Zweites Kapitel

»Ganz ruhig, ich bin ja hier, mein Liebling!« Kräftige Arme hoben sie auf, umschlossen sie behutsam und dann berührte eine Hand zärtlich ihr Gesicht.

Abby schlug die Augen auf. Verstört und noch ganz unter dem Bann des Albtraumes, blickte sie in das Gesicht ihres Mannes Andrew Chandler, der sie in seine Arme genommen hatte. Das Entsetzen gab sie frei und erlöst atmete sie auf.

»Gott sei Dank, du bist da!«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Ich wusste, dass du kommen würdest.«

Andrew strich ihr das nasse Haar aus der Stirn. »Das muss ja ein böser Albtraum gewesen sein, so wie du geschrien und um dich geschlagen hast«, sagte er voller Mitgefühl. »Hast du wieder vom Überfall geträumt?«

Abby schüttelte schwach den Kopf. »Nein, ich habe nach langer Zeit wieder einmal von der schrecklichen Überfahrt auf der Kent geträumt … und von Cleo, die sich an mir rächen wollte. «11

Erstaunen zeigte sich auf seinem Gesicht, hatte er doch geglaubt, dass diese schrecklichen Erinnerungen sie nicht länger verfolgten. Immerhin lag die Passage von England in die noch junge und überwiegend von Sträflingen besiedelte Kolonie New South Wales in Australien mittlerweile gute vier Jahre zurück. Aber seelische Wunden brauchten nun mal unvergleichlich viel mehr Zeit als physische, um vollständig zu heilen. Und wenn er bedachte, was Abby durchgemacht hatte, musste er sich eigentlich schämen, geglaubt zu haben, sie wäre schon darüber hinweg. Er selbst hatte die monatelange Seereise um die halbe Welt zusammen mit seinem Vater und seinen Geschwistern Melvin und Sarah als freie Siedler achtern in einer recht bequemen Kabine zurückgelegt und die Überfahrt dennoch als eine gehörige Strapaze empfunden. Was Abby dagegen im überfüllten Zwischendeck der Sträflinge in dieser Zeit hatte erdulden müssen, konnte er bloß vage erahnen, doch wohl niemals wirklich nachempfinden.

»Ich habe geträumt, die Kent würde in einem Sturm untergehen und ich wäre da unten im Sträflingsdeck eingeschlossen«, sagte Abby. »Der Traum war entsetzlich lebendig. Ich habe das Wasser gespürt und wirklich das Gefühl gehabt, keine Luft mehr zu bekommen.«

»Kein Wunder, denn das hast du ja auch nicht geträumt«, erwiderte Andrew mit dem Anflug eines Lächelns. »Du hast dich nämlich im Schlaf unter diesen tief hängenden Zweig des Busches hier gewälzt, sodass er dir auf die Kehle gedrückt hat. Und das Wasser, das du auf dem Gesicht gespürt hast, ist der Regen, der vor wenigen Minuten eingesetzt hat.«

Abby richtete sich auf. »Tatsächlich, es regnet! Und es ist ja auch schon fast heller Tag!«, rief sie überrascht. Der letzte Rest schläfriger Benommenheit wich nun von ihr, und als sie den Kopf wandte, erblickte sie Baralong, den eingeborenen Tracker. Der graubärtige Aborigine, der Andrew über die Blue Mountains und zu den Katajunga geführt hatte, hockte auf einem niedrigen Felsbrocken und blickte nach Osten, wo der Himmel zu leuchten begann. Mit dem löchrigen schwarzen Dreispitz auf dem Kopf und dem alten, zerschlissenen Soldatenrock am Leib machte er den Eindruck eines zerlumpten Eingeborenen, der sich selbst aufgegeben hatte und für nichts Rechtes mehr zu gebrauchen war. Wie sehr man sich doch täuschen konnte, wenn man einen Menschen allein nach seinem Äußeren beurteilte! Dass sie den Überfall der beiden entlaufenen Sträflinge im Busch überlebt und dass Andrew zu ihr gefunden hatte, verdankte sie solchen »Wilden« wie Baralong, Nangala und den Männern und Frauen vom Stamm der Katajuri und der Katajunga,2 die sich ihrer angenommen hatten. Ohne deren barmherzige Hilfe wäre ihr Schicksal im wilden Buschland am Saunder’s Creek besiegelt gewesen und sie wäre dort elendig verblutet.

Mehr als sechs Wochen lag das nun schon zurück! Sechs schrecklich lange Wochen, die sie in der Wildnis und zumeist unter Aborigines verbracht hatte. Wie sehr sie sich danach sehnte, wieder auf Yulara am Hawkesbury River zu sein, in einem richtigen Bett zu schlafen und all die vertrauten Gesichter der Männer und Frauen wieder zu sehen, die auf der Chandler-Farm lebten !

»Was meinst du, wie lange werden wir wohl noch unterwegs sein, nachdem wir die Blue Mountains jetzt endlich hinter uns gebracht haben?«, fragte sie.

Andrews Blick glitt über das kleine Tal, das zu den östlichen Ausläufern der Blue Mountains gehörte und in dem sie im Schutz einer buschbestandenen Senke ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. »Das Schlimmste haben wir schon überstanden. Die Vorberge lassen wir heute hinter uns und ich schätze, dass wir die Upper Nelson Plains noch zu sehen bekommen, bevor es Abend wird.«

»Dann haben wir also noch gute drei Tage Fußmarsch bis Yulara vor uns?«, vergewisserte sich Abby.

Er nickte. »Ja, mehr dürften es nicht sein.«

Sie seufzte. »Das ist auch mehr als genug.«

Andrew nahm ihre Hand und drückte sie. »Ich weiß, wie müde du nach diesem wochenlangen Marsch durch den Busch und über die Berge bist. Auch ich wünschte, wir wären endlich wieder zu Hause.«

Er dachte daran, um wie viel einfacher es doch gewesen wäre, wenn er vor drei Wochen auf Baralong gehört und vor dem steilen Anstieg in die zerklüfteten Berge der Blue Mountains seine beiden Pferde Dellie und Nestor in jenem Tal zurückgelassen hätte. Dann hätte er sie bei ihrer Rückkehr sicherlich wieder einfangen und Abby ein Gutteil der Strapazen ersparen können. So hatten die beiden Pferde bei einem Erdrutsch den Tod gefunden und er konnte von Glück reden, dass er nicht mit ihnen in die Tiefe gerissen worden war.

»Aber diese letzten paar Tage werden wir jetzt auch noch schaffen«, sagte er. »Vielleicht haben wir ja Glück und stoßen auf ein Fuhrwerk, das in Richtung Hawkesbury River unterwegs ist und uns mitnehmen kann.«

Abby warf ihm einen skeptischen Blick zu. Jenseits von Sydney und der Siedlung Parramatta, die nur wenige Meilen weiter landeinwärts lag und als zweitgrößte Ortschaft der gerade mal zwanzig Jahre jungen Kolonie es schon zu einer recht ansehnlichen Ausdehnung gebracht hatte, begann die große Leere und Einsamkeit des australischen Buschlandes. Zwar hatten sich mittlerweile schon viele Emanzipisten – so wurden einstige Sträflinge genannt, die entweder begnadigt worden waren oder ihre Strafe verbüßt hatten – sowie eine langsam wachsende Zahl von freien Siedlern im Hinterland niedergelassen, Land gerodet und dem sonnendurchglühten Busch Farmen abgetrotzt. Aber die wenigen großen Gehöfte und die vielen kleinen, armseligen Siedlerhütten lagen doch weit auseinander. Es war daher auch nichts Ungewöhnliches, ein oder gar zwei Stunden zu Pferd oder mit dem Wagen unterwegs zu sein, um zum nächsten Nachbarn zu kommen. Bei der Weite des Landes und der noch immer spärlichen Besiedlung der Kolonie begegnete man daher auf den staubigen Landstraßen, die zumeist nur aus den Spurrillen schwerer Ochsengespanne bestanden, recht selten Reitern und Fuhrwerken.

»Ich fürchte, wir werden uns auf unsere eigenen Kräfte verlassen müssen«, sagte Abby, die sich erst gar keine falschen Hoffnungen machen wollte. Und natürlich würden sie die letzte Wegstrecke auch noch schaffen. Was waren denn drei Tage Fußmarsch durch den Busch? Sie hatte schon ganz anderes überstanden. Außerdem war Andrew bei ihr. Und solange sie zusammen waren, fürchtete sie keine Macht der Welt!