Siebtes Kapitel

Es dauerte eine ganze Weile, bis Andrew sich wieder einigermaßen gefasst hatte und in der Lage war zu sprechen. »Lass uns zusammen für Vater und Jake beten«, sagte er schließlich und wischte sich die Tränen vom Gesicht.

Gemeinsam beteten sie für das Seelenheil der Toten und empfahlen sie Gottes unendlicher Barmherzigkeit. Und die Gebete schenkten ihnen Trost, was andere Worte nicht vermocht hätten, und stärkten Andrew.

»Wie konnte so etwas Schreckliches nur passieren? Hier auf Yulara?«, rätselte Abby, als sie den Friedhof verließen und zu der schrecklichen Brandstätte zurückkehrten, die einem Schlachtfeld glich. »Was, um Gottes willen, ist bloß zwischen den Soldaten und deinem Vater und Jake vorgefallen, dass es zu solch einer entsetzlichen Gewalttat kommen konnte?«

»Es hat schon vorher eine Menge böses Blut zwischen uns und den Offizieren vom Rum Corps gegeben«, antwortete Andrew düster. »Das begann nicht erst, als du vermisst wurdest und ich bei der Suchaktion der Soldaten heftig mit Lieutenant Danesfield aneinander geriet. Aber ich fürchte, dass dieser Streit die Lunte an dem Pulverfass erst richtig in Brand gesetzt hat.«

Abby erhob sofort Einspruch gegen die indirekten Selbstvorwürfe, die sie aus seinen Worten heraushörte. Sie wollte ihn davor bewahren, alle Schuld in seinem eigenen Tun und Lassen zu suchen. Deshalb erinnerte sie ihn daran, wie angespannt, ja feindselig das Verhältnis zwischen seinem Vater und der herrschenden Offiziersclique in Sydney schon Monate vor ihrem Verschwinden in der Wildnis gewesen war. Und hatten sie seinem Bruder nicht bei Nacht und Nebel zur Flucht aus Sydney verhelfen müssen? Wenn man also die ersten und wirklich ausschlaggebenden Ereignisse benennen wollte, die diese erbitterte Feindschaft begründet hatten, dann musste sich ja wohl zuerst einmal Melvin, ihr politisch engagierter Schwager, an die Brust fassen!

Nicht, dass er nicht das Recht gehabt hätte, sich so kritisch über das Rum Corps zu äußern, wie er es getan hatte! Melvin hatte Courage besessen und das Richtige gesagt. Aber dass er damit sich und seine ganze Familie in große Gefahr gebracht hatte, stand für Abby ebenso außer Zweifel.

»Ja, mein Bruder hat dieses korrupte Pack ganz ordentlich gereizt«, räumte Andrew widerstrebend ein und stieß mit der Stiefelspitze einen verkohlten Holzeimer aus dem Weg. »Aber dass sie dann plötzlich so über uns hergefallen sind und Yulara dem Erdboden gleichgemacht haben, passt nicht dazu. Immerhin hatte mein Vater doch so etwas wie einen Waffenstillstand mit der Meutererbande geschlossen!«

»Andrew, bitte! Quäl dich doch nicht mit völlig unsinnigen Selbstvorwürfen!«, beschwor sie ihn. »Wer als Offizier des Königs meutert und den Gouverneur der Kolonie absetzt, dessen Wort ist doch genauso wenig wert wie das eines gewöhnlichen Schurken! Und wer weiß, was zwischen deinem Vater und den Soldaten wirklich vorgefallen ist.«

»Ja, und genau das hätte uns Gilmore bestimmt erzählen können. Aber dieser egoistische Grobian hat es sich leicht gemacht und ist einfach weitergeritten!«, zürnte Andrew und murmelte einen Fluch.

»Gilmore ist es gar nicht wert, dass du dich so über ihn aufregst. Auf seinen Bericht würde ich sowieso nicht viel geben. Du kennst ihn doch: Aus seinem Mund wird sogar ein Segensspruch bei Tisch fast schon zu einer Drohung«, sagte Abby beschwichtigend. »Wir werden schon noch genau erfahren, was hier vorgefallen ist und warum dein Vater und Jake ermordet wurden. Aber erst einmal müssen wir herausfinden, ob sie Melvin verhaftet haben oder ob er ihnen noch einmal entkommen konnte, wo deine kleine Schwester Sarah geblieben und was aus all den anderen geworden ist, die hier auf Yulara gelebt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auch Sarah mitgenommen haben, ganz zu schweigen von der dicken Rosanna und Clover, ihrer jungen Küchenhilfe.«

Andrew nickte und atmete tief durch, als hätte er einen Entschluss gefasst. »Ja, du hast Recht. Vermutlich finden wir sie auf den umliegenden Farmen. Aber bevor wir uns auf den Weg machen, sollten wir sehen, ob wir in all den Trümmern noch etwas Verwertbares finden, vielleicht Lebensmittel und… Sag mal, hörst du mir überhaupt noch zu?«

Abby hatte sich von ihm abgewandt und sich mehrere Schritte entfernt. Sie hielt auf den Trümmerhaufen zu, wo einst das geräumige Farmhaus mit der überdachten Veranda gestanden hatte. »Entschuldige, aber ich glaube, ich habe da am Kamin etwas entdeckt, Andrew! «, rief sie zurück.

»Und was willst du da entdeckt haben?«

»Eine Nachricht! Hier steht etwas auf den Steinen! Jemand hat eine Botschaft für dich hinterlassen!«

Andrew stolperte nun hastig durch die Trümmer hinter ihr her, denen noch immer der widerliche Geruch kalter Asche entströmte. Und dann sah auch er über dem Sims des halb eingestürzten Kamins die krakelige Schrift auf den Feldsteinen.

»Allmächtiger, du musst ja Augen wie ein Adler haben. Das ist tatsächlich eine Nachricht!«, stieß er ungläubig hervor.

Jemand hatte mit einem verkohlen Holzstück und sehr ungelenk folgende Aufforderung auf die Steine geschrieben: Andrew, komm zu Melvins Einsiedelei!

»Vielleicht dein Bruder! «, sagte Abby hoffnungsvoll.

»Oder einer von unseren Arbeitern«, erwiderte Andrew skeptisch. »Melvin hat eine viel zu ausgeprägte Handschrift. Bei ihm würden die Buchstaben anders aussehen, auch auf diesen Steinen und nur mit einem Stück Holzkohle gemalt.«

Abby gab ihm insgeheim Recht. Die Buchstaben sahen eher danach aus, als hätte sich jemand damit abgemüht. »Wer auch immer das dort auf die Steine geschrieben hat, er will jedenfalls, dass du dich zu Melvins Einsiedelei begibst. Und was damit gemeint ist, ist ja wohl nicht schwer zu erraten.«

Andrew entfuhr ein kurzes Auflachen. »Nein, wahrlich nicht. Und es muss Stuart Fitzroy gewesen sein, der diese Nachricht auf die Feldsteine geschrieben hat. Ja, nur er kommt in Frage! Denn außer meinem Vater und mir haben nur noch Jake Pembroke und er von der Höhle gewusst, in der wir Melvin damals vor den Patrouillen der Soldaten versteckt haben. Und da Jake neben meinem Vater begraben liegt, kann die Nachricht eigentlich nur von unserem schottischen Zimmermann kommen!«

»So könnte es sein«, pflichtete sie ihm bei.

Die Höhle, von der Andrew sprach, lag auf der anderen Seite des Hawkesbury, gute anderthalb Meilen weiter flussabwärts. Dort stieg das linke Buschufer an und ging in ein von Felsen durchsetztes Gelände über. An dieser Stelle fielen die fast klippenähnlichen Hänge sehr steil zum Hawkesbury ab und erreichten teilweise eine Höhe von über sechzig Fuß.

»Ich bin sicher, dass wir dort jede Menge Proviant und vieles andere finden werden. Wir haben damals ein ordentliches Lager angelegt, weil wir ja nicht wussten, wie lange Melvin gezwungen sein würde, sich dort versteckt zu halten«, sagte Andrew. »Bestimmt finden wir da auch eine Nachricht über den Verbleib von Sarah und Melvin und den anderen!«

Abby begab sich mit Andrew hinunter zum Bootssteg. Als sie entdeckte, dass die Soldaten sogar den Steg zerstört und in das dort vertäute Boot und die floßähnliche Fährplattform große Löcher geschlagen hatten, empfand sie eine Mischung aus Niedergeschlagenheit und ohnmächtigem Zorn. »Und was jetzt?«, fragte sie, denn den Fluss schwimmend zu überqueren, war bei der Strömung nicht ungefährlich.

»Verfluchtes Gesindel!«, stieß Andrew hasserfüllt hervor. »Aber keine Sorge, es gibt noch einen schmalen Kahn, den wir für solch einen Fall nicht weit von hier im Busch versteckt haben. Das ist der Kahn, den Melvin immer benutzt hat, wenn er manchmal nachts für ein paar Stunden zu uns nach Yulara geschlichen ist.«

Mit besorgter Miene blickte Abby über den Fluss. » Hoffentlich befindet er sich auch immer noch dort!« Und in Gedanken fügte sie hinzu: Sonst haben wir noch einen elend langen Fußmarsch bis zur nächsten Fährstelle vor uns!