»Wenn ich könnte, dann würde ich jede einzelne Tat rückgängig machen«, beichtet Kasi mir in unserem letzten klärenden Gespräch. Wir beide fühlen uns unbehaglich, wir beide versenken unsere Zehen im Sand, während wir uns gegenüberstehen. »Ich würde alles tun, um zurück an den Tag zu reisen, als du das Licht der Welt erblickt hast.«
Selbstvergessen zupft er beim Reden an seinem eiszapfenförmigen Bart. »Ich würde nicht diese verfluchte Welle schicken, sondern Maleko besuchen und ihn beglückwünschen zu seinem Glück. Das ist das Leben, was du hättest führen sollen. Ein Leben mit Maleko und deiner Familie. Ein Leben mit deinen Freunden. Voller Langeweile und Freude und Glück und ohne Sorgen und ohne Leid und ohne Verlust. Die Menschen hätten zu dir aufgesehen und dich geachtet. Du wärst glücklich gewesen, hättest dich nicht vor dem Meer oder uns Ungeheuern fürchten müssen.«
Der Himmel über unseren Köpfen ist so dunkel, wie der Ozean an unserer Seite. Der Mond und die Sterne leuchten zwar über uns, aber kleine Schäfchenwolken verdecken ab und an ihr silbriges Glimmen. Neben unseren Füßen gleiten ein paar rote Krabben seitwärts über den Sand, aber ansonsten sind nur wir beide hier. Die Krabben sind nicht die ersten Tiere, die sich in den letzten Tagen auf die Insel gewagt haben. Bhanunis Machteinfluss hat endgültig seine Kraft verloren. »Ich meinte es ernst, was ich gesagt habe«, redet Kasi weiter. »Ich gebe einen Dreck darauf, was die Vorfahren sagen und das solltest du auch tun!«
Ich bin von seiner Einstellung den Vorfahren gegenüber ziemlich überrascht, schließlich ehrt man sie in allem Maße, und man wagt es nicht, sie zu beleidigen. Seitdem sie mir das aber angetan haben, scheint er nicht mehr sehr von ihnen begeistert zu sein. Wer von uns ist das schon noch?
Die alten Reste der Palmen lasse ich ohne großes Aufsehen und ohne viel Aufwand wieder zum Leben erwachen. Die großen Blätter, die in Windeseile anwachsen, breiten sich um uns herum aus und lassen den Strand wieder lebendig wirken. Mit der Veränderung meines Geburtstmals scheint bei jedem Schlag meines Herzen und bei jedem Atemzug meine Macht zu arbeiten. Selbst nachts, wenn ich schlafe, arbeitet meine Macht und verändert kleine Teile der Insel. Unsere Hütte ist mittlerweile unter großen Efeuranken begraben und nun ein richtiges Zuhause. Ein Zuhause, versteckt unter saftig grünen Blättern, fast wie eine Höhle in der Natur. Wie ein Vorhang hängen die Ranken vorm Eingang und wenn man eintritt, sieht man die große Weide an der Wand, die Gesichter unserer Freunde. Es ist mein neues Zuhause. Ich habe wieder eine Familie.
Der Rest der Lichtung der Kinder ist gerade am Aufblühen. Es gibt noch viele Ecken, die trostlos und grau sind, aber das Grün der Natur arbeitet sich immer weiter vor.
»Ich werde versagen«, spreche ich eine meiner Sorgen aus. All die Sorgen, die sich nicht abstellen lassen, weil sie mein neugewonnenes Zuhause und meine neugewonnene Familie zerschmettern werden. Mein Volk wird mich auf das übelste verabscheuen, weil ich mich zwischen die Fronten stelle – wenn ich denn irgendwann zurückgehe zumindest. Etwas, was ich im Moment nicht vorhabe, weswegen es ebenfalls ein Versagen ist. Ich will den Kampf somit ja nicht einmal aufnehmen. Nicht nur das, es ist auch Verrat.
Es ist so leicht mit Kasi über diese Dinge zu reden, auch wenn ich ihn immer noch dafür hasse, was er getan hat. Er versteht mich auf eine Weise, wie es kein anderer tut, und sagt meistens genau das, was ich brauche, um damit klarzukommen. Weil er über die Grenzen hinausgeht, die kein anderer wagt. Grenzen, die nur wir beide wagen.
»Wirst du nicht«, entgegnet er zuversichtlich. Seine türkisen Augen, mit diesen einzigartigen schwarzen Pünktchen darin, werde ich nie vergessen. Es sind nicht die Augen eines Ungeheuers. Es sind die Augen eines Anführers, der bis zum bitteren Ende für sein Volk gekämpft hat. Augen, die mich wochenlang mit Ehrfurcht und Demut betrachtet haben und die nun nicht nur voller Dankbarkeit auf mir liegen, sondern auch voller Stolz. Die Art von Stolz, die Eltern empfinden. »Irgendwann – ich weiß, dass das Jahre dauern wird – können wir von vorne anfangen, Handel miteinander treiben, uns aneinander gewöhnen und irgendwann, ein paar Generationen weiter, können wir uns zusammentun und vielleicht wieder eins sein.«
»Was ist mit dem drohenden Krieg? Der steht deiner Zukunftsvision im Weg.«
Seine Schultern senken sich. Sein Blick ist starr auf die Palmen gerichtet. »Ich weiß nicht. Irgendwie kann ich das immer noch nicht realisieren.«
»Hast du keine Angst?«, wechsele ich das Thema. Ich stelle die Frage nur, weil er völlig unbekümmert aussieht. Die Früchte, die er gegessen hat, haben ihm nicht geschadet und nicht einmal Übelkeit oder Bauchschmerzen hinterlassen, weshalb wir wenigstens einen Grund haben, uns zu freuen. Wir werden nicht verhungern.
»Um mich selbst? Nein, da habe ich keine Angst. Um die anderen? Dann ja, aber all meine verloren geglaubte Hoffnung ist zurückgekehrt, seitdem ich dich kenne.« Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich die Worte stören. »Es gibt viele mutige Leute, die mit allen Mitteln kämpfen, aber die doch scheitern, so als wäre es vorherbestimmt. Sobald es mit dir zu tun hat, richtet sich aber alles wieder.«
»Der Schein trügt gewaltig.« Ich wende den Blick von dem Mann ab, der meiner ganzen Familie den Tod gebracht hat. Der Mann, der meinem Vater so ähnlich ist.
Kasi aber lacht. »Zweifel sind gut, Mädchen,«
Ich teile Kasis Lachen im Moment nicht. Habe ich das jemals getan? Dann sollte ich auch jetzt nicht damit anfangen. »Thien und ich werden eine Verbindung miteinander eingehen.« Kasis Augen weiten sich wie erhofft bei meinen Worten. »Das wollte ich dir noch erzählen, bevor du gehst.«
Kasi lächelt ein Lächeln, was mir fremd ist. Ist es Stolz? Ist es Glück? Ich vermag es nicht zu sagen. »Das freut mich für ihn. Er war immer mein Sorgenkind und irgendwie nie glücklich zu kriegen … Paco war der Ruhige von ihnen, sehr reif und überlegt. Thien hingegen war ein Raufbold und immer unzufrieden mit allem. Viele haben mir es nachgetragen, dass wir so schlimme Dinge getan haben, aber er lastete mir das wirklich an und nun ist sein Hass so abgrundtief, dass es mich zerfrisst. Auch wenn sein Hass auf allen Ebenen gerechtfertigt ist.« Kasi seufzt. »Du hättest mich nicht darum bitten müssen, die kommende Aufgabe für dich zu übernehmen. Ich hätte es so oder so getan.«
»Weil du deine Rechnung begleichen willst?«, frage ich angesäuert.
Er schüttelt schnell den Kopf. »Um den Willen der Vorfahren, nein! Weil dies nicht dein Kampf ist, Mädchen! Und es ist nicht Thiens! Es ist ganz allein meiner.«
Ich stoße ein tiefes Seufzen aus und wechsle das Thema. »Willst du dich wirklich nicht von ihnen verabschieden?«, hake ich nach, weil ich seine Entscheidung nicht verstehen kann. Es wäre nicht sein erstes Lebewohl an seine Söhne, aber sein Letztes. Vielleicht ist es genau das, was es ihm so schwer macht. Jedenfalls hätte ich niemals damit gerechnet, dass Kasi nach allem, was war, nun diesen feigen Abschied wählt. Aber was weiß ich schon? Die meisten Menschen hätten wohl auch nicht gedacht, dass ich nach allem, was war, meinem Volk den Rücken kehren würde.
Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erscheint es mir die gleiche Feigheit zu sein, wie das, was Kasi nun tut. Das ist ganz schön deprimierend.
»Nein«, reißt mich Kasi aus meinen Gedanken. »Es ist besser, wenn ich ohne einen Abschied gehe, so wie die anderen es getan haben. So kann mich Paco nicht aufhalten und ich muss nicht noch einmal Thiens Abscheu spüren.«
Ein paar Sekunden lang stehen wir uns stumm gegenüber. Es gibt noch so viel zu sagen und doch ist irgendwie alles gesagt. Als ich ihm vor ein paar Tagen das Urteil verkündet habe, da war er so erleichtert. ›Thien wird mich niemals alleine zurückgehen lassen, Kasi. Aber wenn ich ihn mitnehme, dann fürchte ich, wird es keiner von uns überleben. Mein Körper ist immer noch geschwächt, mein Kopf tut immer noch die meiste Zeit weh und ich kann mir keine Schwäche erlauben. Thiens Anwesenheit wird mich zusätzlich ablenken, Kasi. Er wird meine Schwäche sein, weil ich Angst habe, ihn zu verlieren. Hilf mir, ihn zu beschützen! Töte Norbu für mich, damit Thien in Sicherheit ist!‹
Nicht einen Moment des Zögerns gab es von Kasi. Stattdessen hat er selig gelächelt.
Auch jetzt zögert er nicht. Ein letztes Mal nicken wir uns zu, dann wendet er sich ab und steigt in die Wellen. Ich sehe ihm hinterher, bis er untergetaucht ist.