause kommen. Keine Leere erwartet mich. Nichts attackiert mich und versucht mich zu schwächen. Stattdessen ertaste ich die alte Kraft des Baumes und erwecke sie wieder zum Leben. Nur ein Funke reicht aus, den ich mit meiner Macht in ein Inferno verwandeln kann. Wärme breitet sich in mir aus, strömt durch meine Venen und Adern. Mein Herzschlag beruhigt sich.
Dann Pulsschlag für Pulsschlag heilt der Baum sich selbst. Der Stamm wächst nach oben, wird dabei nur ein weniger schmaler. Äste brechen hervor, werden dicker und länger und rauer. Immer weiter wächst der Baum an.
Die aufgehende Sonne verzaubert die Insel. Sie strahlt wärmend an meinem Rücken. Die graue Rinde verschwindet und verfärbt sich in ein lebendiges Braun. Die Scharten, die die Rinde durchziehen, wechseln sich in dunklen und hellen Tönen ab und zieren den Baumstamm mit einer grünen und dunkelbraunen Maserung. Zwar kommt es mir nur vor wie Sekunden, aber in Wirklichkeit stehe ich hier deutlich länger. So ist es immer. Anhand des Sonnenstandes aber kann ich sehen, dass ich längst nicht so lange brauche wie früher. Wenigstens etwas positiv an dem Vorfall unten in der Schlucht.
Mein Blick gleitet weiter nach oben. Blätter sprießen aus den Ästen hervor. Erst sind es nur kleine Knospen, dann aber werden sie größer und größer und sie schälen sich auf wie Blüten und belagern die Äste zu Tausenden. Mit der Zeit werden es immer mehr und immer mehr und dann trifft mich der Geruch wie ein Schlag ins Gesicht. Ich keuche und atme gierig den Duft ein. Der Geruch nach Wald umgibt mich und so wie der Baum nun wieder vor Leben erstrahlt, erstrahlt auch etwas in mir.
Ich atme noch tiefer ein. Verliere mich in dem Geruch, der mir so gefehlt hat und merke erst jetzt, wie sehr ich mich nach der Kraft der Natur gesehnt habe.
Schrittweise weiche ich rückwärts und betrachte dabei unentwegt den Baum, der wie ein Weltwunder auf dieser leblosen Insel steht. Meine Füße schrammen über den sandigen und trockenen Boden, aber einen Moment später pulsiert die Erde wieder und unter meinen nackten Sohlen weicht die graue Erde grün leuchtendem Moos, welches jeden meiner Schritte abfedert. Ich drehe mich um. Sehe vor mir die Grenze zwischen dem lebendigem Boden, den ich gerade erschaffen habe und dem Toten, der immer noch den Großteil der Insel bedeckt.
Ranken winden sich aus der Erde und wickeln sich zu beiden Seiten um meine Hände und Arme. Dann kommen noch zwei, die sich um meine Beine wickeln und dann weiter über meine Hüfte und meinen Brustkorb. Sie winden sich so hoch, dass sie schließlich auch meinen Hals umschließen, aber die Ranken geben mir nun genauso viel Kraft zurück, wie ich ihnen zur Verfügung stelle.
Dann schließe ich erneut die Augen.
Kasi hinter mir, stößt ehrfürchtig die Luft aus seinen Lungen. »Heilige …«