Kein Leben ohne dich

Kapitel 52

Vignette

Die Rinde pikst in meinen Rücken. Thien ist nur einen halben Schritt von mir entfernt und seine Augen und sein Lächeln strahlen mir entgegen, wie die Sonne am helllichten Tag. Ich hebe grinsend die Hand und lasse die letzte Farbkugel auf seinen Kopf sausen. Grüngefärbte Locken zieren nun seinen Kopf, sein empörtes Gesicht ist es allemal wert. Bevor er sich revanchieren und eine seiner Kugeln auf meinen Kopf fallen lassen kann, hake ich schelmisch grinsend meinen Finger in seinen Gürtel und ziehe ihn grob dichter. Überrascht knallt er gegen mich und blickt mich aus feurigen Augen an. Die Kugeln, die er selbst noch in den Händen hält, lässt er dann einfach achtlos zu Boden fallen, um die Hände auf meine Hüften zu legen.

Ich beiße mir auf die Lippe, spüre wie die Farbe von seinem Kopf auf meinen Arm tropft. »Ich habe schon gedacht, ich finde dich nicht mehr«, gestehe ich, während ich eine Hand an seine Wange lege und blaue Farbe darauf verteile. Tausend kleine Spritzer sind auf seinen Wangen und auf seiner Stirn. Selbst seine Barthaare sind bunt gefärbt.

»Aber ich hab doch dich gefunden!«, flüstert er zurück. Seine Augen wandern über mein Gesicht, liebkosen jeden Zentimeter davon.

Langsam schüttele ich den Kopf, gefangen in dem Ausdruck seiner Augen. »Ich meine nicht das Spiel-«

»Das meine ich auch nicht«, unterbricht er mich. Seine Stimme ist zwar leise, aber voller Gefühl, voller Glück, voller Liebe. Sein Gesicht kommt meinem immer dichter und seine Augen hinterlassen ein Brennen auf meiner Haut, bis sie auf meinen Lippen verweilen. »Mein Leben lang habe ich auf dieser Insel nach etwas Grünem gesucht. Nach einem winzigen kleinen Zeichen nach Leben. Es war vergeblich … bis du auf unsere Insel kamst. Ich hätte nicht damit gerechnet, es auf diese Art und Weise zu finden. Und ich habe mich so an deine Augen gewöhnt, dass es mir Angst macht, sie nicht mehr zu sehen.« Seine selten schönen Augen trüben sich vor Sorge, als sich sein Blick auf meine neuen Male senkt. »Ich habe dich so oft sterben sehen, dass allein der Gedanke daran, mein Herz stillstehen lässt«, klagt er, woraufhin der Griff seiner Finger fester wird. »Ich will dich nicht verlieren.« Seine starken Finger liegen so fest an meiner Haut, als würden starke Winde an uns zerren. Als wäre die Welt im Begriff, uns auseinander zu zerren.

Meine Fingerkuppen wandern über den Bartwuchs, der seine Wange bedeckt und über meine Haut kratzt. Fasziniert starre ich auf seine Lippen, denn die Sehnsucht, ihn zu küssen, überwältigt mich. Es ist nicht vergleichbar mit dem damaligen Gefühl zwischen Atréju und mir. Das ist als wolle man einen Tropfen Süßwasser aus einem Bach mit dem Salzwasser des Ozeans vergleichen. Thiens Lippen verziehen sich vor meinen Augen zu einem schiefen Lächeln, weil er merkt, wonach mein Körper so sehnlichst verlangt. Mein Atem ist rau und in meinem Bauch ist ein ganzer Schwarm Schmetterlinge am Toben und am Spielen. Sie sind ganz frisch geschlüpft und benutzen ihre Flügel zum ersten Mal.

Es ist so wie damals, als ich mit Hoku über die Insel geflogen bin. Meterhoch in der Luft, das Gefühl schwerelos zu sein und die Angst herunterzufallen, war ein Gemisch, welches meine Nervenenden kribbeln ließ. Ich konnte nie genug davon kriegen und mit Thien wird es genauso sein. Aus meiner Kindheit und dieser Freiheit bin ich leider raus gewachsen, aber die Iho Aloha wird nie enden, denn sie ist für die Ewigkeit gemacht.

Ich will nicht länger warten und keine Zeit mehr verlieren, denn unsere Zeit in diesem Leben ist viel zu kurz. »Ich glaube, ich ersticke gleich«, wispere ich und lehne mich so weit vor, bis meine Lippen endlich seine berühren. Weichheit und Wärme empfängt mich und dringt in meinen Körper. Es füllt jede meiner Zellen bis in den letzten Winkel aus. Wir vertiefen den Kuss, drängen uns näher aneinander. Thien legt seinen Arm um mein Kreuz und zieht mich dichter an sich heran. Fest und unnachgiebig. Dennoch ist es nicht genug.

Thien öffnet die Lippen und ich tue es ihm gleich und in dieser Sekunde ändert sich alles zwischen uns. Unsere Herzen setzen im gleichen Moment aus und schlagen dann weiter, im schnellen und holprigen Tempo. Die Welt um mich herum bekommt einen Glanz, den sie vorher nie gehabt hat und diese Welt will ich noch eindrücklicher schützen als alles andere zuvor. Das, was wir erlangt haben, wird uns niemand mehr wegnehmen können. Das werde ich nicht zulassen.

Thien lehnt sich nun mit seinem ganzen Gewicht gegen mich, sodass ich zwischen ihm und dem Baum gefangen bin. Dann beendet er den Kuss und vergräbt sein Gesicht an meinem Hals. Sein Atem schlägt keuchend gegen meine Haut. Seine Lippen tanzen über meine Hals, sein Bart kratzt über meine Haut. Tief berührt strecke ich den Kopf und schmelze unter seiner Berührung, bin völlig eingelullt in seinem Geruch. Thiens Finger streichen an plötzlich an meiner Hüfte entlang, so wie gewünscht und alles andere als zart. Die Berührung lässt mich wie hypnotisiert in die Baumwipfel starren. Meine Finger streichen währenddessen über seine muskulöse Brust, über die blauen Wellen, die ich schon seit unzähligen Wochen in tiefer Sehnsucht unter meinen Fingerspitzen fühlen will. Es ist tausend Mal besser, als gedacht. Ich spüre nicht nur die leicht erhabenen Wellen, ich spüre sogar die Macht, die von ihnen ausgeht und elektrisierende Impulse auf meine Finger überträgt. Ich blinzele, kann zwischen meinen schwachen Atemzügen das Blau eines Sommertages zwischen den raschelnden Blättern erkennen.

Thien ist der Himmel. Er ist die Sonne. Ich habe das Gefühl, zu verbrennen.

Ich ziehe seinen Kopf zurück zu meinem Gesicht, dränge meine Lippen auf seine und bin bereit mich ihm voll und ganz hinzugeben. Seine Küsse sind süßer als jede Frucht und nicht vergleichbar mit irgendeinem Geschmack. Meine Finger gleiten kraftvoll über seine Arme, über seinen Rücken und dann über seinen Bauch. Ich komme nicht davon los, könnte ewig so weitermachen, aber Thien hält mich zurück und packt meine Arme. Verteilt Küsse auf meinem Mundwinkel, wandert dann über meine Wange und meinem Kiefer und dann erwischt er die Mulde zwischen Ohr und Hals und ich stoße die Luft von mir und schmelze vollends in seinen Armen.

Der Räuber meines Herzens gluckst an meinem Hals. »Ruhig Blut, Sturmmädchen! Wir haben alle Zeit der Welt!«

Haben wir nicht!

Ich will mich nicht von Thien lösen, aber er tritt langsam einen Schritt zurück und fährt sich mit der Hand durch seine Haare, wodurch er die bunte Farbe noch mehr verschmiert. Dann hakt er seinen Daumen in den Hosenbund und sieht mich lässig an. Mein Blick verfolgt seine Bewegungen und bleibt schließlich auf seinen Bauch haften, wo die feinen Haare vom Bauchnabel in einem langgezogenen Strich, bis unter die Leinenhose reichen. Ich beiße mir auf die Lippe und hebe wieder den Blick. Mein Gesicht ist knallrot, aber es ist mir völlig egal.

Vorfahren, steht mir bei! Sein Anblick macht mich wahnsinnig.

Meine Macht versinkt erneut in der Erde. Fasziniert hebt Thien den Blick, als die Blätter unseres Verstecks weiter nach oben drängen und sich vervielfachen und uns innerhalb einer Minute wie ein riesiger Kokon umgeben. Zwischen den Blättern, die in allen Grünschattierungen leuchten, erkämpfen sich bunte Blüten einen Platz. Von zartem Elfenbein, Sonnengelb, einem kräftigem Orange, sanftes Purpur, bis hin zu Nachtschwarz. Thien geht ein paar Schritte rückwärts, dreht sich dann im Kreis und kommt aus dem Staunen dieser Vielfältigkeit nicht mehr heraus. Mein Blick hingegen weicht nicht von diesem wunderschönen und zum Anbeißen aussehenden Krieger.

Es ist Zeit, diesen neuen Weg der Freiheit einzuschlagen. Einen Weg, den ich mir immer sehnlichst gewünscht, aber so lange nicht entdeckt habe, weil er auf einer anderen Insel lebte. Die Iho Aloha wurde mir zwar aufgezwungen, aber ich hätte mich so oder so in diesen Jungen verliebt. Es hätte niemand besseren für diese Segnung geben können. Die Festlandbewohner würden wohl denken, dass ich mit diesem Weg meine Freiheit aufgebe, weil ich mich auf diese Weise an jemanden binde, aber die Liebe bedeutet immer Freiheit. Das, was Bhanuni mit Norbu hatte, war eine Gefangenschaft, das ist richtig, aber es war auch keine Liebe. Wäre es das gewesen, dann wäre all das nicht passiert. Dann hätten wir keine achtzehn Jahre Krieg hinter uns. Die Liebe ist die Freiheit, weil wir unsere Last auf eine Art mit jemanden teilen, was mit nichts zu vergleichen ist. Es ist ein Aufteilen der Sorgen und der Ängste. Ein Auffangen, wenn es uns schlecht geht. Liebe ist eines der wenigen Dinge auf dieser Welt, die sich vermehren, wenn man es teilt. Ich habe viel Liebe zu verteilen.

Die Blätter um uns herum wachsen immer dichter zusammen. Das Tageslicht weicht immer mehr und schließlich sind wir von völliger Dunkelheit umgeben.

Tief einatmend sinke ich dann auf die Knie.