In Deutschland wird immer mehr auf dem Rücken von Kindern ausgetragen. Damit haben wir tagtäglich in den Arche-Häusern zu tun. Hin und wieder kommt es aber auch vor, dass einem selbst an einem ganz gewöhnlichen Arbeitstag manche Versäumnisse der Politik ad hoc zu Hause deutlich werden. So auch mir (Bernd Siggelkow). Die folgende Situation illustriert recht deutlich, was Kinder heute, im wahrsten Sinne Wortes, alles zu tragen haben:
Den ganzen Vormittag hatte ich bereits am Computer verbracht, eine Videokonferenz folgte der nächsten. Die Coronazeit hat insgesamt viel Leid und enorme Spätfolgen mit sich gebracht. Viele Menschen sind vereinsamt, viele Kinder auf der Strecke geblieben, doch das Homeoffice hat in dieser Zeit seinen Siegeszug angetreten. Viele meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie auch ich erledigen nun etliche Aufgaben von zu Hause aus. Diese Arbeitsweise macht uns flexibler und reaktionsschneller. Und da der tägliche Arbeitsweg wegfällt, ergibt sich damit etwas mehr Freizeit.
Ich persönlich habe gelernt, das Homeoffice zu schätzen, da ich in dieser Zeit in der Regel effektiver und vor allem ruhiger arbeiten kann. In meinem Büro in der Arche-Zentrale herrscht meist das pralle Leben. Und wenn „Papa Bernd“ im Haus ist, werde ich natürlich von vielen mit Anliegen aufgesucht, so bleibt dann manche von mir geplante Arbeit liegen. An diesem Morgen aber konnte ich wie abgemacht per Videokonferenz mit Mitarbeitenden von Standorten außerhalb Berlins sprechen. Ich hörte mir ihre Sorgen an und nahm interessante Gedanken auf. Zwischendurch beantwortete ich ein paar E-Mails und holte mir einen Kaffee aus der Küche nebenan.
Besonders angenehm empfinde ich es, wenn auch meine Frau Linda zur gleichen Zeit im Homeoffice arbeitet. Wir teilen uns ein Büro und können so Ideen miteinander austauschen, Arbeitsschritte zusammen durchgehen und gemeinsame Aktionen planen. Linda leitet in der Arche das Projekt „HarmonyDog“ und hat ihren Schwerpunkt in der tiergestützten Arbeit mit Kindern und deren Familien – sei es in der täglichen Arbeit in unseren Einrichtungen oder als Trainerin in den Familien, wenn ein Vierbeiner eingesetzt wird, um Defizite bei einem Kind auszugleichen und Harmonie in das häusliche Umfeld zu bringen oder um Therapiehundeteams auszubilden. Sie ist das Herz dieser großartigen Arbeit, immer mit dem liebevollen Blick auf das einzelne Kind. Seit vielen Jahren arbeite auch ich in der Arche mit Hunden. So sind wir schnell ein eingespieltes Team geworden.
Auch an diesem Tag erledigte Linda ihre Büroarbeit von zu Hause aus. Mittlerweile war es schon 14 Uhr, die Zeit verging wie im Flug, als sich plötzlich der Schlüssel in der Haustür drehte. Suki kam aus der Schule. Suki ist unsere zwölfjährige Tochter, die meine Frau mit in die Ehe gebracht hat. Sie besuchte damals die sechste Klasse und es waren nur noch wenige Wochen, bis das Schuljahr zu Ende ging und ihr Schulwechsel bevorstand. Normalerweise kommt Suki gleich zu uns. Sie begrüßt uns dann freudestrahlend. Es gleicht fast schon einem Ritual, wie sie uns dann von ihren täglichen Erlebnissen in der Schule erzählt. Doch heute war ihr Ankommen etwas eigenartig.
Suki kam nicht ins Büro. Wir hörten nur, wie ihre Schuhe in die Ecke flogen, die Schultasche auf den Boden knallte und sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete. Sie schnappte sich die Fernbedienung für den Fernseher, klickte willkürlich einen Sender an, warf sich auf die Couch und schrie in einem Mix aus Wut, Verzweiflung und Traurigkeit quer durch den Raum: „Das ist Körperverletzung!“
Wir rannten sofort zu unserer Tochter, denn es war ja nicht zu überhören, dass gerade etwas Ungewöhnliches passiert sein musste. Meine Frau nahm ihre Suki sofort in den Arm. Die Kleine war völlig aufgebracht. Die Wut stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Heb mal meine Schultasche hoch!“, rief sie mir entgegen. „Ich habe so Rückenschmerzen von dem schweren Ding.“
Schon oft haben wir unser Entsetzen darüber zum Ausdruck gebracht, wie viele Hefte, Bücher und Materialien unser Kind – und mit ihm viele andere Kinder – täglich mit sich herumschleppen muss. Unsere Frage, ob denn nicht irgendetwas davon in der Schule bleiben könne, verneinte unsere Grundschülerin jedes Mal. Denn für die täglichen Hausaufgaben und andere Erledigungen benötige sie die Materialien. Also landete alles in ihrem Schulranzen, den sie jeden Tag auf ihrem Rücken zur Schule schleppen musste.
„Warum sind nicht alle Bücher auf einem Tablet gespeichert? Warum können wir unsere Aufgaben nicht auf einem iPad erledigen? Könnte nicht alles digital umgesetzt werden und gibt es dafür nicht auch Stifte, um auf diesen Bildschirmen zu schreiben? Man kann doch sowieso alles ausdrucken, ging doch während des Coronalockdowns auch. Warum werden wir so gequält, wenn alles so einfach sein könnte?“
Der ganze Frust brach hier aus einem Kind heraus, das sich bestraft, verletzt und unverstanden fühlte, obwohl es die richtigen Antworten hatte beziehungsweise die richtigen Fragen stellte.
Tausende Schülerinnen und Schüler machen sich im wahrsten Sinne des Wortes jeden Tag den Rücken kaputt, irreparable Haltungsschäden sind vorprogrammiert. Die Kinder und Jugendlichen schleppen viel zu schwere Taschen in die Schule und wieder nach Hause. Wenn sie Glück haben, ist der Weg zur Schule und zu den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht weit oder sie können die Last auf dem Fahrrad befestigen. Aber das Tragen, das Hochheben, das Treppensteigen in der Schule, dazu noch das Sportzeug oder andere Lernmittel – unsere Kinder schleppen sich krank. Ja, das ist Körperverletzung.
Warum muten wir das eigentlich der jungen Generation jeden Tag zu? Wir muten es ihr zu, weil wir in unserem hoch entwickelten Land nicht in der Lage sind, die Digitalisierung voranzubringen. Selbst in den tiefsten Wäldern Schwedens ist das Internet besser verfügbar als in manchen Orten Deutschlands. Alle Bücher auf einen Laptop oder ein Tablet zu ziehen und künftig damit zu arbeiten, ist sicher nicht teurer, als jedes Jahr die Schulbücher für seine Schützlinge zu kaufen. Natürlich bräuchten die Lehrkräfte dann entsprechende Weiterbildungen und eine Einführung in die Technik. Sicherlich würde es auch einige Zeit in Anspruch nehmen, bis sich alle mit dem neuen System vertraut gemacht hätten und damit umgehen könnten. Aber erinnern wir uns zurück: Was mutete man den Familien nicht alles in der Zeit des coronabedingten Homeschoolings zu? Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Nur muss der Wille zur Veränderung auch da sein. Ist er das überhaupt?
Die Antwort auf all diese Schulprobleme ist sicher nicht allein in der Optimierung der schulischen Abläufe durch Digitalisierung zu finden. Viele Länder, die nicht so weit entwickelt sind wie Deutschland, machen uns in diesem Bereich etwas vor. Denn im internationalen Vergleich schneiden unsere Kinder sehr schlecht ab, das zeigen nicht nur die PISA-Studien der OECD.
Nach Veröffentlichung der Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 20233 wissen wir, dass 25 Prozent aller Viertklässler nicht richtig lesen können. Alle fünf Jahre wird die Lesekompetenz der Kinder in den vierten Klassen aus sechzig Ländern miteinander verglichen. Der Anteil der leseschwachen Kinder in Deutschland ist demnach alarmierend hoch.
Es liegt nahe, die Ursache für diese Entwicklung im Elternhaus der betroffenen Kinder zu suchen. Dort wird den Kindern zu wenig vorgelesen. Von vielen Eltern, die selbst ihre Ruhe haben wollen, werden sie einfach vor dem Fernseher, dem Handy oder dem Tablet „geparkt“. Als weitere Ursache wird auch gesehen, dass in vielen Migrantenfamilien Deutsch nicht die erste Sprache ist und im häuslichen Umfeld eher die ursprüngliche Landessprache gesprochen wird. All das hilft den Kindern sicher nicht, sprachlich besser zu werden. Auch Fehler in der Integrationspolitik spielen hier eine große Rolle.
Wir lernen zu wenig aus den Defiziten, die uns die Studien attestieren. Schon vor Jahren, als uns die erste PISA-Studie aufzeigte, wie es um die Bildung in unserem Land bestellt ist, hätten wir reagieren müssen. Wir leben schließlich nicht im Tal der Ahnungslosen, doch wir gehen mit unserer nachwachsenden Generation so um, als wären die Erkenntnisse plötzlich vom Himmel gefallen und als würden wir das erste Mal von ihnen hören.
Die aktuelle PISA-Studie findet deutliche Worte: Deutsche Schülerinnen und Schüler sind so schlecht wie nie.4 Anders gesagt: Unser Bildungssystem steckt in der größten Krise seit Gründung der Bundesrepublik. Unsere Kinder scheinen in diesem Land keinen Wert zu haben. – Ich scheue mich nicht, das zu behaupten. Seit dreißig Jahren kämpfe ich gegen Kinderarmut und Ausgrenzung und finde immer deutlichere Worte, um in der Öffentlichkeit über diese Missstände zu sprechen. Und ich frage mich: Wie kann es sein, dass trotz der ständigen Veränderungen während der letzten Jahrzehnte in Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft und auch in den Familien das deutsche Schulsystem sich diesen Veränderungen und Entwicklungen nie richtig angepasst hat? Wie kann es sein, dass sich das Bildungssystem nicht den Kindern anpasst, sondern die Schülerinnen und Schüler sich einem veralteten Bildungssystem anpassen müssen?
„Unser Bildungssystem steckt in der größten Krise seit Gründung der Bundesrepublik. Unsere Kinder scheinen in diesem Land keinen Wert zu haben.“
Bernd Siggelkow
Zudem erlebe ich in meiner Arbeit, dass die Bildung unserer Kinder oft vom Einkommen der Eltern abhängig ist. So schaffen die meisten Kinder nur dann das Abitur, wenn ihre Eltern ebenfalls über diesen Schulabschluss und entsprechende Finanzen verfügen. Außerdem sind die Qualität und Ausstattung der Schulen und somit auch die entsprechende Bildung der Kinder leider abhängig vom Förderverein der jeweiligen Schule. Und da viel zu wenig Geld vonseiten des Staates beziehungsweise der Länder für die Schulen zur Verfügung steht, wird die finanzielle Unterstützung durch Förderkreise immer notwendiger. Leider stelle ich aber fest, dass es in den Ballungsgebieten und den dort ansässigen sogenannten „Brennpunktschulen“ fast nie einen Förderverein gibt. Sie sind vielmehr in den wohlhabenderen Gegenden zu finden, dort, wo die Eltern ihre Kinder gefördert sehen möchten. Ein enormes Maß an Egoismus und Eigennutz spielt dabei sicherlich eine große Rolle.
So ist es nicht verwunderlich, dass 50 000 Schülerinnen und Schüler pro Jahr keinen Abschluss schaffen.5 Da ist es schon ein Schlag ins Gesicht, wenn die Bundesregierung 60 000 Fachkräfte pro Jahr durch das Gesetz zur Fachkräfteeinwanderung nach Deutschland holen will. Gleichzeitig sind wir aber nicht in der Lage, unsere eigenen Kinder zu befähigen.
Die Arche betreibt neben ihren typischen Häusern auch Hortbetriebe an Schulen und eigene Kindertagesstätten. Letztere werden in der Regel von den jeweiligen Städten oder Kommunen über Betreuungsmittel mitfinanziert. Nur leider reichen diese pauschal ausgerechneten Gelder bei Weitem nicht aus, um die Kinder so zu fördern, schulfähig zu machen und auf das Leben vorzubereiten, wie es notwendig wäre. Viele Kleinkinder haben nicht nur Sprachprobleme, sondern auch motorische Einschränkungen, die in einer Kindertageseinrichtung eigentlich ausgeglichen werden müssten. In sogenannten Sprach-Kitas werden Kinder besonders in ihrer sprachlichen Entwicklung gefördert, aber es gibt mehr Kinder mit Sprachdefiziten als entsprechende Angebote. Allein die Arche-Kita in Düsseldorf wird von der Zentrale mit monatlich 10 000 Euro aus Spendengeldern unterstützt, weil die ihr zustehenden öffentlichen Mittel nicht ausreichen, um diesen Kindern die gleichen Startchancen in die Schule zu ermöglichen wie Kindern aus wohlhabenderen Stadtteilen. Was für ein Wahnsinn!
Seit einigen Jahren arbeitet Die Arche mit ihren Therapiehunden auch an Schulen. Dabei geht es nicht nur darum, den Kindern den Umgang mit den Vierbeinern zu zeigen und Ängste vor ihnen abzubauen. Vielmehr steht die Vermittlung von Sozialkompetenz, Selbstwertgefühl und Teamfähigkeit im Mittelpunkt. Das HarmonyDog-Team ist oft entsetzt, wenn es im Unterricht mitbekommt, wie wenig die Schülerinnen und Schüler wissen.
Es hat uns schier sprachlos gemacht, dass beispielsweise in einer zweiten Klasse, in der tatsächlich drei Schüler bereits zehn Jahre alt waren, keines der Kinder sein Geburtsdatum wusste. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was aus diesen Kindern einmal werden wird.
Wir müssen im Bildungsbereich besser und effektiver werden. Mittlerweile setzen wir in den Archen und in den kooperierenden Schulen auch Lesehunde ein. Hunde, denen die Kinder etwas vorlesen können. Die Hunde hören einfach zu und bewerten vor allem nicht, wenn das Vorgelesene etwas holperig klingt. Den Hunden ist es egal, ob jemand lesen kann oder nicht. Es geht darum, Begeisterung für das Lesen zu vermitteln, das Selbstvertrauen der Kinder zu stärken und ihre Ängste zu reduzieren. Es entsteht eine angenehme Atmosphäre, die in diesem Fall vom Hund ausgeht. Erfolge stellen sich ein, das Kind lernt stressfrei. Aber ist das die Aufgabe eines spendenfinanzierten Werks wie der Arche?
Die schlechte Bildung in Deutschland ist nicht nur eine Folge der Ohnmacht unserer Politikerinnen und Politiker, sondern ein Vergehen, das sich unterlassene Hilfeleistung nennt. Denn schon bevor uns die Coronapandemie in Atem hielt und viele Zustände verdichtete, war bekannt, dass in Deutschland viele Kinder einfach abgehängt sind. Sie sind zugeordnet den bildungsfernen Familien, Migranten, die sich nicht integrieren wollen, und Schmarotzern, die unbekümmert auf Kosten des Staates leben. Dieser Teil der jungen Menschen – mit der ihnen zugeschriebenen Perspektivlosigkeit und der damit empfundenen Nutzlosigkeit für die Gesellschaft – wird einfach in Kauf genommen.
Wie sonst ist es zu erklären, dass nie wirklich präventive Ansätze für diese Kinder und Jugendlichen gefunden wurden, um ihren Anteil möglichst gering zu halten oder ihn gar nicht erst entstehen zu lassen? Liegt es am fehlenden Geld, um beispielsweise zusätzliche qualifizierte Lehrkräfte einzustellen, oder liegt es, wie es mittlerweile immer so schön heißt, am Fachkräftemangel? Hat der Haushaltsausschuss des Bundestages diesen Aspekt schon jemals berücksichtigt? Oder scheitert das Thema Bildung bereits auf Länderebene?
Inzwischen ist es doch so, dass noch mehr Geld in die Hand genommen werden muss, um die Schäden zu beheben, die bereits in der Vergangenheit hätten angepackt werden können. Wäre dies geschehen, könnten wir heute schon an innovativen und zielführenden Ideen arbeiten. Nun ist es aber so, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler abgehängt werden. Man sprach von der „Generation Corona“, die völlig auf sich allein gestellt war, und hoffte, dass sich die Kinder an diese außergewöhnliche Situation gewöhnen und nach einem Neustart schnell wieder auf die Beine kommen würden. Leider erwies sich diese Einschätzung als fataler Irrtum. Die Arche kennt einige Kinder, die im Jahr 2020, also vor der Pandemie, besser in der Schule waren als zum jetzigen Zeitpunkt, nach dem Hin und Her der zahlreichen Schulschließungen.
„Intensiv-Lerncoach“ heißt nun unser einzigartiges Förderkonzept, das die Bildungschancen schwacher Schülerinnen und Schüler verbessern möchte. Die Intensiv-Lerncoaches der Arche arbeiten bundesweit an mehreren Schulen. Sie nehmen Kinder, die dem regulären Unterricht nicht mehr folgen können, aus dem Klassenverband heraus, um sie parallel zum Unterricht individuell zu fördern. Sind die Lerndefizite irgendwann aufgeholt, können sie wieder am „normalen“ Unterricht teilnehmen. Das geht natürlich nur in enger Absprache mit der Schulleitung und den Lehrkräften. Aber durch diese Zusammenarbeit können wir beobachten, dass sich Lernerfolge einstellen und die Lernkompetenz und das Selbstwertgefühl der „vergessenen“ Kinder reifen. Ein Mehrwert für unsere Gesellschaft!
Dass Bildung der Schlüssel für den Weg aus der Armut ist, habe ich schon oft gehört, und wenn ich es mir genau überlege, stimmt es auch. Aber wie sieht es mit den Rahmenbedingungen aus? Wenn weder die Eltern noch die Kinder von einem Bildungsangebot etwas wissen, dann nützt das nichts. Und ein Bildungsangebot kann noch so attraktiv und ansprechend sein – wenn das Kind ein schreckliches Leben hat, dann wird es ihm nichts nützen.
Ein siebenjähriger Junge, der einmal mit anderen Kindern und mir Fußball spielte, trat nach dem Ball und verfehlte ihn. Daraufhin warf er sich auf den Boden, zutiefst enttäuscht von seiner beschämenden Leistung. Er zitterte, weinte und schrie: „Ich bin nichts! Ich kann nichts! Ich werde nie etwas!“ Völlig entsetzt nahm ich den Jungen in den Arm, um ihn zu beruhigen. Ich fragte mich, warum er sich so fühlte und all diese grausamen Dinge über sich sagte. Eine tiefe Traurigkeit überkam mich. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass es Tausende von Kindern in unserem Land gibt, die so über sich denken. Und im Grunde sind diese Gedanken gar nicht so weit hergeholt. Sie spiegeln einen Teil der Wahrheit wider.
Wahr ist auch: Viele Schulen in Deutschland sind in einem maroden Zustand. Die Toiletten sind sanierungsbedürftig, die Klassenräume meist unattraktiv und kalt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Schulen, die so modern ausgestattet sind, dass Lehrkräfte an Brennpunktschulen davon nur träumen können. Wir haben in Deutschland keine Chancengleichheit. Wir nehmen die Ungleichheiten viel zu leicht in Kauf und diese Entwicklung als gegeben hin, als wären sie eine natürliche Auslese.
In einem Gespräch mit einer Berliner Schulsenatorin kritisierte ich unser Schulsystem, sprach auch die Problematik in den sogenannten Brennpunktschulen an und beklagte die Defizite der Schülerinnen und Schüler. Sie erwiderte, dass man erfolgreich Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter einsetze, um die Schülerinnen und Schüler in ihrem Alltag zu unterstützen.
Ja, Schulsozialarbeiter haben eine wichtige Vermittlerrolle im Schulalltag und können sicher einige Probleme und Konflikte abfedern – aber gelingt das überall? Ich berichtete der Senatorin von einer Schule mit insgesamt tausend Schülerinnen und Schülern, in der nur zwei Sozialarbeiter eingesetzt sind.
Ihre Antwort darauf war klar und bestimmt: „Na ja, nicht jedes Kind braucht jeden Tag einen Sozialarbeiter.“ Und sie hat recht. Vielmehr brauchen unsere Kinder Personen, die nachhaltig eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Das kostet viel Kraft und Aufmerksamkeit. Nur wo gibt es diese Vertrauenspersonen? Eigentlich brauchen wir sie in unserem Land noch in anderen Bereichen.
Wenn eine neue Mitarbeiterin oder ein neuer Mitarbeiter bei uns in der Arche anfängt, egal an welchem der insgesamt 32 Standorte, stellen die Kinder immer die gleiche Frage: „Wie lange bleibst du?“ Das war schon immer so. Es ist interessant zu sehen, worauf die Kinder ihren Fokus legen, was ihnen wichtig ist. Und ja, es ist schön, diese Frage zu hören, aber es ist auch sehr erschreckend, weil sie uns spiegelt: Da ist die Angst, verlassen zu werden.
Schon in der Grundschule erleben die Kinder häufig einen Wechsel der Lehrkräfte, also ihrer anfänglichen Bezugspersonen. Ihnen wird neues Lehrpersonal einfach so zugeteilt. Warum? Ebenso sind heute viele Familien nicht mehr stabil – Ehepartner trennen sich, neue Partner kommen ins Haus beziehungsweise in die Wohnung. So entstehen immer mehr Patchworkfamilien, Alleinerziehende beherrschen das Bild, bestehende Familienstrukturen werden aufgebrochen. Für die Kinder ist das mittlerweile eine ganz normale Sache. Doch Menschen, die dauerhaft am gleichen Ort sind, sprich vertraute Personen – man kann sie auch Freunde nennen –, sind nicht da.
In unseren Arche-Einrichtungen legen wir viel Wert auf Liebe, Beziehung und Nachhaltigkeit, die der Schlüssel zum Herzen eines jeden Menschen sind. Aber wo ist dieser Schlüssel an anderen Orten in unserem Land versteckt? Warum sind viele Kinder schon in der fünften Klasse davon überzeugt, dass aus ihnen nichts wird? Vielleicht, weil sie in ihren jungen Jahren nur wenigen Menschen begegnen, die für sie eine Vorbildfunktion haben?
„Wir haben in Deutschland keine Chancengleichheit. Wir nehmen die Ungleichheiten viel zu leicht in Kauf und diese Entwicklung als gegeben hin, als wären sie eine natürliche Auslese.“
Bernd Siggelkow
Das Thema Bildung ist für mich seit vielen Jahren ein rotes Tuch. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass diejenigen, die über die Zukunft unserer Jugend entscheiden, in ein tiefes Schweigen verfallen sind und hoffen, dass die Probleme sich schon irgendwie von allein lösen. Im „Land der Dichter und Denker“, wie Deutschland immer bezeichnet wurde, kostet außerschulische Nachhilfe Geld. Für die Kinder der Arche und viele andere ist diese Art der Hilfe nicht finanzierbar. Zwar gibt es seit einigen Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder, doch die Realität zeigt, dass es nicht genügend Betreuungsplätze gibt. Und was macht die Politik?
Warum gibt es in Deutschland nicht zusätzliches Personal wie in den Ländern, die bei PISA sehr gut abschneiden? Es braucht Vertrauenspersonen, Psychologen und weitere Lehrkräfte in den Bildungsstätten, damit nicht der eine Lehrer alles richten muss. Denn er ist nicht die „eierlegende Wollmilchsau“, die alles schaffen und richten kann. Schon gar nicht, wenn von seinen 25 Schülerinnen und Schülern mindestens die Hälfte verhaltenskreativ ist.
Unsere nachfolgende Generation hat eine echte Chance verdient, sogar mehr als das. Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Haushaltsdiskussionen und Etatangelegenheiten des Staates auf dem Rücken unserer Kinder ausgetragen werden. Das ist ein Verbrechen an der jungen Generation. Sonst wird für vieles Geld zur Verfügung gestellt, ohne zu fragen, woher es kommt und was es bringt, aber an unseren Kindern wird gespart. Sie sind die Gegenwart und gleichzeitig die Zukunft unseres Landes. Und was sie eines Tages zurückzahlen werden, ist das, was wir in sie investiert haben.
Kinder haben keine Lobby, aber sie haben meine Stimme. Und es müssen viele Stimmen gegen dieses Verbrechen an unseren Kindern erhoben werden.
„Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Haushaltsdiskussionen und Etatangelegenheiten des Staates auf dem Rücken unserer Kinder ausgetragen werden. Das ist ein Verbrechen an der jungen Generation.“
Bernd Siggelkow