1.

Ein Verbrechen an unseren Kindern

In Deutschland erleben Millionen von Kindern hautnah, was es bedeutet, arm, ja abgehängt zu sein. Das wollen wir in diesem Buch schonungslos aufzeigen. Viele dieser Kinder sitzen mit knurrendem Magen im Schulunterricht und können diesem ab der zweiten oder dritten Stunde nicht mehr folgen. Das berichten uns Lehrerinnen und Lehrer immer wieder. Seit fast dreißig Jahren, in denen es die Arche gibt, kommen Kinder, ohne überhaupt ein Frühstück zu sich genommen zu haben, nach der Schule in unsere Einrichtungen und wollen zuerst einmal etwas essen. Das gibt es bei uns kostenlos, nicht nur für die Kinder, sondern zum Teil auch für ihre Eltern. Sie haben richtig gelesen: fast dreißig Jahre Hunger – und das in einem so reichen Land wie Deutschland! Armut ist vielfältig und facettenreich, überwiegend auch unsichtbar. Daher wird sie von der Mehrheit in diesem Land zumeist kaum wahrgenommen. Das wollen wir an dieser Stelle ändern. Wir fragen daher schonungslos in diesem Buch: Wo versagt unsere Gesellschaft? Wo versagen wir alle? Und vor allem: Wo versagt die Politik?

Hat sich in den dreißig Jahren Arche überhaupt etwas zugunsten benachteiligter Kinder verändert? Für Tausende von Arche-Besuchern ja, politisch aber eher zum Negativen. Kinder haben keine Lobby. Politikerinnen und Politiker geben sich in unseren Häusern die Klinke in die Hand, sie wollen von unseren Erfahrungen profitieren. Sie wollen Konzepte von uns für ihre Parteiprogramme und setzen sie danach aber nicht um. Die Politik in Deutschland erweist sich als narzisstische Luftpumpe. Doch der Reihe nach …

Worüber wollen wir in diesem Buch schreiben? Ein Beispiel: Ein Schulleiter aus Hamburg – nicht gerade eine arme und abgehängte Stadt – rief kürzlich in einer unserer dortigen Archen an und fragte, ob wir der Schule ab sofort ein kostenloses Frühstück für rund einhundert Jugendliche liefern könnten. Zu Hause fehle den Eltern dieser Schüler das Geld für gutes und gesundes Essen, sagte er. Sie als staatliche Schule hätten von den eigentlich zuständigen kommunalen Behörden auf ihre Anfrage nur Absagen erhalten.

Die reiche Hansestadt hatte für ihre armen Kinder kein Geld übrig. Von einer Behörde erhielt der Schulleiter sogar den Hinweis: „Bettelt doch bei der Arche, die sind für so etwas zuständig.“ Das Geld braucht man in Hamburg aus Sicht der dortigen Politik wohl für „wichtigere“ Dinge.

In Hamburg werden laut den Schwarzbüchern aus verschiedenen Jahren regelmäßig öffentliche Steuergelder verbrannt. Ob überflüssige Brücken oder andere radikale Verfehlungen – man denke nur an die Sünden beim Bau der Elbphilharmonie –, dafür ist immer Geld vorhanden. Das dürfen auch schon mal einige Milliarden sein. Doch Hamburg hat für seine Gegenwart und Zukunft, nämlich die der Kinder, nicht wirklich etwas übrig. Dabei zählt die Hansestadt eher zu den wohlhabenden Regionen. Laut dem Statistikamt Nord bekommen in Hamburg rund 20 Prozent aller Kinder Sozialleistungen, in einigen Bezirken ist sogar jedes zweite Kind betroffen. In den Stadtteilen Billwerder und Billbrook sind es fast 80 Prozent der Kinder, die von Bürgergeld leben müssen.

Eigentlich sollten sich Politiker wie der jetzige Bürgermeister Peter Tschentscher oder sein Vorgänger Olaf Scholz dafür jeden Tag entschuldigen. Aber die Herren haben sicher Besseres zu tun. Schließlich muss der Wohlstand der Elite der Stadt gestärkt und vermehrt werden. Was zählen da schon die Schicksale von zigtausend Kindern und Jugendlichen? Die dürfen das aufsammeln, was die Besserverdienenden ihnen übrig lassen.

Hamburg ist nur ein Beispiel dafür, dass etwas schrecklich schiefläuft. Denn in anderen Metropolen wie auch in Kleinstädten verhält es sich nicht viel anders. In der Stadt gibt es aber auch zahlreiche Menschen, die helfen und sich für sozial benachteiligte Kinder einsetzen. In Hamburg hat die Arche einen sehr engagierten Freundeskreis und auch aus der Politik kommt hier und da vereinzelt Hilfe. Aber wir müssen die Kinder und Jugendlichen teilhaben lassen am Erfolg unserer Gesellschaft.

Die Arche liefert jetzt der Schule das Frühstück für die sechzehn- bis achtzehnjährigen Jugendlichen. Wir machen das gerne, dank unserer Spenderinnen und Spender. Aber Essen auszugeben ist eigentlich nicht unsere Kernaufgabe.

*

Mit der Gerechtigkeit ist das so eine Sache. Sie lässt sich nicht messen, man kann sie nur fühlen. Sie wird eigentlich von fast allen Menschen in Deutschland als ein hohes Gut betrachtet. Wer wünscht sich schon Kinder, die arm sind und in unserem Land hungern müssen? Wahrscheinlich niemand. Aber dadurch ist Gerechtigkeit auch zu einer billigen Ware, zu einer Floskel verkommen. Selbst der Finanzminister und FDP-Vorsitzende Christian Lindner, der sich nicht gerade als Sozialpolitiker einen Namen macht, spricht von sozialer Gerechtigkeit, ohne sich dabei übergeben zu müssen. Es gilt also zu hinterfragen, was wir unter Gerechtigkeit eigentlich verstehen. Sozialwissenschaftler der Humboldt-Universität zu Berlin haben das im Auftrag der Zeitschrift „GEO“ getan. Ihre Ergebnisse sind eine wissenschaftliche Bestätigung der Dinge, die wir in unserer praktischen Arbeit auch erleben: Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Verhältnisse in Deutschland ungerechter geworden sind.

Und weiter haben sie Folgendes herausgefunden: Nur knapp die Hälfte der Menschen in Deutschland glaubt heute noch, dass die Begabung und Intelligenz junger Menschen belohnt werden. Darüber können wir allerdings nur lachen. Es ist alles viel brutaler. Kaum eines der Kinder, die zu uns kommen, macht Abitur und studiert danach. Es sind nicht einmal 5 Prozent. Ist das gerecht?

Glauben Sie uns einfach: Die Kinder und Jugendlichen, die in unsere Arche-Einrichtungen kommen, sind genauso oder eben nicht weniger begabt als andere Kinder auch. Sie haben Talente und Begabungen, die aber gefördert werden müssen. Und wenn das ihre Eltern nicht können und manchmal auch nicht wollen, dann müssen wir das machen, dann muss die Gesellschaft einspringen. Und wenn sie das nicht tut, ist das ein Verbrechen an unseren Kindern. So einfach ist das!

In der Studie „Deutschland ist ungerecht“ stellte man den Deutschen eine Frage zur Gerechtigkeit in unserem Land: „Solange es gleiche Chancen für alle gibt, ist es gerecht, wenn einige mehr Geld und Vermögen haben als andere?“ Dies beantworteten fast 80 Prozent mit Ja.

Immer wieder besuchen uns in den mittlerweile über dreißig Archen Spender, Unternehmer, Arbeitnehmer, Diplomaten und Politiker. Ja, ganz normale Menschen, sozusagen der Querschnitt unserer Gesellschaft. Sie alle wünschen sich – das hören wir immer wieder – einen Staat, der mehr soziale Verantwortung übernimmt. Sie alle wollen, dass die Politik den Menschen, die wirklich arbeiten wollen, einen ordentlich bezahlten Arbeitsplatz zur Verfügung stellt. Fast alle dieser Besucherinnen und Besucher fordern, dass die jeweilige Bundesregierung allen Menschen in unserem Land einen Mindestlebensstandard garantiert.

Doch jetzt hat unsere – in meinen Augen schwache – Bundesfamilienministerin Lisa Paus noch eine Schüppe draufgelegt. Mit ihrer für das laufende Jahr geplanten Kindergrundsicherung ist sie jämmerlich gescheitert. Sie hat sich von Christian Lindner abzocken lassen. Zuerst wollte sie für dieses überlebensnotwendige Projekt 12 Milliarden Euro haben, dann 8 Milliarden und letztendlich sind es nur 2,4 Milliarden Euro geworden. Das sind rund 30 Euro pro betroffene Familie mehr. Ein Witz! Das gleicht höchstens die Inflation aus.

Die Kinder in unserem Land scheinen für die Politik unwichtig geworden zu sein. Dann redet man zum Beispiel doch lieber über das Klima und natürlich über das Gendern. Das alles ist eindeutig ein Verbrechen an unseren Kindern.

Und dann verplappert sich die Bundesfamilienministerin auch noch. Sie spricht plötzlich von ca. 5,6 Millionen betroffenen Familien, die in und in der Nähe von Armut leben müssen. Rechnet man mit 1,5 Kindern durchschnittlich in diesen Familien, dann leben mehr als 8 Millionen Kinder in Deutschland in Armut. Eine Horrorzahl! Sind es jetzt 4,5 Millionen Kinder oder 8 Millionen? Weiß die Ministerin, worüber sie da redet? Da könnte man doch auch eine Pappfigur an die Spitze des Familienministeriums stellen.

Das alles sind für uns in letzter Konsequenz kriminelle Handlungen an der jungen Generation. Über die Forderungen der Arche zur Kindergrundsicherung schreiben wir ausführlich in einem der Kapitel.

Passiert ist in Sachen Sicherung eines Mindestlebensstandards also in den letzten knapp dreißig Jahren nur wenig. Auch deshalb sind wir als Arche im vergangenen Jahr finanziell an unsere Grenzen gestoßen. Wir bekommen bis heute in ganz Deutschland immer wieder Anfragen zu hören wie: „Wir haben zu Hause nichts mehr zu essen. Könnt ihr uns mit Lebensmitteln helfen?“ Das machen wir natürlich, obwohl auch das nicht die Kernarbeit einer Kinder- und Jugendstiftung ist. Dafür ist unserer Meinung nach der Staat zuständig. Allein in einer einzigen Berliner Arche standen weit über eintausend Menschen Schlange, um eine Lebensmitteltüte im Wert von 65 Euro entgegenzunehmen. Die Wartezeit für die Menschen – es waren in erster Linie Mütter mit ihren Kindern – betrug zum Teil mehr als drei Stunden. Und an uns gerichtete Vorwürfe aus der Politik und Teilen der Gesellschaft waren schnell ausgesprochen: „Da würden wir uns auch anstellen, wenn es etwas kostenlos gibt.“

Das ist allerdings vollkommener Schwachsinn und entlarvt nur die Unkenntnis all derjenigen, die so etwas sagen, über die tatsächliche Situation. Ein junger Journalist machte hingegen die Probe aufs Exempel. Er stellte sich bei uns morgens zusammen mit einer Mutter und ihrer kleinen Tochter mit in die Schlange. Die drei warteten zweieinhalb Stunden. Der Journalist war danach mit den Nerven fix und fertig. „Das macht kein Mensch freiwillig“, schrieb er uns am Nachmittag. Und weiter: „Ich schäme mich für mein Land.“ Er war übrigens ein konservativer Schreiberling, kein linker Träumer.

An solchen Tagen, nach langer Arche-Arbeit, wenn es um existenzielle menschliche Grundbedürfnisse geht, für die Menschen stundenlang anstehen, muss auch ich mich immer wieder neu sortieren. Manchmal habe ich dabei Tränen in den Augen, die ich heimlich versuche wegzuwischen. Da müssen bei uns Kinder mit ihren Eltern betteln, um satt zu werden. Und wenn die oft alleinerziehenden Mütter zu stolz sind zu betteln – ja, das ist ein böses und brutales Wort –, dann müssen die Kinder eben hungern. Und viele dieser Kinder und Jugendlichen sitzen dann eben, ohne ein Frühstück zu sich genommen zu haben, in der Schule, können sich nicht konzentrieren und scheitern an unserem Schulsystem. Auch das ist ein Verbrechen an unseren Kindern.

*

Wenn wir hier von Verbrechen sprechen, dann muss es ja auch Täter geben. Und in diesem Fall ist die Politik die Täterin oder der Täter – eine jämmerlich gescheiterte Politik. Auch wir alle, also die Gesellschaft, tragen eine große Mitschuld an diesen katastrophalen sozialen Missständen. Warum erhöhen wir also nicht den Druck auf die jeweils Regierenden?

Wir sind zu Jasagern verkommen.

Wir alle schweigen und machen uns so zu Tätern.

Was wir immer wieder hören, ist die folgende Frage: „Warum arbeiten die Eltern nicht, warum lassen sie es überhaupt so weit kommen?“ Zuerst einmal: Zahlreiche Mütter und Väter schaffen es einfach nicht, ihr Leben zu meistern, und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Es sind oft physische oder psychische Krankheiten, manchmal ist es auch eine gewisse Lustlosigkeit. Etliche Mütter und Väter können sich einfach nicht mehr aufraffen, etwas zu tun. Aber wie soll zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter von drei kleinen Kindern überhaupt arbeiten? Oft sind die Kinder krank und die Mutter kann ihrem Beruf kaum gerecht werden und ihn ausüben. Nicht selten bekommt eine Mutter dann zu hören: „Sie sind zu unzuverlässig, da suchen wir uns jemand anderes.“ Aber solche Schuldzuweisungen sind unberechtigt und unüberlegt. Sollen wir die Mütter und Väter hungern lassen und bestrafen? Sollen die Kinder unter einer solchen Situation leiden müssen? Nehmen wir die Kinder etwa in Sippenhaft?

Die ist Gott sei Dank abgeschafft. Aber gerne wollen wir an dieser Stelle noch einmal deutlich machen, dass die Kinder nichts, aber auch gar nichts für die miese finanzielle Situation ihrer Eltern können. Sie können auch nichts für die möglicherweise fehlende Schulausbildung ihrer Eltern, müssen aber bei uns in Deutschland mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen leben. Auch das ist ein Verbrechen an diesen Kindern.

Täglich kommen in unsere Einrichtungen bis zu 7000 Kinder und Jugendliche. Fast alle dieser jungen Menschen leiden durch ihre familiäre Situation. Eine Schande, die mir die Tränen in die Augen treibt.

In Deutschland leben 4,5 Millionen Kinder – oder sind es sogar 8 Millionen (unsere Familienministerin spricht wie gesagt ja von ca. 5,6 Millionen betroffenen Familien)? – in oder in der Nähe von Armut. Viele dieser Kinder haben, anders als die Arche-Kids, keine Anlaufstellen und keine Erwachsenen, die sich, ohne eigene Absichten zu verfolgen, um sie kümmern. Sie müssen selbst sehen, wie sie klarkommen. Aber was ist die Konsequenz daraus? Rund 50 000 Jugendliche, alleingelassen durch unsere Gesellschaft, gehen jährlich ohne einen Abschluss von der Schule. Die meisten von ihnen erhalten keinen Ausbildungsplatz. Warum aber darf ein junger Mensch beispielsweise nicht als Schreiner arbeiten, wenn er in Biologie und Englisch eine schlechte Note hat? Auch das ist, nicht nur unserer Meinung nach, ein Verbrechen an der jungen Generation.

Was ist die Folge? Diese verlorene Generation muss, wie schon ihre Eltern, von Transferleistungen leben. Diese bezahlen dann wieder die Gesellschaft. Ist das nicht krank?

Parallel schreien wir nach Arbeitskräften aus dem Ausland, denn unsere eigenen Kinder sitzen ja unausgebildet, bildungsfern in ihren Wohnungen und langweilen sich. Manchmal kommen sie auch auf schlechte Gedanken und werden kriminell. Denn wenn man jung ist, braucht man Geld. Für die ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind keine Wohnungen vorhanden, rund 600 000 Wohnungen fehlen schon jetzt in Deutschland, Tendenz steigend. Es gibt darüber hinaus für deren Kinder keine Kita- und Schulplätze, es fehlen Kinderärzte und andere Mediziner, es ist also alles eine große Blase und Lüge. Auch Lügen sind zumindest ein Vergehen.

Und natürlich muss man das Ganze noch viel weiter denken: Sozial benachteiligte Menschen sterben in unserem Land deutlich früher als wohlhabende. Männer mit niedrigem Einkommen haben eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung als gut verdienende. Bei Frauen liegt der Unterschied bei fünf Jahren. Das geht aus Daten des Bundesgesundheitsministeriums hervor. Auch das ist ein Verbrechen, ja fast so etwas wie die Todesstrafe für Geringverdiener.

Auch einige schwere Krankheiten kommen in ärmeren Schichten häufiger vor als in den wohlhabenden. Oft erzählen uns die Mütter und Väter von Diabetes, an dem sie erkrankt sind. Etliche unserer Arche-Mütter und manchmal auch deren Kinder erkranken an Multipler Sklerose. Viele unserer Eltern und deren Kinder haben Hautkrankheiten, schlechte Zähne und sind generell deutlich krankheitsanfälliger. Wissenschaftlich erwiesen ist, dass Herzinfarkte und Diabetes in der Tat bei Menschen mit niedrigem Einkommen doppelt so häufig auftreten wie bei den Menschen, die ordentlich verdienen. Jugendliche, die aus armen Familien stammen, haben ein doppelt so hohes Risiko, an Essstörungen zu erkranken, wie ihre Altersgenossen aus wohlhabenderen Familien.

Und natürlich sammeln wir in unseren Arche-Häusern noch zahlreiche weitere eigene Erfahrungen. Dass die sozial benachteiligten und bildungsferneren Menschen häufiger erkranken und früher sterben, hängt in der Tat von ihrem persönlichen Verhalten ab. Menschen aus sozial schwächeren Schichten rauchen häufiger, das sehen wir schon. Alkoholmissbrauch ist bei den Arche-Familien eher nicht der Fall, aber er kommt natürlich vor. Wir raten den Müttern und Vätern durch unsere Familienhelferinnen und -helfer, regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen zu gehen und sich vor allem gesund zu ernähren. Wir versuchen, für und mit den Kindern gesund zu kochen, dabei Wasser zu trinken und keine Süßgetränke zu konsumieren.

Eine Erfahrung, die wir auch machen, ist, dass unsere Kinder und Eltern weniger medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Das liegt in erster Linie an den Zuzahlungen oder einfach an Unkenntnis. Das alles sind Verbrechen, begangen an unzähligen Kindern und Jugendlichen in unserem Land.

Kann ein System funktionieren, wenn nur wenige Menschen einen erheblichen Teil der Geldmenge besitzen? Bei der Hans-Böckler-Stiftung1 kann man unter anderem nachlesen, dass in fast keinem anderen Land in Europa die Vermögen so ungleich verteilt sind wie in Deutschland. Insgesamt besitzen die wohlhabenden 10 Prozent der Haushalte etwa 60 Prozent der Nettogesamtvermögen. Die unteren 20 Prozent besitzen gar kein Vermögen. Das sind die Familien, mit denen wir in erster Linie zu tun haben.

Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Auch Kinder aus stabilen Familien, die aber dennoch emotional vernachlässigt sind, kommen in unsere Einrichtungen. Bei ihnen zu Hause verhält es sich oft so: Beide Elternteile arbeiten und haben nur wenig Zeit für ihre Kinder.

Und die Hans-Böckler-Stiftung kommentiert ihre Ergebnisse sogar derart, dass ihre zuvor genannten Zahlen auf wohl eher konservativen Schätzungen beruhen. Das Ausmaß der Vermögensungleichheit könnte sogar noch größer sein.

Es wird unterschätzt! Dafür liefert auch eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Hinweise. So heißt es dort: Das reichste Prozent der Haushalte besitzt ein Drittel des Gesamtvermögens. Ist es ketzerisch, wenn wir da als Arche sagen, dass unser System so sicherlich nicht funktionieren kann?

5,6 Millionen Familien schauen also zu, wie sich die Reichen die Hummerschwänze in den Mund schieben. Da stimmt doch etwas nicht! Ist es politisch links gedacht, wenn wir sagen „Das alles ist ungerecht verteilt“? Ist das nicht auch ein Verbrechen an den abgehängten rund 40 Prozent der Deutschen? Wir meinen, schon. Wenn wir unsere Kinder stärker fördern, sie besser ausbilden, werden sie das Investment unserem System mit Sicherheit „zurückzahlen“. Sie werden arbeiten, Steuern zahlen und Teil des Systems werden. Dafür gibt es unzählige Beispiele von Arche-Kindern. Von einigen der Erfolgsgeschichten werden Sie in diesem Buch lesen.

Natürlich ist nicht alles schlecht in unserem politischen System. Wir reden immer wieder über eine schon lange von der Arche geforderte Kindergrundsicherung, und die Politik hat vor allem erkannt, dass wir verstärkt an unserem Bildungssystem arbeiten müssen. Nur leider reicht auch das Bürgergeld vorne und hinten nicht, denn die Inflation frisst ihre Kinder. Wir sind schon glücklich, wenn die Medien weltweit über Die Arche, ihre Kinder und die Situation der benachteiligten Familien berichten. Dadurch wird der Druck auf die Politik, etwas zu ändern, erhöht.

Allerdings möchte ich als Arche-Gründer in diesem Buch um Hilfe schreien. Wir müssen mehr in die Kinder investieren, sei es mit Geld, Sachleistungen oder Zeit. Machen wir das nicht, geht rund ein Viertel der Menschen in unserer Gesellschaft kaputt – wirtschaftlich und gesundheitlich. Mit kaputt gehen auch die unzähligen Kinder, die wirklich unschuldig sind an der Situation ihrer Eltern. Wir können als Arche leider nicht allen Kindern gerecht werden.

Warum also nur müssen unsere Kinder leiden? Täglich sehen sie in den Medien, in den sozialen Netzwerken, aber auch auf den Straßen, in den Geschäften und Schulen andere Kinder, die materiell zugeschüttet werden. Das schmerzt!

Viele kennen aus der Bibel das Gleichnis vom Kamel und dem Nadelöhr. Bei Markus 10,25 heißt es zum Beispiel: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ Es würde ein ganzes Kapitel füllen, dieses Gleichnis zu interpretieren und zu deuten. Das möchten wir vermeiden. Aber es ist doch unmenschlich, wenn einige fast alles besitzen und die anderen nahezu nichts.

Macht es der Gesellschaft und der Politik Spaß, den Kindern beim Hungern zuzuschauen? Wir können uns das nicht wirklich vorstellen. Aber es ist leider gelebte Realität. Auch das ist unserer Meinung nach ein Verbrechen.

Wenn die Politik nichts ändert, geht unsere Gesellschaft kaputt. Beispiele aus den Archen kennen wir genug, darüber berichten wir auch in diesem Buch. Die Politik begeht Verbrechen an unseren Kindern. Nur wir als Gesellschaft können den notwendigen Druck aufbauen, um das zu ändern. Warum fangen wir damit nicht heute schon an? Dafür brauchen wir Menschen, mitfühlende Menschen, die mit uns gemeinsam anpacken und helfen. Viele haben das schon getan, es sind aber noch nicht genug. Wir müssen weitere Vergehen – ja nennen wir sie Verbrechen – verhindern. Unsere Kinder sind es wert.

Die Geschichte von Max

Als wir uns das erste Mal begegneten, war Max gerade mal zehn Jahre alt. Obwohl noch so jung, machte er bereits den Eindruck, als wenn ihn die geballte Macht des Lebens überrollt hätte. Er sah todmüde aus, seine Augen blickten starr, seine Haare standen ungepflegt vom Kopf ab, das Gesicht war bleich und es schien, als wenn er bereits Falten hätte.

Auch war der kleine Rotschopf nicht der niedliche Junge von nebenan. Max hatte etwas von einem wilden Löwen, sein Wesen war keineswegs friedlich und liebevoll. Meist trug er ein dunkles Basecap, das er bis über seine Augenbrauen zog, sodass er noch finsterer wirkte. Das war auch die Absicht des Jungen. Er wollte aggressiv, stark, mutig und männlich wirken und nicht kindlich. Sein Motto hieß: „Komm mir nicht zu nahe, sonst haue ich dir in die Fresse.“ Und diesen Worten hatte er schon häufig Taten folgen lassen. Des Öfteren beschimpfte und beleidigte er unschuldige Altersgenossen, einfach so. Er trat mit Händen und Füßen um sich. Ihm war völlig egal, was das für Folgen hatte.

Gewalt hatte Max bereits als Kleinkind erleben müssen. Sein eigener Vater schlug nicht nur ihn, sondern auch seine Mutter, die irgendwann den Kampf aufgab und einfach alles nur noch erduldete. Später zog der Vater aus. Max und seine Mutter befanden sich in einem erbärmlichen Zustand. Zwei seelische Wracks, denen es schwerfiel, wieder auf die Beine zu kommen.

Bald schon lernte die Mutter einen neuen Mann kennen. Dieser war nicht weniger aggressiv als ihr vorheriger Partner. Doch dies hinderte sie nicht daran, mit ihm noch ein weiteres Kind in die Welt zu setzen.

Max war fünf Jahre alt, als seine Schwester geboren wurde. Richtig freuen konnte er sich darüber nicht. Nur widerwillig ließ er das kleine Geschöpf in sein Zimmer einziehen. Er empfand sein Leben als eine einzige Katastrophe.

Eines Tages stand Max jedenfalls in der Arche. Ob ihn mittags der Hunger in unsere Einrichtung getrieben hatte oder die Furcht, nach Hause zu gehen, war uns anfangs nicht klar. Nur, dass er bei uns in der Arche einen Ort fand, an dem er seine Schwester mal für einen kurzen Moment loswerden und die Verantwortung für sie ablegen konnte.

Max fiel mit seiner ruppigen Art direkt auf. Die anderen Kinder, die jeden Tag die Arche besuchten, waren nicht begeistert. „Muss der unbedingt in die Arche kommen?“, hörten wir sie fragen.

Wir begegneten uns auf dem Flur. Ich begrüßte Max und auch seine Schwester. Höflichkeit und Respekt waren ihm fremd. Er war schroff und vorlaut. Mich störte es nicht, da ich selbst meine Kindheit auf der Straße verbracht hatte und durch meine Arbeit mittlerweile den Umgang mit verhaltenskreativen Jugendlichen gewohnt war.

Ich zeigte den beiden neuen Besuchern unsere Räumlichkeiten, stellte ihnen die Mitarbeitenden vor und ging anschließend mit ihnen in unseren Speiseraum.

„Habt ihr Hunger?“, fragte ich freundlich.

Beide antworteten wie im Chor: „Immer!“

Mein neuer Freund hatte tatsächlich Hunger. Viel Hunger, denn er holte sich mehrmals Nudeln mit Sauce bolognese nach. Auch den Nachttisch ließen die beiden nicht aus. Das war unsere erste Begegnung und weitere folgten.

In den nächsten Wochen führte ich häufig Gespräche mit dem Pädagogenteam, denn Max schoss immer wieder übers Ziel hinaus. Sein Verhalten war respektlos, besonders den anderen Kindern, aber auch den Mitarbeitenden gegenüber. Er behandelte sie schlecht und akzeptierte keine Grenzen. Max konnte nicht mit Menschen umgehen. Es gelang ihm nicht, sich zu benehmen und seine derbe Wortwahl zurückzuhalten. Jedes Aneinandergeraten war für ihn eine starke Herausforderung, die immer eine hohe Aggressivität zur Folge hatte.

Eines Tages kam es, wie es kommen musste. Von einem Mitarbeiter bekam Max die Rote Karte gezeigt – eine unserer Maßnahmen, die besagt, dass das Kind für einen Tag die Arche verlassen und nach Hause gehen muss. Eine klare Konsequenz für ein Verhalten, das in der Arche nicht geduldet werden kann. Durch das Zeigen der Gelben Karte im Vorfeld wird das Kind in der Regel bereits ermahnt.

Wutentbrannt stürzte Max daraufhin in mein Büro. Es war ihm egal, mit wem oder was ich gerade beschäftigt war. Er kochte innerlich – sein Kopf war rot angelaufen – und fluchte wie ein Rohrspatz: „Ich bin rausgeflogen! Was soll der Scheiß, ihr Arschlöcher?“

Mit dieser Konsequenz hatte er überhaupt nicht gerechnet. Max war traurig und enttäuscht. Wut stieg in ihm hoch, doch weinen konnte er nicht. Wenig später gelang es mir, ihn zu beruhigen und ihm auch zu erklären, warum ein Hausverbot erteilt worden war. Ich sprach von einem respektvollen Umgang miteinander, von Regeln, die ein friedvolles Zusammenleben garantieren. Ich machte ihm deutlich, dass er nun die Möglichkeit hatte, über sein Verhalten nachzudenken.

Sehr wohl ist mir bewusst, dass sich dieses kurzzeitige „Arche-Verbot“ für die Kinder wie ein Ausschluss aus der eigenen Familie anfühlt. Denn die Arche wird von vielen als Familie empfunden, in der man sich wohlfühlt. Die kleinen Besucher lieben ihre Arche, denn sie erleben dort mehr als ein pädagogisches Programm und Betreuung. Sie erfahren in der Arche Wertschätzung, Beziehung, Förderung und Liebe. Und die Menschen, die bereits seit vielen Jahren in unserem christlichen Kinder- und Jugendwerk arbeiten, sei es ehrenamtlich oder hauptamtlich, sind mit jedem einzelnen Schicksal vertraut und tragen immer zur Lösung der zahlreichen Probleme bei.

Fairness ist ein wichtiger Aspekt, wenn man über Regeln und ihre Umsetzung spricht, auch hierauf machte ich Max in unserem Gespräch aufmerksam.

„Du bist immer willkommen. Wir freuen uns, wenn du da bist. Wir sind für dich da, glauben an dich und unterstützen dich in allen Bereichen.“ Das waren meine Worte in dieser Situation. „Nur heute bist du über das Ziel hinausgeschossen, deshalb musst du leider gehen. Morgen ist ein neuer Tag. Vergeben, vergessen und eine neue Chance.“

Max war nicht glücklich und versuchte sich mit Händen und Füßen gegen jeden Satz, den ich sprach, zu sperren. Aber am späten Nachmittag ging er nach Hause, zwei Stunden bevor die Arche an diesem Tag schloss. Nun konnte er nachdenken und meine Worte wirken lassen.

Natürlich hat diese Maßnahme nicht dazu beigetragen, das Verhalten dieses Jungen zu verändern. In den nächsten Wochen, Monaten und sogar Jahren wurde unser Team durch Max und seine Aggressionen immer wieder herausgefordert. Doch etwas ist bei ihm hängen geblieben: Nie wieder wollte er aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen werden, nicht mal für zwei Stunden. Er ließ eine Gelbe Karte als Verwarnung noch zu, aber sorgte dann dafür, dass es nie wieder so weit eskalierte, dass unsererseits die Rote Karte erfolgen musste.

Der Mensch ändert sich nicht über Nacht und eingeprägte Denkmuster beeinflussen sein Tun. Auch wenn Max oft aus dem Schulunterricht flog, auf der Straße seine Grenzen überschritt und somit seine Mutter fast an den Rand des Wahnsinns trieb, verhielt er sich in der Arche doch recht handsam. Wir beide verstanden uns richtig gut, selbst bei Ausflügen wich er kaum von meiner Seite. Kein Wunder, denn wir rauften uns auch das ein oder andere Mal. Es gefiel Max, dass auch ich freche Sprüche wie aus dem Effeff beherrschte.

Wenn wir gemeinsam unterwegs waren, fühlte er sich wertgeschätzt und konnte diese Zeit richtig genießen. War er dann mal erschöpft, lehnte er sich an mich und ruhte förmlich in sich. Ich gönnte ihm diese von Freude, Liebe und Leichtigkeit geprägten Augenblicke, doch der Alltag des Jungen sah alles andere als rosig aus …

Aufgrund seines schwierigen Verhaltens und der Überforderung damit suchte Max’ Mutter die Hilfe des Jugendamtes. Es folgte die Aufnahme in eine Tagesgruppe, in der Max nach der Schule psychologisch und therapeutisch betreut wurde. In Gesprächen und Spielen versuchten die Fachleute dieser Einrichtung, das Verhalten von Max zu analysieren und Veränderungen herbeizuführen. Durch diese spezielle Förderung sollte die Mutter beziehungsweise die Familie gestärkt werden.

Max war mittlerweile zwölf Jahre alt. Allerdings bedeutete es auch, dass Max nicht mehr die Arche besuchen konnte. Nun stand nach der Schule der Besuch der Tagesgruppe auf seinem Plan. Auch das Mittagessen stand dort für ihn bereit, denn er sollte sich wohlfühlen und somit Fortschritte erreichen.

Max hielt bekanntlich wenig von Vorschriften und Druck. Ihm war die Sache mit der Tagesgruppe nicht recht. In der Arche hatte er schließlich das, was seinem Leben, wenigstens für ein paar Stunden, Halt gab. So kam er dennoch jeden Tag nach der Schule kurz bei mir vorbei. Er begrüßte mich, holte seine Umarmung ab, erzählte kurz aus der Schule und ließ nicht selten Frust ab. Es wurde zum Ritual. Ich konnte mittags darauf warten, dass es an meiner Bürotür klopfte und der rothaarige Sturkopf davorstand.

Ein paar Wochen später rief mich die betreuende Psychologin an und bat mich um einen Termin. Es war eher ein Herbeizitieren als eine Bitte. Da sie kurzfristig mit mir über Max sprechen müsse, folgte ein Termin für ein Treffen in ihrem Büro.

Ohne zu ahnen, was wieder mit meinem kleinen Freund los war, nahm ich diesen Termin wahr.

„Sie behindern unsere Arbeit“, begrüßte mich die etwa fünfzigjährige Dame. Sie saß mit ihrer Kollegin in einem kleinen Büro.

„Wir wollen Max helfen und ihm Struktur beibringen. Wir möchten, dass seine Entwicklung vorangeht“, sprudelte es aus ihr heraus.

Ich war ein wenig perplex, denn das war auch mein Ziel. Ich freute mich sogar, dass Max professionelle Hilfe erhielt und so vielleicht schnellere Erfolge verzeichnet werden konnten, als es in der Arche möglich gewesen wäre. Ich verstand in dem Moment also nicht, was die Dame wollte.

Die Psychologin redete noch eine Weile weiter, bis ich sie freundlich unterbrach: „Was ist unser Fehler? Wir wollen doch, dass Max bei Ihnen Hilfe bekommt. Was werfen Sie uns denn vor?“

Mit deutlichen Worten erklärten mir die beiden Frauen, dass es doch nicht sein könne, dass der Zwölfjährige jeden Tag nach der Schule zuerst in die Arche gehe und dadurch regelmäßig dreißig Minuten zu spät in seiner Gruppe eintreffe. Er sei Besucher der Tagesgruppe und habe sich von der Arche fernzuhalten.

Ich war immer noch verwirrt und erklärte, dass Max natürlich nicht von uns aufgefordert werde, in die Arche zu kommen. Ich schilderte den Frauen detailliert, wie Max mittags in meinem Büro auftauchte, wie er mich begrüßte, seinen Frust und seine Freude loswerden wollte und anschließend in seine Tagesgruppe ging. Den beiden Damen war nicht bewusst, wie sehr dieses Ritual für Max von Bedeutung war. Er besuchte seinen „Zufluchtsort“, weil er hier Vertrauen gefasst hatte.

Die Psychologin war erstaunt und erkannte, wie wichtig dieser kleine Umweg für dieses herausfordernde Kind war. Ihre anfängliche Verärgerung ebbte ab und die Unterhaltung bewegte sich von da an in anderen Bahnen. Schließlich kannte ich Max besser als das derzeitige Fachpersonal an seiner Seite.

Am nächsten Tag um die Mittagszeit klopfte es wieder an meiner Bürotür. Max war dieses Ritual immens wichtig und so wurde der tägliche Besuch Teil seiner Therapie.

Einige Monate später veränderte sich das Leben von Max und seiner Familie. Sie zogen in einen anderen Berliner Bezirk, in eine neue Wohnung. Die Mutter trennte sich von ihrem Partner, der dann aber trotzdem noch häufig bei ihnen zu Hause abhing. Für die Entwicklung von Max war das nicht förderlich. Nun lebte er in einer Gegend, die weder einen Besuch in der Arche noch in der Tagesgruppe ermöglichte. Die vertrauten Personen konnten ihm keinen Halt mehr geben und für ihn stand der Besuch in einer anderen Schule an. Keine leichte Herausforderung für den Jungen – zumal er kein Geld für ein Nahverkehrsticket, kein Fahrrad und somit keine Möglichkeit hatte, sich innerhalb von Berlin zu bewegen.

Wir sahen Max und seine Schwester nur noch selten. Eine Gelegenheit ergab sich einmal im Monat, wenn wir die uns bekannten Familien mit Lebensmitteln versorgten. Auch besuchte Max gemeinsam mit seiner Mutter und Schwester unser alljährliches Sommerfest. Und manchmal rief Max mich an, aber das kam nur selten vor.

Wir wissen: Ändert sich der Freundeskreis, ändert sich das Leben. Und ändert sich der Alltag, ändert sich das Verhalten. So fiel Max als Teenager viel zu schnell in alte Verhaltensmuster zurück. Wir erfuhren, dass kaum ein Tag verging, an dem er nicht in Schlägereien verwickelt war. Rechtsradikale Parolen, die er irgendwo aufschnappte und dann lauthals in der Öffentlichkeit von sich gab, führten sogar zu der ein oder anderen polizeilichen Anzeige.

Seine Lehrkräfte, die Mutter und sein Umfeld waren wieder einmal überfordert mit dem Kerl, der immer kräftiger wurde. Kaum jemand traute sich noch an ihn heran. Und niemand wählte mehr den Weg zum Jugendamt, um Hilfe in Anspruch zu nehmen. Max war mehr unterwegs als zu Hause. Und er war unglaublich traurig, denn der Kontakt zur Arche schien abgebrochen zu sein.

Ich habe das Gefühl, dass es Max nicht nur an Liebe fehlte. Es fehlte ihm auch ein gutes Vorbild an seiner Seite. Doch leider gab es in seiner Teenagerzeit diesen Menschen nicht. Stattdessen wurde sein Leben nur noch von Problemen begleitet, die immer größer und auswegloser schienen.

Eines Tages erhielt ich einen Anruf: „Max kommt ins Gefängnis!“, sagte eine Mädchenstimme am Telefon. „Ich bin Celine, die Schwester von Max, kennst du mich noch, Bernd?“

„Ja klar, ich kenne dich noch!“, lautete meine Antwort. Sofort erinnerte ich mich an dieses kleine aufgeweckte Mädchen. Jetzt, in diesem Moment, klang Celine aber verzweifelt. Wir telefonierten eine ganze Weile miteinander, denn natürlich wollte ich herausfinden, warum Max jetzt ins Gefängnis musste.

„Er hat Mamas Freund zusammengeschlagen, extrem brutal!“, war ihre Antwort.

Der Freund der Mutter war ein großer, kräftiger Mann, einem starken Wikinger gleich. Es musste schon eine große Wut in Max vorgeherrscht haben, um diesen Mann niederzustrecken. Aber warum? Warum prügelt ein mittlerweile 17-Jähriger den Freund der Mutter krankenhausreif?, fragte ich mich.

Celine wollte nicht direkt raus mit der Sprache. Etwas schien ihr unangenehm zu sein. Ich musste etwas auf ihre Antwort warten.

Dann sagte sie: „Ich habe Max erzählt, dass Mamas Freund mich einige Male vergewaltigt hat.“ Sie weinte und war am Ende ihrer Kräfte. Ich hörte ihr Herz durch das Telefon schlagen oder, besser gesagt, wild rasen. Die Probleme der kleinen Familie nahmen kein Ende.

Aufgrund seiner zahlreichen vorigen Anzeigen wegen Körperverletzung, Volksverhetzung und anderer Delikte wurde Max nun in diesem Fall zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Ein Schock für Celine, die nun für viele Jahre ihre Bezugsperson verlor – den Bruder, der mit ihr das Leid geteilt, sie beschützt und sicher oft genug getröstet hatte.

Es war furchtbar. Diese Kinder hatten keine Chance. Das Leben zeigte sich von der harten Seite. Sie erlebten Gewalt und Missbilligung, keinen Trost oder gar Liebe. In den wenigen Jahren in der Arche und der Tagesgruppe vermochten sie kurz ein Licht in der Dunkelheit zu sehen. Doch falsche Beziehungen und vor allem falsche Entscheidungen ließen das Licht immer wieder verblassen. Als Pastor kann ich viel von der Liebe Gottes erzählen, doch hier schien alles der Hölle zu gleichen.

Wieder ist die Familie dann weggezogen, nur dieses Mal wusste niemand von uns in der Arche, wohin. Es bestand kein Kontakt mehr. Ich wusste auch nicht, in welchem Jugendgefängnis Max seine Strafe absitzen musste. Es gab kein Lebenszeichen.

*

„Gestern hat ein junger Mann nach dir gefragt“, sagte eines Tages meine Mitarbeiterin. „Er kommt heute Nachmittag noch mal vorbei. Er wollte seinen Namen nicht nennen, aber sagte, dass er dich kennt. Er sah düster aus!“

Nun, ich kenne viele Menschen und auch viele, die düster aussehen. Auch mein eigenes Leben hat sich oft am Rand von Gut und Böse bewegt. Und auch als Christ bin ich häufig dahin gegangen, wo andere Kirchgänger sich nicht hingetraut haben. Deshalb beunruhigt es mich bis heute nicht, wenn scheinbar harte Jungs ihren Besuch ankündigen. Ich war gespannt.

Als es klopfte und die Tür sich öffnete, war es wie viele Jahre zuvor: ein vertrautes Klopfen und ein vertrautes, düster wirkendes Gesicht, dem aber innerhalb von Sekunden ein Strahlen entwich. Max stand vor mir. Der kräftige junge Mann fiel mir um den Hals wie ein Sohn, der seinen Vater jahrelang nicht gesehen hatte.

„Kennst du mich noch?“, war seine erste Frage.

„Was ein Unsinn, klar kenne ich dich, Max! Du hast dich nicht verändert“, erwiderte ich mit einem Lächeln.

Max war wieder da. Nach den Jahren im Gefängnis hatte er eine Menge zu erzählen. Wegen schwerer Körperverletzung hatte er drei Jahre abgesessen, während der Peiniger seiner Schwester mit einer Bewährungsstrafe aus der Sache rausgegangen war. Max erzählte mir dann von seinen Erfahrungen im Knast, die ihn glücklicherweise nicht härter gemacht hatten. Oft habe er an die Arche zurückgedacht, an diese besondere Zeit, an Regeln, an Hoffnung, an Annahme und Verständnis und an Liebe. Es sei für ihn die einzige Zeit gewesen, in der er das Gefühl gehabt habe, wirklich zu leben – und deshalb sei er heute hier. Mittlerweile habe er einen Job auf dem Bau, erzählte er weiter, und die Arbeit mache ihm viel Spaß. Auch habe er eine Freundin, deren Eltern ihn unvoreingenommen aufgenommen hätten wie einen eigenen Sohn. Familie, die er nun ganz anders erleben dürfe. Und ein gemeinsames Kind, sagte er stolz, mache seine kleine Familie komplett.

Nach dem sehr emotionalen Wiedersehen und Austausch holte Max noch einen kleinen Karton hervor, gefüllt mit Babysachen. Mit der Kleidung, aus dem sein Kind bereits herausgewachsen war, wolle er anderen in der Arche eine Freude machen.

Max war gekommen, um sich zu bedanken. Er wollte etwas zurückgeben. Er war nach Hause gekommen, an den Ort, an dem man ihn so angenommen hatte, wie er damals gewesen war. An einen Ort, wo es Menschen gab, die ihn nicht verurteilt, sondern unterstützt hatten. Und zum ersten Mal sah ich da in seinen Augen Hoffnung, Glück und Freude, auch wenn das Düstere seinen Gesichtsausdruck geprägt hatte.

Max ist einer von vielen jungen Menschen, die es in unserer heutigen Zeit sehr schwer haben, weil es kaum Vertrauenspersonen gibt, die sie auffangen und nachhaltig begleiten. Sie alle haben eine Chance verdient und nicht ein Dienstleistungssystem, in der Betreuung größer geschrieben wird als Beziehung.

Übrigens: Mein kleiner großer Freund ruft mich hin und wieder an, um wie früher seinen Frust und seine Begeisterung zu teilen. Es tut uns beiden gut.