Es war Abby, die plötzlich aus ihrem leichten Schlaf hochfuhr und die Gefahr rechtzeitig bemerkte.
»Was ist denn?«, murmelte Andrew benommen, als sie ihn wachrüttelte. »Ist dir nicht gut? Kannst du nicht schlafen?«
»Dingos! «, stieß sie mit klopfendem Herzen hervor. »Da! … Ich habe mindestens drei gezählt! Und sie müssen verdammt hungrig sein, wenn sie sich zu einem Rudel zusammengeschlossen haben. Denn in der Meute jagt es sich leichter!«
Andrew war sofort hellwach. Mit einem unterdrückten Fluch sprang er auf. »Ausgehungerte Wildhunde, die es in unserer letzten Nacht auf uns abgesehen haben, das hat uns gerade noch gefehlt ! Schnell, fach das Feuer wieder an, ich sammle indessen Feuerholz ein und breche ein paar trockene Äste ab! Die Flammen müssen so hoch wie möglich schlagen. Das ist unsere einzige Waffe, Abby. Damit können wir sie uns vom Leib halten!«
Abby beugte sich über das Feuer, fegte die Schicht kalter Asche beiseite und blies in die darunter liegende Glut, bis die ersten Flammen hochzüngelten.
Andrew wünschte, er hätte ein Gewehr oder doch wenigstens so einen langen Speer wie Baralong. Aber bis auf das wenige, was er am Körper getragen hatte, war seine ganze Ausrüstung schon vor Wochen in den Blue Mountains verloren gegangen, als ein Erdrutsch seine beiden Pferde mitgerissen hatte und sie in eine tiefe Schlucht gestürzt waren. Die einzige Waffe, die er unter den Eukalyptusbäumen fand, waren mehrere dicke Knüppel, die bestens als Fackel und Prügel in einem geeignet waren. Sie stammten von einem der Bäume, den ein Sturm gefällt hatte. Auch Feuerholz gab es zu ihrem Glück rund um diesen Baum in Hülle und Fülle.
Das Rudel der Dingos bestand aus vier Tieren, die im schwachen Schein eines klaren Sternenhimmels ihr Lager umkreisten und dabei immer näher kamen. Die Leiber der Wildhunde, die mit Vorliebe auf die Weiden einsam gelegener Farmen vordrangen und wehrlose Schafe rissen, leuchteten in einem fahlen Gelbgrau. Dann und wann blieb eines der Tiere stehen und starrte lauernd in ihre Richtung. Dabei spiegelten seine Augen den Flammenschein des hoch lodernden Feuers wider.
»Sollten sie angreifen, bleib immer mit dem Rücken am Baum und lass dich nicht von dort weglocken! Dann kann dich keiner von hinten anspringen! «, schärfte Andrew ihr ein.
Abby würgte ihre Angst hinunter, die jedoch immer wieder wie ein Brechreiz in ihr aufstieg. »Sollen sie nur kommen, wenn sie sich ein verbranntes Maul und ein versengtes Fell holen wollen! «, stieß sie grimmig hervor. Sie war entschlossen, nicht einen Inch zu weichen und den Dingos notfalls die lodernde Fackel in den Rachen zu stoßen.
Sechsmal wagten die Dingos so etwas wie einen Angriff. Doch das prasselnde Feuer und die brennenden Knüppel, die Andrew und Abby unter lautem Schreien schwenkten und wie Flammenschwerter wild durch die Luft sausen ließen, schreckten sie jedes Mal wieder ab. Nur einmal kam ein grau gefleckter Dingo Abby so nahe, dass sie sein aufgerissenes Maul mit dem scharfen Gebiss und sogar den schaumigen Sabber sehen konnte, der ihm von den Lefzen tropfte. Er bezahlte seine Kühnheit mit einem Schlag an den Kopf und einem verbrannten Ohr – und sprang jaulend zurück. Er war der Erste, der seine Hoffnung aufgab, hier leichte Beute zu machen, und in der Dunkelheit verschwand.
Die drei anderen Dingos zeigten mehr Beharrlichkeit. Sie hielten Abby und Andrew noch eine ganze Stunde lang in Atem, indem sie wachsam und sprungbereit um ihr Lager schlichen und nur darauf warteten, dass sie sich eine Blöße gaben. Aber dies trat nicht ein, wie auch das Feuer nicht in sich zusammenfiel, sondern immer neue Nahrung erhielt.
Schließlich gaben auch sie auf und trollten sich unter wütendem Geheul, das noch lange zu hören war.
Abby hätte sich am liebsten sofort neben dem Feuer ausgestreckt und in den Schlaf fallen lassen und Andrew ging es nicht anders. Aber sie konnten nicht ausschließen, dass die Dingos noch einmal zurückkehrten, und wollten das Risiko, im Schlaf angefallen zu werden, nicht eingehen.
»Du kannst dich ruhig schlafen legen, ich halte Wache bis zum Morgengrauen«, drängte Andrew sie, besorgt um ihr Wohlergehen.
Doch Abby wollte davon nichts wissen. »Du bist genauso müde wie ich. Nein, wir halten uns besser gegenseitig wach. Erzählen wir uns irgendetwas! Ein Rätsel, eine Geschichte oder was auch immer!«, schlug sie vor. »Du fängst an!«
Auf diese Weise verbrachten sie die wenigen Stunden, die sie noch vom neuen Tag trennten. Sowie sich im Osten die Schwärze der Nacht aufzuhellen begann und sie sich im Gelände orientieren konnten, brachen sie auf. Das fröhliche Gelärme mehrerer Kookaburras, bunt schillernder Lachvögel, die auch »Lachender Hans« hießen, begleitete sie in den jungen Morgen.
Am Nachmittag desselben Tages erreichten sie endlich die Landstraße, die nach Windsort führte, einer kleinen Ortschaft am Unterlauf des Hawkesbury. Der von tiefen Spurrillen gezeichnete Buschpfad gabelte sich am View Point Hill, der höchsten Erhebung im Umkreis vieler Meilen. Dort führte die Abzweigung um den Hügel herum und hinunter nach Yulara an den Fluss.
»Da braut sich was zusammen«, sagte Abby und deutete nach Nordosten, wo sich der Himmel verdunkelte.
»Sieht nach einem Gewitter aus. Aber bis das hier ist, sind wir längst zu Hause«, sagte Andrew mit aufgekratzter Stimme.
Als sie der Landstraße schon eine gute Meile gefolgt waren und View Point Hill zum Greifen nahe gerückt war, stutzte Andrew plötzlich und blieb stehen.
»Was hast du?«, fragte Abby verwundert.
»Hörst du das? … Hufschlag!«
Im selben Augenblick nahm auch Abby den vertrauten Klang eines herantrabenden Pferdes wahr, das sich ihnen von hinten näherte. Sie drehte sich wie Andrew um und sah hinter einem weit gestreckten Dickicht aus Dornen und Akazien einen Reiter auf der Landstraße auftauchen.
Als der Reiter sie vor sich im hohen Buschgras bemerkte, brachte er seinen Rotfuchs sofort zum Stehen. Sie sahen, wie er zum Gewehr griff und sich die Waffe schussbereit über den Sattel legte. Dann erst trieb er sein Pferd wieder an und kam langsam auf sie zugeritten.
Andrew erkannte die kantige Gestalt des Reiters schon von weitem. »Das ist Charles Gilmore!«, sagte er und verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Der bullige Farmer, der für sein hitziges Temperament und seine übellaunige, nachtragende Art bekannt war, hatte sich mit seiner Familie einen Tagesritt südlich von Yulara niedergelassen und bewirtschaftete dort seit einigen Jahren eine große Farm, der er den Namen Greenleaf gegeben hatte. Es gab nicht viele Nachbarn am Hawkesbury, auf die Andrew und auch sein Vater liebend gern verzichtet hätten. Charles Gilmore jedoch gehörte zu dieser Hand voll, die sie lieber weit weg gewünscht hätten.
»Allmächtiger, meine Augen haben mich wirklich nicht zum Narren gehalten! Das sind der junge Mister Chandler und seine Frau! Himmel und Hölle, die beiden sind tatsächlich am Leben!«, rief der grobschlächtige Farmer mit dem Walrossbart und zügelte sein Pferd.
Andrew schaute mit breitem Grinsen zu ihm hoch und konnte sich nicht verkneifen, ihm zu antworten: »Totgeglaubte leben manchmal länger, Mister Gilmore.«
Der Farmer schüttelte fassungslos den Kopf. »Es geschehen wahrlich noch Zeichen und Wunder – sogar hier bei uns in New South Wales ! «, sagte er und wollte dann wissen, wo er Abby bloß gefunden hatte.
»Weit im Südwesten in einer Schlucht der Blue Mountains«, antwortete Andrew sehr vage. »Abby verdankt ihr Leben einer Gruppe von Aborigines vom Stamm der Katajuri. Die haben sie im Busch gefunden und gesund gepflegt. Ein alter Tracker, den ich in Sydney aufgestöbert habe, hat mich schließlich zu ihnen geführt.«
Ein misstrauischer, verschlossener Zug trat auf Charles Gilmores breitflächiges Gesicht. »Na, die werden schon ihre Gründe gehabt haben, warum sie Ihre Frau nicht gleich zur nächsten Station gebracht, sondern dort in die Berge verschleppt haben!« Er musterte Abby mit einem durchdringenden Blick, als vermutete er, dass sich die Eingeborenen an ihr vergangen hatten.
Unter seinem argwöhnisch prüfenden Blick wurde Abby sich plötzlich bewusst, in welch einem zerlumpten Kleid sie vor ihm stand und wie viel nackte Haut sie unfreiwillig zeigte. Ihre Kleidung bestand eigentlich nur noch aus einer Reihe von verschieden großen Fetzen, die stellenweise gerade mal von einem fingerbreiten Stück Stoff zusammengehalten wurden. Schamhaft kreuzte sie ihre Arme vor ihrer fast entblößten Brust.
»Wohl weil sie Angst gehabt haben, genauso hinterrücks erschossen und niedergemetzelt zu werden, wie es Lieutenant Danesfield vor Wochen demonstriert hat, als er mit seinen Soldaten am Richmond Hill das Lager von harmlosen Eingeborenen überfallen und nicht einmal Frauen oder Kinder am Leben gelassen hat! «, antwortete Andrew sarkastisch.
Charles Gilmore, der sich an dem entsetzlichen Massaker beteiligt hatte, bedachte ihn mit einem indignierten Blick. »Die Wilden hatten zu ihren Speeren gegriffen, das habe ich genau gesehen, und nichts Besseres verdient«, entgegnete er kühl. »Aber da wir gerade von Lieutenant Danesfield reden …« Er brach ab.
»Was ist mit Danesfield?«, fragte Andrew und große Unruhe ergriff ihn. Er verabscheute diesen Offizier, dessen Skrupellosigkeiten keine Grenzen kannte. Und ausgerechnet diesen Mann, hinter dem die Macht des Rum Corps stand, hatte er sich zum Feind gemacht.
»Nun, mit dem Mann ist genauso wenig zu spaßen wie mit Captain Grenville, das ist mal sicher.« Charles Gilmore hielt erneut inne, räusperte sich umständlich, rutschte plötzlich unruhig im Sattel herum und schien auf einmal nicht mehr die richtigen Worte zu finden. »Ich nehme an, Sie… äh … Sie wissen noch gar nicht, was hier… äh … passiert ist?«
Andrew runzelte die Stirn. »Nein«, sagte er und ein beklemmendes Gefühl befiel ihn. Gilmore hatte schlechte Nachrichten. »Erzählen Sie, was vorgefallen ist! Haben die Soldaten etwa meinen Bruder verhaftet?«
Charles Gilmore schien seine Frage gar nicht gehört zu haben. »Nun, Sie waren ja lange weg … Man hielt Sie für verschollen … Ich glaube, auch Ihr Bruder ging schon davon aus, dass es Sie irgendwo im Busch erwischt hat … Bei diesen Wilden, die sich noch immer überall herumtreiben und die Kolonie unsicher machen …«
»Mein Gott, so kommen Sie doch endlich zur Sache, Mister Gilmore!«, rief Andrew gereizt vor nervöser Anspannung. »Nun erzählen Sie schon, was passiert ist!«
Charles Gilmore wich seinem Blick aus und kratzte sich am Kinn. »Eine schreckliche Sache, die sich da vor anderthalb Wochen auf Yulara ereignet hat … Das muss alles sehr unglücklich abgelaufen sein … Gut möglich, dass Ihr Vater die Soldaten tatsächlich herausgefordert und die Nerven verloren hat … Wird schon was an der Geschichte dran sein, sonst hätten sie kaum so drastische Maßnahmen ergriffen … Aber was geschehen ist, ist geschehen«, erzählte der Farmer, ohne dass sich ein klares Bild ergab.
»Um Gottes willen, nun sagen Sie es schon! Was ist auf Yulara geschehen?«, stieß Abby mit wachsender Sorge hervor.
Der Farmer warf ihr einen missbilligenden Blick zu und wandte sich dann an Andrew. » Ihr Vater und Jake Pembroke sind tot, Mister Chandler! Erschossen von den Soldaten. In Notwehr, wohlgemerkt ! Es tut mir Leid, dass ich Ihnen das mitteilen muss. Und Yulara …«
»Tot? Nein!«, fiel Andrew ihm ins Wort. »Das kann nicht sein!«
Charles Gilmore setzte zu einer Antwort an, hielt jedoch inne und schien sich eines anderen zu besinnen, denn er schüttelte den Kopf. »Sie werden es ja gleich selbst sehen, Mister Chandler. Aber Sie sollten sich schon auf das Schlimmste gefasst machen. Die näheren Umstände können Sie von Ihren Nachbarn sicherlich genauer erfahren als von mir. Und jetzt muss ich weiter! Es sieht nach einem schweren Unwetter aus. Also dann, meinen Glückwunsch, dass Sie beide überlebt haben!« Er tippte an die Krempe seines Hutes und galoppierte davon.
Abby und Andrew rannten wie von Furien gehetzt den Hang des View Point Hill hoch. Atemlos und taumelnd erreichten sie schließlich die Kuppe, von der aus man einen wunderbaren Ausblick auf das breite, silbrig glänzende Band des Hawkesbury River hatte – und auf Yulara.
Doch dort, wo einst das stattliche Farmhaus und die vielen Nebengebäude, das Windrad und die Hütten der Arbeiter gestanden hatten, befanden sich nur noch verkohlte Ruinen. Die Soldaten hatten alle Gebäude, sogar den Hühnerstall, bis auf den nackten Boden niedergebrannt!
Yulara, die stolze Farm der Chandlers, gab es nicht mehr.