Wir müssen unser politisches System, was unsere Kinder betrifft, radikal verändern. Es ist verwerflich, wie wir momentan einen großen Teil von ihnen vergessen. Daran hat sich in den vergangenen dreißig Jahren leider wenig geändert. Deshalb muss die Kindergrundsicherung, die wir in der Höhe von 600 Euro fordern, sofort kommen. Gute Bildung für alle Kinder stärkt unsere Gesellschaft. Es werden dann perspektivisch mehr Menschen arbeiten und die staatlich finanzierten Transferleistungen werden folglich in Zukunft massiv sinken. Falls nicht, werden in spätestens fünf bis zehn Jahren die Kassen leer sein – darüber munkeln auch bereits hinter vorgehaltener Hand manche Politikerinnen und Politiker. Es ist daher an der Zeit und eine Notwendigkeit, unsere Kinder stärker als bisher finanziell zu unterstützen.
Aber die Kindergrundsicherung allein reicht nicht aus, um unsere Kinder zu stärken. Ein Viertel unserer Bevölkerung, über 20 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, besitzt keinerlei Ersparnisse. Weil sie gar nichts zurücklegen können, da sie gar nicht mehr imstande dazu sind. Gespart wird bei ihnen, um den Kindern Schuhe zu kaufen, für den Fall der Fälle einen kleinen Notgroschen zu besitzen oder als höchstes der Gefühle im Sommer vielleicht mal ein Eis essen zu gehen. Und wer kein Sparvermögen besitzt, wird im Alter auf staatliche Leistungen und Fürsorge angewiesen sein – oder ist es teilweise heute schon. – Wie kann man es da auf der anderen Seite zulassen, dass ein paar tausend Menschen einen Großteil des Geldes besitzen? Ist es etwa in einer Gesamtgesellschaft erstrebenswert, dass diese zahlenmäßig winzige Gruppe den Armen nur ein paar Brocken Brot hinwirft, damit sie nicht verhungern und gerade so überleben können? – Das kann doch nicht gewollt sein. Das ist aus sozialpolitischer wie auch aus christlicher Sicht verwerflich. Deshalb gehen wir als Arche auch in unseren Forderungen noch weiter.
Wir fordern: ein Grunderbe zwischen 20 000 und 25 000 Euro. Diesen Betrag sollen alle in Deutschland lebenden Kinder zu ihrem achtzehnten Geburtstag auf ihr Konto überwiesen bekommen. Und zwar auf das Konto des jeweils jungen Erwachsenen. Ganz wichtig, nicht auf das Konto der Eltern. Es darf dabei auch keine Rolle spielen, wie viel Geld die Eltern bunkern, sonst ist es für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr möglich, Eigentum zu besitzen und, wenn sie jung sind, auch eine Familie zu gründen. Entscheidend ist, dass alle erben und nicht nur die, die das Glück haben, in einer wohlhabenden Familie geboren worden zu sein. Denn Sinn und Zweck des Ganzen ist, dass die Kinder beziehungsweise jungen Erwachsenen nach der Schule ihr Leben selbstbestimmt gestalten können, mit einer Existenzgründung, einem Studium, einem freiwilligen sozialen Jahr oder auch mit den hohen Lebenshaltungskosten neben einer Ausbildung. All das hängt derzeit viel zu sehr vom Eigentum der Eltern ab, sodass bislang wieder Geld und Milieu hier über Talent und Fähigkeiten bestimmen. Das darf nicht länger sein!
Das Grunderbe ist allerdings nicht als ein Geschenkt vom Staat zu verstehen, sondern als eine Investition in die Zukunft. In unseren Arche-Häusern reden wir natürlich mit unseren Jugendlichen über solche Themen. Und wir gehen daher davon aus, dass die Hälfte aller jungen Menschen das Geld in ihre Zukunft, also in ihre Ausbildung und in die Familiengründung stecken wird. Viele verstehen solch ein Grunderbe als Chance.
Unsere wissenschaftlich arbeitenden Arche-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter haben errechnet, dass die Kindergrundsicherung und das Grunderbe die soziale Ungleichheit in Deutschland deutlich reduzieren würden. Das Ganze kostet natürlich viel Geld, rund 15 bis 17 Milliarden Euro im Jahr. Finanziert werden könnte das Ganze über eine Erbschafts- und Vermögensteuer. Und die können nur die Menschen bezahlen, die über viel Kapital verfügen. Das ist nun mal so.
Der französische Ökonom Thomas Piketty geht in seinen Forderungen sogar noch einen großen Schritt weiter. Er will jedem jungen Menschen im Alter von 25 Jahren 120 000 Euro zur Verfügung stellen, ohne dass er es jemals zurückzahlen muss. Über Pikettys Vorschlag kann man natürlich schmunzeln, aber eben auch diskutieren. Fest steht: Ob 20 000 Euro oder sieben Jahre später 120 000 Euro – dieses Geld wird mit Sicherheit wieder unmittelbar in unser Wirtschaftssystem zurückfließen und nicht auf irgendwelchen Konten wohlhabender Menschen versauern. Eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn sie möglichst vielen ihrer Bürgerinnen und Bürger solche Freiheiten ermöglicht. Innovation und Kreativität lassen sich nicht planen oder staatlich verordnen, sondern erfordern den Mut, unkonventionelle Wege zu gehen.
Ob eine Kindergrundsicherung oder ein Grunderbe – sie werden sicher nicht alle Wünsche der jungen Generation erfüllen, aber sie können vielen Menschen neue Optionen für die Gestaltung ihres Lebenswegs eröffnen.
Aus der Politik wird angesichts solcher Vorschläge schnell der Vorwurf laut, zu viele junge Menschen würden dieses Geld verschwenden. Solche Unkenrufe sind unserer Ansicht nach Blödsinn. Wir haben bereits erwähnt, die Hälfte unserer benachteiligten Arche-Kinder und Jugendlichen würden dies als echte Chance begreifen und das Geld selbstbestimmt in ihre Ausbildung stecken. Die Erfahrung zeigt, dass wir das auch hochrechnen können, diese Erfahrung haben wir in der Arche bei anderen wissenschaftlichen Untersuchungen machen dürfen. Wenn nur jeder zweite junge Mensch sein Geld sinnvoll anlegen würde, dann können wir von einem massiven Umbau unseres Sozialsystems sprechen, weg von einem passiv reagierenden System, hin zu einem aktiv fördernden System.
Wir müssen dahin kommen und lernen, die Menschen zu unterstützen, wenn sie jung sind und ihr Leben noch selbst gestalten können. Heute unterstützen wir mit dem Bürgergeld die Menschen, die schon „auf die Schnauze gefallen“ sind. Wir sollten wirklich proaktiver handeln und Menschen unterstützen, bevor überhaupt ein Schaden entstehen kann. Doch das geht nur, wenn wir früh genug anfangen zu helfen.
Viele Politikerinnen und Politiker, die uns in den Archen besuchen, reden immer von einer Umverteilung, wenn wir mit ihnen über die Kindergrundsicherung oder das Grunderbe diskutieren. Das klingt so negativ. Ja, das Grunderbe ist eine Umverteilung von den Alten zu den Jungen. Jeder junge Mensch soll die gleichen Startchancen erhalten und Verantwortung für sein Leben übernehmen. Das Grunderbe und die Kindergrundsicherung bedeuten Freiheit und Chancen für alle. Kann man das in einer freiheitlichen Demokratie wirklich ablehnen?
Junge Menschen werden heute von der Generation ihrer Eltern und Großeltern von einer Katastrophe in die nächste getrieben. Unser Klima geht langsam, aber sicher kaputt und durch eine falsche Coronapolitik sind Hunderttausende von Kindern und Jugendlichen auf der Strecke geblieben. Viele unserer Kinder haben durch die Pandemie psychische Probleme bekommen und sind vor allem durch die Schulschließungen bildungsmäßig in Rückstand geraten. Das können wir mit dem Grunderbe zu einem kleinen Teil wiedergutmachen.
Allein der Gedanke, dass nur Kinder reicher Eltern gefördert werden, weil sie es sich leisten können – Milieu entscheidet über Talent –, ist böse und verwerflich, ja, er vernachlässigt die Kinder, die in Armut aufwachsen und ist ein Verbrechen an ihnen. Das hat mit Freiheit und Demokratie wenig gemeinsam. Letztlich belastet es den Staat und uns als Gemeinschaft, wenn Menschen nicht die Möglichkeit haben, für sich selbst zu sorgen. Mehr als die Hälfte aller privater Vermögen sind in Deutschland nicht mit eigenen Händen erarbeitet worden, sie wurden geerbt.48 Das sollte schleunigst geändert werden. Gleiche Chancen für alle, das ist sozial und auch christlich gedacht.
Es ist an der Zeit für eine grundlegende Reform der Sozialsysteme in Deutschland. Wir müssen die Bürger unseres Landes proaktiver fördern und ein Grunderbe führt zu mehr Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit. Wir müssen unser Sozialsystem revolutionieren, sonst geht es kaputt und mit ihm unsere Kinder.
„Jeder junge Mensch soll die gleichen Startchancen erhalten und Verantwortung für sein Leben übernehmen. Das Grunderbe und die Kindergrundsicherung bedeuten Freiheit und Chancen für alle.“
Bernd Siggelkow
Wie kann ein solcher Umbau unseres Sozialsystems aussehen? Brauchen Menschen, die zum Beispiel älter als 75 Jahre alt sind, noch ein überdurchschnittliches Vermögen auf ihren Konten? Wenn jeder ältere Mensch nur zehn Prozent seines Sparguthabens in die junge Generation investieren würde, wäre den abgehängten Kindern schon geholfen …
Wir möchten, nein, wir müssen mutig sein und über alles diskutieren dürfen. Wir wissen längst, dass ein „Einfach weiter so“ nicht infrage kommt. Wir brauchen jedes Kind und jeden Jugendlichen für die Zukunft unseres Landes.
In den deutschen Kinderzimmern geht es seit Jahrzehnten sehr ungerecht zu. Deutschland ist zu einer Drei-Viertel-Gesellschaft geworden. Ungefähr jedes vierte Kind stammt aus einem finanziell benachteiligten Haushalt. Tendenz steigend. Der Abbau von Kinderarmut ist eine gemeinschaftliche Aufgabe, der wir alle verpflichtet sind. Und Kinderarmut hängt mit der gesamten Architektur der Sozial- und Wohlfahrtspolitik und hier vor allem mit den Traditionen der Familienpolitik zusammen. Doch diese Architektur muss dringend überdacht werden. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird unser Land kaputtgehen.
In unserer Menschheitsgeschichte haben sich immer wieder Katastrophen ereignet. Aber wir haben wenig daraus gelernt. Es gibt in unserem Land kein wirklich funktionierendes Krisenmanagement. Die Politik lässt uns im Ungewissen. Sie ist nur darauf bedacht, ihre Haut zu retten. Deshalb müssen wir die Dinge selbst in die Hand nehmen und handeln.
Nehmen wir uns doch ein Beispiel an Gandhi. Er ist auf die Straße gegangen und hat mit seinem gewaltlosen Widerstand ein ganzes Land verändert. Wir spielen wirklich nicht gerne mit einem Schreckensszenario, aber es ist höchste Zeit zu handeln. Wenn wir 25 bis 30 Prozent unserer Kinder nicht ausbilden und sie nicht am wirtschaftlichen Erfolg teilnehmen lassen, dann wird es früher oder später einen Aufstand geben. Die Zahl der Kinder, die in Armut aufwachsen müssen, wird immer größer. Es ist höchste Zeit, dass wir Menschen umdenken und dass sich die Politik um die verlorenen Kinder kümmert. Prophylaxe und Prävention sind hier wichtiger, als immer erst dann zu handeln, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.
Doch dafür muss sich vieles ändern in unseren Köpfen und an unseren Gewohnheiten. Denn wenn diejenigen, die ein überdurchschnittliches Vermögen auf ihren Konten haben, etwas für die benachteiligten Kinder abgeben müssen, dann hat das etwas mit Nächstenliebe zu tun. Nur so hat unsere Gesellschaft eine Zukunft.
Dass wir umdenken müssen, hat wohl jeder verstanden. Das sagen nicht nur wir und andere, das steht mittlerweile auch überall. Aber es passiert nichts. So werden wir Hunderttausende Kinder verlieren. Wir fördern sie nicht, sind aber bereit, für sie Sozialleistungen zu zahlen. Das ist für uns nur schwer zu verstehen. Denn kein Kind wünscht sich bloß Almosen, um leben zu können. Jedes Kind und jeder Jugendliche hat Träume. Helfen wir ihnen, ihre Träume auch zu verwirklichen.
Vom ersten Tag an, als die Arche Frankfurt an der Berthold-Otto-Grundschule gegründet wurde, war Dilara dabei. Mit etwa 100 anderen Kindern gehörte sie zu der ersten Gruppe, die aus dem Frankfurter Stadtteil Griesheim in die Arche kam. Die Initiative, dort als Arche vor Ort zu sein, ging damals von der Schulleiterin der Grundschule aus, da die Schule durch Migration und hohe Arbeitslosigkeit vor großen Herausforderungen stand. Die Kinder und Jugendlichen hatten eher kriminelle Perspektiven, als dass sie in unsere Gesellschaft integriert werden konnten, und die Schulleiterin sprach von einem „verlorenen Stadtteil“.
Dilara kam von Anfang an regelmäßig in die Arche, wir lernten sie nach und nach näher kennen. Oft stand sie in ihrem roten Kleidchen in der Arche und schrie einfach grundlos durch den Raum, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir spürten schnell, dass in ihrer Biografie und in ihrem Elternhaus einiges nicht in Ordnung zu sein schien, und so hatten wir sie vom ersten Tag an besonders im Blick.
Wir versuchten, ihr einen verlässlichen Rahmen zu geben, durch die morgendliche Frühbetreuung in der Schule, aber auch durch die Mittagessensversorgung, die Hilfe bei den Hausaufgaben, das Spielen am Nachmittag und nicht zuletzt die Camps und Kindergeburtstage. Oft schien es, als sei dies der einzige verlässliche Rahmen für sie, denn sie erzählte immer wieder davon, wie schwer es für sie zu Hause war. Die Beziehung der Eltern war schwierig, sodass die Trennung eigentlich immer im Raum stand. Es gab viel Streit zwischen den Eltern und man merkte Dilara an, dass sie lieber in der Arche als zu Hause war. Die Mutter, die auch des Öfteren mit uns in Kontakt stand, wünschte sich, dass Dilara mehr Zeit zu Hause mit der Familie verbringen sollte und konnte sich nur schwer damit arrangieren, dass ihre Tochter sich zu Hause nicht wohlfühlte. Andererseits spürte man aber auch, dass die Mutter ihr sehr zugewandt war und sie unterstützen wollte, sich aber oft nicht gegen den Vater und die älteren Brüder durchsetzen konnte.
Dilara sprach, wenn sie von ihrem Bruder oder Vater erzählte, oft in Superlativen. Ihre Brüder seien die besten der Welt und der Vater würde alles für sie möglich machen. Wir hatten aber vielmehr den Eindruck, dies sei eher ein Wunsch, als dass es der Realität entsprach.
Bei einem unserer Kindergeburtstage stand dann eine Geschichte im Mittelpunkt, die von einer Holzfigur handelte. Diese lebte in einem Dorf und war ständig den negativen Bewertungen der anderen Dorfbewohner ausgesetzt. Gleichzeitig gab es aber auch den Schreiner, der die Holzpuppe hergestellt hatte, der Gutes über sie aussprach. Jedes Mal, wenn ein anderer eine negative Beurteilung abgab, war dies gleichbedeutend mit dem Aufkleben eines grauen Punktes. Wenn aber der Schreiner eine gute Beurteilung gab, war es wie das Aufkleben eines goldenen Sterns für die Holzpuppe.
Diese Kindergeschichte soll deutlich machen, dass der Wert eines Menschen nicht vom Urteil anderer abhängt, sondern vielmehr von dem, was der Schöpfer über ihn denkt. In der Arche ist dies ein Sinnbild für Gott, der uns Menschen geschaffen hat und immer wieder zum Ausdruck bringt, was er Positives und Gutes über die Kinder denkt.
Diese Geschichte hat Dilara sehr beeindruckt und sie hat sie so verinnerlicht, dass sie den Text auswendig gelernt hat. Die Kinder bekamen nämlich zum Abschluss des Geburtstages das Buch geschenkt, um es zu Hause noch einmal lesen zu können.
Der Kindergeburtstag lag schon einige Zeit zurück, als eines Tages beim Mittagessen das Gespräch auf die Geschichte kam und Dilara den kompletten Text auswendig zitierte. Auf die Frage eines Mitarbeiters, warum sie das könne, sagte sie: „Weißt du, mein Bruder ist gerade im Gefängnis, und wenn ich deswegen nachts aufwache und mir Gedanken mache, wie es ihm wohl geht und wie es mit unserer Familie weitergeht, dann schaue ich mir dieses Bilderbuch an. Dann werde ich innerlich ruhig und kann wieder einschlafen.“
Dies war ein Ausdruck der Herausforderungen, mit denen Dilara zu kämpfen hatte. Immer wieder sprach sie auch davon, dass sie von ihren älteren Brüdern Schläge zu erwarten hatte, wenn zu Hause etwas nicht lief oder sie zum Beispiel ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte, was öfter vorkam. Sie durfte dann auch nicht in die Arche kommen und es gab immer wieder Gespräche mit der Schule, den Lehrern und der Arche, um gemeinsam zu überlegen, wie man Abhilfe schaffen könnte.
Auch in den regelmäßigen Austauschrunden mit der Schule war Dilara immer wieder Gesprächsthema. Die Schulleiterin erzählte oft, wie schwierig es Dilara falle, sich im Unterricht zu konzentrieren und wie herausfordernd ihr ständiges Schreien und Stören, ihr Schreien nach Aufmerksamkeit sei. Im schulischen Rahmen konnte man dem nicht gerecht werden. Das hat uns als Arche weiterhin dazu bewogen, diesem Mädchen eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, Dilara zuzuhören und Zeit für sie zu haben, nicht nur beim Thema Hausaufgaben. Immer wieder haben wir ihr gesagt, dass wir sie gernhaben und sie in der Arche ihren Platz hat.
Besondere Erlebnisse während ihrer Zeit in der Arche waren immer wieder auch die Feriencamps, die eine unglaublich positive Wirkung auf Dilara hatten. Sie nahm regelmäßig an allen Ferienfreizeiten teil und nutzte die Gelegenheit, aus ihrer Familie herauszukommen und sich in einem anderen Setting – oft verbunden mit Natur und viel guter Zuwendung – zu entspannen. Dennoch gab es auch hier einige kritische Begegnungen. So stand sie einmal am offenen Fenster und überlegte, ob sie nicht herausspringen sollte, damit alles besser werde, wenn sie einfach weg sei. Wir konnten die Situation damals gut abwenden, aber sie hat uns die Lebensperspektive dieses jungen Mädchens gezeigt, wie fragil ihr Zustand war.
2015 wurde dann ein Herzklappenfehler bei ihr diagnostiziert. Dilara sollte operiert werden oder deutlich weniger Sport treiben, um ihr Herz zu schonen. Doch das war für sie ein Ansporn, noch mehr Sport zu treiben in der Hoffnung, dass ihr Leben dann vielleicht endlich schneller enden würde. Glücklicherweise konnten ihr auch hier Mitarbeiter der Arche Halt und Lebensmut vermitteln. So stand sie in engem Austausch mit einzelnen Kolleginnen und erfuhr dadurch immer wieder Ermutigung und Stärkung.
Die Campzeiten haben Dilara so sehr geprägt, dass sie auch als Jugendliche weiter mitfuhr, um für die jüngeren Kinder eine Art Kleingruppenleiterin zu sein. So konnte sie ihnen vorleben, was für sie selbst damals auf den Camps so besonders gewesen ist. Es war für uns ein schönes Bild, wenn sie während eines Geländespiels mit vier bis fünf Kindern an der Hand durch die Natur und den Wald stapfte.
Dilara hat leider nie regelmäßig die Jugendarche besucht, weil sie bei der Eröffnung schon ein wenig zu alt dafür war. Eigentlich wollten wir für Kinder wie sie die Jugendarche gründen, damit sie im Anschluss an die Kinderarche einen Ort haben, wo sie hingehen können, aber aufgrund der Bauarbeiten hatte sich alles so in die Länge gezogen, dass es für Dilara dann nicht gepasst hat. So sahen und sprachen wir uns immer wieder sporadisch, oft im Abstand von mehreren Wochen.
Dilara wurde älter und größer, und immer, wenn wir uns trafen, erzählte sie von ihrer Schule. Wir hatten einen guten Eindruck von ihr und das Gefühl, dass sie auch mit der Schule gut zurechtkam. Sie hatte stets einen sehr hohen Anspruch an sich selbst und wollte einen guten Abschluss und gute Noten, damit sie später auch einen guten Beruf erlernen und ein gutes Studium machen konnte, um im Leben weit zu kommen.
An einem Tag während der Coronapandemie standen wir vor der Jugendarche und Dilara erzählte, dass sie nicht zufrieden sei, wie es bei ihr in Mathematik und auch in Physik liefe. Sie sei mit dem Lehrer nicht zufrieden und frustriert darüber, dass sie vieles nicht verstand. Wir hatten in der Jugendarche ein gutes Konzept im Lernbereich, mit vielen Ehrenamtlichen, die über Videocalls mit unseren Kindern und Jugendlichen lernten. Als wir ihr davon erzählten und ihr angeboten haben, auch für sie darüber jemanden zu finden, der ihr in den entsprechenden Fächern Unterstützung geben könnte, war Dilara sofort begeistert.
Wir haben dann konkret nach jemandem gesucht und eine studentische Hilfskraft gefunden, mit der sie sogar mehrmals in der Woche lernen konnte. Die beiden haben sich so gut verstanden, dass sogar eine Freundschaft entstand.
Dilara kam immer wieder in der Jugendarche vorbei und erzählte, wie froh und begeistert sie sei, dass ihre Noten besser wurden. Sie war unglaublich dankbar, dass sie durch den Kontakt zur Arche lernen durfte …
Das Ganze zog sich über anderthalb bis zwei Jahre und mit den anstehenden Prüfungen wurde es immer spannender. Dilara hängte sich richtig rein, lernte Tag und Nacht und hatte hohe Erwartungen an sich selbst. Dann kam die Prüfung und wir fieberten mit ihr mit und hofften auf ein gutes Ergebnis. Sie ließ uns „live“ teilhaben, wie es gelaufen war und hatte einen unglaublich guten Abschluss hingelegt: satte 15 Punkte in Mathematik, Abitur mit der Gesamtnote 1,3. Dilara war total begeistert und unglaublich dankbar.
Kurz nachdem sie die Ergebnisse hatte, kam sie zur Jugendarche und unterstützte uns beim Sommerfest, bei dem wir unser fünfjähriges Jubiläum feierten. Dilara war den ganzen Tag vor Ort, packte tatkräftig mit an und strahlte vor Freude. Sie wollte uns damit ein Stück ihrer Dankbarkeit zeigen und alle genossen es, gemeinsam diesen schönen Tag zu rocken.
Als es zu einem kurzen Austausch mit einem Mitarbeiter kam, sagte sie: „Wenn du wüsstest, was die Arche für mich alles getan hat und was alles geworden ist!“ – „Was meinst du damit, was alles durch die Arche geworden ist …“, fragte der Mitarbeiter nach.
Dann erzählte sie davon, wie herausfordernd die ganzen Jahre für sie gewesen seien und wie stolz sie sei, dass sie in diesem Sommer ihr Abitur geschafft hat. Sie erzählte, dass sie ihren Eltern nie davon berichtet habe, wie sie sich schulisch entwickelt hatte. Sie habe in der Grundschule und auch später gelernt, dass sie sich selbst um ihr Wohl und ihre Zukunftsperspektive kümmern müsse. Darin habe sie innere Widerstandskraft entdeckt und ein Durchhaltevermögen, das ihr sehr bewundernswert erscheine. Sie erzählte weiter von dem durchaus emotionalen Moment, als sie ihrem Vater das Abiturzeugnis unter die Nase hielt und sagte: „Schau mal.“
Der Vater und die Mutter fielen aus allen Wolken, was die eigene Tochter geschafft hatte, weil sie ihr das vermutlich nie zugetraut hätten. Dilara betonte noch einmal, wie viel Hilfe und Unterstützung sie durch die Arche-Mitarbeiter in unterschiedlichen Formen erhalten habe und dass sie dadurch auf einen Lebensweg gekommen ist, den sie jetzt selbstständig gestalten und in die Hand will.
Ein wirklich besonderer Moment an diesem Geburtstag der Arche.
Sie sagte: „Wenn die Arche was braucht, ich bin immer da, um zu helfen.“
Heute lebt Dilara nicht mehr in Frankfurt, sie studiert Psychologie und geht ihren Weg. Mit den Arche-Mitarbeitenden ist sie weiterhin freundschaftlich verbunden, fährt sporadisch mit auf die Feriencamps und war zuletzt bei einer Mitarbeiterfortbildung der Arche Frankfurt und hat dort ihre Geschichte erzählt. Sie erzählte davon, was es ihr bedeutet hat, dass Menschen für sie da waren, sie begleitet haben und ihr in den Jahren der Unsicherheit und Frustration einen Ort geschaffen haben, der für sie wichtig war.
Uns motiviert eine Geschichte wie die von Dilara, auch bei den Kindern, die heute zu uns kommen, diesen Blick einzunehmen: dass vielleicht im Rückblick in einigen Jahrzehnten solche Biografien erzählt werden von jungen Erwachsenen, die ihren Lebensweg selbstständig gegangen sind und die sich als Teil unserer Gesellschaft verstehen sowie einbringen, ohne zu vergessen, woher sie kommen.