Was auch kommen mag

Kapitel 57

Vignette

Der tote Wald reicht an einem Abschnitt unserer Insel fast bis zum Ozean. Eine alte Eibe steht dort mitten im Strandsand, mit einem hüfthohen Stamm, aus dem seitlich in alle vier Himmelsrichtungen weitere Stämme emporwachsen. Auf der großen Plattform dazwischen, haben wir uns niedergelassen. Hoku hat sich an einen der Stämme zurückgelehnt und war alsbald nach unserem Eintreffen eingeschlafen. Sabber sammelt sich an seinem Schnabel, aber wenigstens schnarcht er heute nicht wie sonst, womit er einem brüllenden Elch Konkurrenz macht. Anela liegt unter seinem linken Flügel, den Kopf auf seinem Bauch gebettet. Ich habe es mir in Hokus rechtem Flügel bequem gemacht. Seine Federn sind immer so weich und warm, dass man gar nicht anders kann, als seine Nähe zu suchen.

Nayla lehnt mir gegenüber mit dem Rücken an einem der anderen Stämme. Unsere Füße berühren sich, aber wir reden nicht miteinander. Eine angenehme Stille herrscht hier, weit ab von den anderen, die immer noch feiern, obwohl der neue Morgen so nah ist. Naylas Blick ist auf den Horizont gerichtet, wo der dunkelblaue Himmel von den grell leuchtenden, orangefarbenen Strahlen vertrieben wird. Wir beobachten in tiefer Zufriedenheit, wie das Firmament immer heller wird und sich die Kuppe der Sonne schließlich über den Rand des Ozeans schiebt. Von hier aus sind es nur zwei Schritte bis zu den Wellen, aber umso höher die Sonne steigt, umso näher kommen die Wellen. Mittlerweile berühren ihre Ausläufer den Stamm der Eibe, auf dem wir sitzen. Fragend werfe ich Nayla einen Blick zu, aber das Branden scheint ihr nicht so viel Angst zu machen, wie befürchtet. Die Angst ist dank der jüngsten Geschehnisse um ein vielfaches gestiegen, aber gleichzeitig mit ihrer Moana Segnung im Widerspruch. Ich kann ihr ansehen, dass sie das lockende Rufen des Meeres hört, wie ein Wispern, welches ihr den Frieden verspricht. Ich höre es seit meiner Kindheit und ich weiß, der Ozean hält seine Versprechen. Dort unten ist der friedlichste Ort der Welt, der ruhigste und schönste. Das Rufen lockt uns Moana täglich und wir geben dem nach. Ansonsten wäre all unsere Hoffnung und unser Lebenswille nicht vorhanden. Die Schönheit und die Lebendigkeit, die Farben und die Tiere und die Pflanzen, all das ist nur eins: Frieden.

Nayla schließt die Augen, als die Sonnenstrahlen unser kleines Versteck erreichen und sich wärmend auf ihre Haut legen. Tief atmet sie ein und entspannt sich noch mehr.

Ein Summen flirrt um mich herum und Naylas ruhiger Atem verrät, dass sie die Ursache dafür ist. Unter meinem Hintern bildet sich ohne Vorwarnung frisches Moos, ein schönes, dunkles Grün, welches sich danach auch auf den Rest der Plattform breitmacht. Noch bevor ich nach oben schaue, sprießen die ersten Blätter aus den vertrockneten Ästen. »Ich liebe Trauerweiden, weil ihr Blattwerk so gigantisch ist und ihre Äste immer bis auf den Boden hängen«, wispert Nayla und öffnet ihre strahlend grünen Augen, um einen Blick auf den toten Wald hinter uns zu werfen. Irgendwie hatte er immer etwas Gruseliges an sich und dennoch war er immer der größte Beweis dafür, dass es hier einmal anders aussah. Nayla hat ihre Haare über eine Schulter geschmissen, sodass sie vorne an der Seite ihres Körpers wie ein Wasserfall hinabgleiten. Ihre grünen Augen leuchten bewundernd und suchen meinen Blick. »Aber der Banyanbaum ist genauso faszinierend, oder?«

Ich schaue noch einmal auf, kann die Bäume, welche gerade erst anfangen zu grünen, aber nicht auseinanderhalten. »Welcher soll es sein?«

Nayla kichert. Hat sie jemals vorher gekichert? »Der, in dem du sitzt, vielleicht?«

War der Schlag von Norbu vielleicht doch zu heftig? »Ich weiß vielleicht nicht so viel wie du über Pflanzen, aber ich bin mir sicher, wir sitzen in einer Eibe.«

»Thien!« Ich liebe es, wenn sie meinen Namen sagt. Selbst wenn er mahnend oder belehrend aus ihrem Mund kommt. Sie beugt sich zu mir vor und deutet hinaus in den Wald. »Das hier ist kein Wald – das war er mal – tausend Jahre mag es vielleicht her sein, aber die Wurzeln des Banyanbaums haben genug Zeit gehabt, um zu wachsen. Inzwischen ist es ein einziger Baum, ein Organismus, tief verwurzelt im Erdreich. Die Eibe ist schon lange tot, wortwörtlich.« Sie streicht über eine der Ranken, dessen Versteinerung langsam nachlässt und sich in etwas Lebendiges verwandelt. »Der Banyanbaum wächst und wächst immer weiter und nutzt die anderen Bäume zum Ankern und zum Wuchern und klaut ihnen die Nährstoffe aus dem Boden und die Sonnenstrahlen, bis sie eingehen.«

Verwundert blicke ich mich um, versuche zu verstehen, was sie mir gerade erzählt hat. Der Wald ist gar kein Wald, sondern ein einziger Baum? Das ist schwer zu glauben.

Während der sogenannte Banyanbaum dank Naylas Hilfe zum Leben erwacht, erklärt sie mir seinen Aufbau. Seine tausend Wurzeln, seine tausend Äste und seine Ranken und seine Luftwurzeln. Grün über Grün und Braun über Braun. Tausend Schattierungen. Ein einzigartiger Anblick. Ein einzigartiger Geruch.

Vor mir sitzt ein einzigartiges Mädchen.

Nayla hat uns aus der Asche gezogen und sie erschafft uns hier bald ein kleines Paradies, welches mein Volk einmal selbst zerstört hat. Ich aber, ich habe ein anderes Paradies gefunden. Ein Paradies mit leuchtenden grünen Augen und einer ausgereiften großen Klappe, die ich nur allzu gerne mit meinen Küssen zum Verstummen bringe.

»Was hast du nun mit Kasi vor, lei?« Meine Worte sind leise und so vorsichtig, als wären sie scharfes Glas, an welchem man sich leicht schneiden kann. Dennoch müssen wir irgendwann darüber reden. Wir können das Thema nicht ewig aufschieben.

Ungewollt erstarrt Nayla. Zu lange schweigt sie, nachdem ich ihr die Frage gestellt habe. »Nur weil er mein Vater ist, heißt das nicht, dass er kein Ungeheuer ist und den Tod nicht verdient hat.«, bringe ich die Worte hervor, die mit jedem Buchstaben der Wahrheit entsprechen.

»Ich weiß«, wispert sie und greift dann nach meiner Hand. Ein ungewohnter Schatten huscht ihr über das Gesicht und seltsamerweise senkt sie den Blick, so als könne sie mir nicht in die Augen schauen. »Ich soll dir von ihm ausrichten, dass es keinen Vater auf dieser Welt gibt, der stolzer ist als er.«

Ich verziehe böswillig das Gesicht. »Traut er sich nicht einmal mehr es mir selbst zu sagen?«

Naylas Blick fällt auf die Narbe, die mir die Medusa über meinem ganzen Bein hinterlassen hat. Sie verfolgt den Verlauf der eingebrannten Tentakeln von meinem Fuß, bis hinauf zum Knie. Ich sehe ihr sofort an, dass ihr etwas zu schaffen macht. Sie lockert ihre Schultern und stößt dann geräuschvoll den Atem aus, bevor sie wieder den Blick zu mir hebt. »Er ist fort, Thien«, erklärt sie mit belegter Stimme, während ihr Daumen beginnt beruhigend über meinen Handrücken zu streicheln. »Kasi ist fort, um dich zu schützen, weil ich ihn darum gebeten habe.« Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet und verstehe die Zusammenhänge zwischen ihren Worten kaum. »Ich habe Angst vor Norbu, noch mehr als früher und mehr als ich mir eingestehen will«, setzt sie um Verständnis ringend hinterher. »Außerdem ist er unberechenbar und ich habe schon einmal gegen ihn verloren. Deshalb war meine Angst zu groß mit dir zurückzugehen und mich ihm zu stellen.«

Mein Blick trifft den ihren. »Du hast meinen Vater dazu gebracht, es zu tun!«, entflutscht es mir mit leichtem Vorwurf, dabei weiß ich nicht einmal, was ich ihr vorwerfe.

»Ja.« Nayla kriecht ein Stück näher zu mir, ihre Finger spielen immer noch mit meinen. Mit einem mitfühlenden und um Verständnis bittenden Blick sieht sie zu mir herauf.

»Es tut mir nicht leid, auch wenn es das vielleicht sollte. Dein Schutz ist mir aber wichtiger als alles andere, und Kasis Tod ist mir völlig egal – auch wenn er dein Vater ist.« Die Sonne steigt am Horizont immer weiter hinauf. Der Wald erleuchtet in goldenem Licht, genauso wie Naylas feines Haar. »Ich weiß, dass du ihn immer noch verabscheust, aber heute hat er ein letztes Mal bewiesen, dass er alles für dich tun würde, so wie er es schon sein Leben lang getan hat … Ich würde mich wundern, wenn du ihm irgendwann verzeihst und du musst es auch gar nicht, aber irgendwann wirst du vielleicht sehen, dass er nicht durchweg schlecht war.«

»Er hat zu viel zerstört«, sage ich daraufhin und lehne mich entkräftet zurück. »Nur weil seine Absichten gut waren, bedeutet das nicht, dass seine Handlungen gerechtfertigt waren.«

Nayla kriecht zu mir herüber, zwischen meine Beine und lehnt sich an mich. Ihr Atem tanzt über meine Haut, ihre Haare kitzeln mich an der Brust. »Ich weiß, aber vergiss nicht, dass er uns dadurch eine Chance auf eine Zukunft gegeben hat.« Eine Zukunft. Das ist wahr. Wie groß diese Chance dadurch ist, ist aber nicht einzuschätzen. Vielleicht ist sie ausreichend genug, vielleicht ist diese Chance nichtig. Ich kann ihm dennoch nicht verzeihen.

Ich seufze. »Ach Lei, soll dich mal einer verstehen!«

»Soll ich lieber mehr wie die Festlandbewohner sein?« Ihr Brustkorb bebt leicht. Ich höre ihr leises Glucksen. »Dann muss ich dir morgen die Hand abhacken.«

Mit gehobener Augenbraue streiche ich ihr über die Haare und blicke auf den Ozean hinaus. Nur Dieben wird die Hand entfernt. »Was habe ich gestohlen? Und wird jemand für mich aussagen? Gibt es keine Gerechtigkeit?«

»Mein Herz«, antwortet sie keck. »Du hast mein Herz gestohlen. Vielleicht wiegen deine guten Taten es wieder auf, ich weiß es noch nicht.«

Ich vergrabe meine Nase in ihren Haaren und lache hinein. Müde schließe ich dann die Augen. Hokus Brust ist so flauschig, dass ich glattweg in den Schlaf driften könnte. Die letzten Tage waren einfach zu anstrengend. »Welche guten Taten?«, flüstere ich.

»Du hast meine Seele geheilt«, erwidert sie zufrieden seufzend und kuschelt sich enger an meine Brust. »Nur deswegen darfst du mein Herz auch behalten, weil du im Gegenzug meine Seele gerettet hast.«