Wie die aufgestauten Fluten, die hinter einem aufbrechenden Damm von allen Fesseln befreit hervorschießen, so machtvoll stürzte der Regen herab. Und der böige Wind, der das Unwetter begleitete, schlug ihnen die Schauer ins Gesicht. Fast blind taumelten sie durch die Gewitternacht.
Abby wagte nicht, daran zu denken, was ihnen drohte, wenn Andrew bei Einbruch der Dunkelheit von der richtigen Richtung abgekommen war und sie vielleicht meilenweit an Cardigan vorbei ins menschenleere Buschland wankten. Er beteuerte zwar, dass er sich an markanten Geländeformationen wie Hügeln und Baumgruppen orientierte und dass sie ihm nur vertrauen sollte, aber hätten sie dann die Farm der MacGuires nicht schon längst erreicht haben müssen? Und hatte sie nicht bei seiner letzten Beteuerung, auf dem richtigen Weg zu sein, aus seiner Stimme eine Spur von Selbstzweifel heraushören können?
Abby hatte mittlerweile jegliches Gefühl für die Zeit verloren. Sie wusste nicht, wie lange sie sich nun schon mit Stuart Fitzroy abschleppten. Die Nacht war an diesem Tag sehr viel früher als sonst hereingebrochen. Wie eine schmutzig graue Schieferplatte hatte sich die Wolkendecke schon bald nach ihrem Aufbruch von Horizont zu Horizont über den Himmel geschoben. Und dann hatte es nicht mehr lange gedauert, bis die herabstürzenden Regenfluten auch noch das letzte Tageslicht im Westen ausgelöscht hatten. Blitze, die von berstendem Donner wie aus schweren Geschützen begleitet wurden und die in grotesken Zickzackbahnen die regenverhangene Finsternis aufrissen, tauchten das Buschland immer wieder für Sekundenbruchteile in ein unwirkliches, gleißendes Licht.
Stuart Fitzroy bekam von all dem schon längst nichts mehr mit. Das unvermeidbare Geschaukel und Gerüttel eines solchen Transportes hatte die Schmerzen in seinem Bein immer stärker werden lassen, bis sie unerträglich geworden waren. Er hatte gewimmert und gefleht, ihn irgendwo liegen und sterben zu lassen. Und schließlich war er in eine tiefe Bewusstlosigkeit gefallen.
»Kannst du noch?«, rief Andrew ihr über die Schulter zu, als sie sich einem kleinen Eukalyptushain näherten. »Oder sollen wir noch eine Rast einlegen?«
Am liebsten hätte Abby die Trage mit dem ohnmächtigen Zimmermann einfach in den Schlamm gesetzt und sich achtlos daneben zu Boden fallen lassen. Ihr ganzer Körper schrie nach Erlösung von der Qual der Schlepperei. Die Muskeln in ihren Armen sowie ihre Schultern und ihr Nacken, wo der Tragegurt über die Haut scheuerte, brannten wie Feuer. Und ihr war, als steche ihr jemand bei jedem Schritt in die Beine, die sich zudem so schwer anfühlten, als wären sie mit Blei ausgegossen.
Aber sie widerstand der Versuchung, eine erneute Rast zu erbitten. Sie fürchtete nämlich, dann nicht mehr die Kraft und den Willen aufzubringen, wieder die Trage mit dem Verletzten aufzunehmen und den Marsch durch die regengepeitschte Nacht fortzusetzen.
»Nein, es geht… noch eine Weile!«, rief sie keuchend zurück, während der Regen Tränen der Erschöpfung von ihrem Gesicht wusch.
»Es kann jetzt auch nicht mehr weit sein ! «, versicherte Andrew, um ihr Mut zu machen. »Vertrau mir, Abby. Die Farm muss jeden Augenblick vor uns auftauchen. Wenn der dichte Regen nicht wäre, hätten wir bestimmt schon längst Lichter gesehen.«
Abby hatte keine Kraft zu einer Antwort. Wie eine Marionette setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Kopf sank ihr auf die Brust und sie zählte wieder ihre Schritte. Sie hatte jedoch nicht mehr wie zu Anfang die Ausdauer und Konzentration, bis hundert zu zählen. Bei zehn fing sie wieder von vorn an. Ihr Gehirn schien nur noch mit diesen zehn Zahlen gefüllt zu sein. Der Rest der Welt bestand bloß noch aus stechenden Schmerzen, schlammigem Boden, Regen und Nacht.
Plötzlich ging ein Ruck durch das Tragegestell.
Abby wäre fast gestolpert, als Andrew so unerwartet stehen blieb. Benommen hob sie den Kopf.
»Da drüben ist es! … Cardigan ! «, schrie Andrew und seine sich fast überschlagende Stimme verriet ungeheure Erlösung, aber auch Stolz darüber, sie trotz Dunkelheit und Unwetter richtig geführt zu haben. »Ich wusste doch, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Lichter dort kommen von der Farm der MacGuires, Abby! … Gleich haben wir es geschafft!«
»Dem Himmel sei Dank! «, stieß Abby beim Anblick der Lichter hervor. »Sehr viel länger hätte ich nicht mehr durchgehalten.«
Wenig später schleppten sie sich und die Trage mit Stuart Fitzroy in den Hof der MacGuire-Farm. Zwei Farmarbeiter, die mit nacktem Oberkörper auf dem offenbar undichten Dach der Stallungen Reparaturen ausführten, sahen sie kommen. Hastig kletterten sie die Leiter herunter. Und während einer von ihnen zum Wohnhaus hinüberlief, wohl um den MacGuires ihre Ankunft zu melden, kam ihnen der andere entgegen und wollte Abby die Trage abnehmen.
»Danke, aber… nach so vielen… Meilen schaffe ich die letzten … Schritte bis zum Haus … jetzt auch noch«, sagte Abby mit fliegendem Atem, aber doch sehr bestimmt.
Als sie das lang gestreckte Farmhaus erreichten und die Trage unter dem Vordach absetzten, drängten gerade die vier männlichen MacGuires, nämlich Thomas MacGuire mit seinen drei Söhnen Ethan, Matthew und Percy, durch die Tür auf die überdachte Veranda hinaus.
»Allmächtiger, das ist ja der junge Mister Chandler mit seiner Frau! «, stieß Thomas MacGuire völlig verblüfft hervor. Der Farmer war ein groß gewachsener und überaus gut aussehender Mann von Anfang fünfzig mit schon völlig weißem, aber noch vollem, dichtem Haar.
»Dass Sie noch am Leben sind, darauf hätte hier keiner auch nur einen Hammelschwanz gewettet, von Ihrer Frau ganz zu schweigen, Andrew!«, sagte Ethan mit freudiger Überraschung. Mit Ende zwanzig war er der Älteste der MacGuire-Söhne und seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
Die Miene des früh ergrauten Farmers wurde ernst. »Sie waren schon auf Yulara?«, fragte er vorsichtig.
Andrew nickte und streifte sich den Tragegurt von der Schulter. »Ja, und wir wissen, was dort vorgefallen ist. Aber das ist im Augenblick nicht wichtig, Mister MacGuire. Viel wichtiger ist, dass wir versuchen, Fitzroy hier das Leben zu retten«, sagte er und schlug die Segeltuchplane zurück, mit der sie den Zimmermann schützend abgedeckt hatten. »Wir haben ihn schwer verletzt unten am Hawkesbury gefunden und …«
»Sagen Sie bloß, Sie beide haben den Zimmermann bei dem Wetter den ganzen Weg vom Fluss hierher getragen?«, fiel der Farmer ihm ungläubig ins Wort.
Abby, die kraftlos auf die Stufen gesunken war und sich gegen das Geländer gelehnt hatte, lächelte nur stumm.
»Uns ist nichts anderes übrig geblieben«, antwortete Andrew trocken und berichtete mit kurzen, knappen Sätzen, was Fitzroy zugestoßen war und was es mit der Verletzung des Zimmermanns auf sich hatte. Die Höhle erwähnte er dabei jedoch mit keinem Wort, sondern sprach nur vage von einem Unterschlupf am Ufer, wo Stuart Fitzroy angeblich Schutz gefunden hatte.
Thomas MacGuire sah sich die Wunde sofort an und stimmte mit Andrew darin überein, dass das Bein noch in dieser Nacht amputiert werden musste. Andernfalls würde Stuart Fitzroy an Wundbrand sterben.
»Bis jemand nach Windsor geritten ist und den alten Timothy MacMaster geholt hat, den einzigen Knochenflicker im ganzen Bezirk, ist der Mann hier doch schon längst reif fürs Totenhemd !«, meldete sich da Percy schnodderig zu Wort. Mit seinen achtzehn Jahren war er der Jüngste der drei MacGuire-Söhne. Doch im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern Ethan und Matthew, die das männlich markante Aussehen ihres Vaters und auch dessen stattliche Gestalt geerbt hatten, war Percy mit seinem gedrungenen Körperbau und den merkwürdig unproportionierten Gesichtszügen sichtlich aus der Art geschlagen.
Thomas MacGuire fuhr herum und bedachte seinen Jüngsten mit einem aufgebrachten, zurechtweisenden Blick. »Deine dummen Bemerkungen sind hier völlig fehl am Platz, Percy! «, fauchte er ihn an. »Also halte gefälligst den Mund, wenn du schon nicht in der Lage bist, in einer ernsten Situation etwas Vernünftiges zu sagen!«
»Was ja nichts Neues ist«, bemerkte Ethan trocken. »Nicht wahr, Bruderherz?«
Matthew nickte dazu und verzog wie sein Bruder das Gesicht zu einer geringschätzigen Miene, sagte jedoch nichts.
»Mach dich nützlich und räum dein Zimmer für unsere Gäste !«, befahl Thomas MacGuire seinem jüngsten Sohn. »Und sag deiner Mutter, dass sie frisches Bettzeug herauslegen und jede Menge heißes Wasser bereithalten soll – für den Waschzuber und für die Amputation. Und die Frauen sollen sofort den Küchentisch freimachen. Na los, worauf wartest du noch? Das hier ist was für richtige Männer!«
Percy starrte seinen Vater mit hochrotem Gesicht und verkniffener Miene an. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte er ihm wutentbrannt Widerworte geben. Doch er ballte nur stumm die Fäuste, drehte sich abrupt um und ging ins Haus zurück. Wütend knallte er die Tür hinter sich zu.
Thomas MacGuire wandte sich seinem ältesten Sohn zu. »Hol Jeffrey Reed und sag ihm, er soll alles mitbringen, was er für eine Beinamputation braucht! «, trug er ihm auf, und als Ethan davoneilte, sagte er erklärend zu Andrew: »Wenn es bei uns auf Cardigan etwas zu schneiden gibt, dann übernimmt das immer Jeffrey Reed, unser Schmied. Sein Onkel oder sein Vater, so genau weiß ich es nicht mehr, war Knochenflicker in den Docks von Cardiff. Als Junge hat Jeffrey ihm oft zur Hand gehen müssen und dabei eine Menge mitgekriegt.« Er zuckte die Achseln. »Auf jeden Fall ist er der beste Mann, den wir für solche Fälle haben.«
Andrew nickte. »Bei diesem üblen Zustand«, er wies auf das brandige Bein, »ist auch keine Zeit mehr, um wählerisch zu sein. Das Bein muss ab, und zwar schnell. Notfalls hätte ich selbst zur Axt gegriffen.«
»Jeffrey macht das mit der Säge. Und er weiß gut damit umzugehen, Sie werden sehen! «, versicherte er und schenkte Abby ein väterlich wohlwollendes Lächeln. »Und jetzt kümmern Sie sich erst einmal um Ihre Frau. Dass sie den Überfall und so viele Wochen in der Wildnis überlebt hat, ist ein großartiges Wunder. Wir freuen uns alle mit Ihnen.« Er machte eine kurze Pause und räusperte sich. »Ach, und noch etwas …«
Andrew hob die Augenbrauen. »Ja?«
»Es ist entsetzlich, was auf Yulara geschehen ist. Mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihres Vaters! «, sagte der Farmer ernst und streckte ihm die Hand hin.
Andrew nickte stumm und die beiden Männer wechselten einen kurzen, aber kräftigen Händedruck.
»Jonathan Chandler war ein außergewöhnlicher Mann.«
»Das war er, in der Tat«, pflichtete Andrew ihm bei und Abby hörte aus seiner Stimme die Bitterkeit heraus, die Thomas MacGuire entging.
Der Farmer seufzte bedrückt. »Ich möchte nicht viele Worte darum machen, wie sehr mich, ja meine ganze Familie und alle hier auf Cardigan der Tod Ihres Vaters getroffen hat. Es ist eine Schande, was auf Yulara angeblich im Namen der Krone geschehen ist. Bitte betrachten Sie Cardigan so lange als Ihr eigenes Zuhause, wie Sie und Ihre Frau es für nötig erachten.«
Abby und Andrew dankten ihm für seine Gastfreundschaft. Dann rief Thomas MacGuire nach seiner Schwiegertochter Julia, der Frau seines ältesten Sohnes Ethan, und trug ihr auf, sich um Abby zu kümmern, was die junge Frau auch mit großer Herzlichkeit tat. Sie führte Abby, die sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnte, in die Waschküche, füllte ihr den großen Bottich mit warmem Wasser und brachte ihr nach dem gründlichen Bad saubere Leibwäsche und ein hübsches Kleid aus geblümtem Kattun. Denn ihre eigenen Sachen taugten bestenfalls noch als Putzlappen.
Wie dankbar war sie auch dafür, dass die Waschkammer nicht unmittelbar an die Küche grenzte, wo zur selben Zeit Stuart Fitzroy unter der Säge des Schmieds sein linkes Bein verlor! Sie versuchte krampfhaft, nicht an das grausige Geschehen zu denken, das sich dort auf dem Küchentisch abspielte. Und obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass es nicht möglich war, glaubte sie doch, genau hören zu können, wie sich das blutige Sägeblatt durch Sehnen, Fleisch und Knochen fraß.
Als Julia sie nach dem Bad in den kleinen Raum führte, den man in der Zwischenzeit für sie und Andrew hergerichtet hatte, begegnete sie Percy im Flur.
Sie wollte sich bei ihm dafür bedanken, dass sie für die Dauer ihres Aufenthaltes auf Cardigan sein Zimmer haben durften. Doch Percy beachtete sie überhaupt nicht. Er tat, als hörte er sie gar nicht, und ging mit verbissener Miene einfach weiter.
»Nehmen Sie das nur nicht persönlich, Abby«, sagte Julia verlegen. »Mein jüngster Schwager hat manchmal seltsame Anwandlungen.«
Abby war auch viel zu müde, um sich Percys Unfreundlichkeit zu Herzen zu nehmen und sich dafür schuldig zu fühlen, dass er sein Zimmer für sie hatte räumen müssen. Sie wollte nichts als sich ausstrecken und schlafen. Julia konnte sie nicht einmal mit einer herzhaften Mahlzeit locken. Das Einzige, was Abby noch zu sich nahm, war ein Becher mit heißem Tee. Dann löschte sie die Kerze neben ihrem Bett, sank in die Kissen, denen der typische Mentholduft von frischen Eukalyptusblättern entströmte, und war Augenblicke später schon eingeschlafen.
Sie erwachte kurz, als Andrew zu ihr ins Bett kam. »Das Bein ist ab. Dieser Jeffrey Reed hat das wirklich ordentlich gemacht, soweit ich so was beurteilen kann.«
»Und wie geht es Fitzroy?«, fragte Abby schläfrig. »Wird er durchkommen ?«
»Mister MacGuire und Jeffrey Reed meinen, dass es davon abhängt, wie gut er den starken Blutverlust bei der Amputation verkraftet hat. Rosig sieht es bestimmt nicht für ihn aus, aber jetzt hat er zumindest eine Chance zu überleben«, antwortete Andrew nüchtern und streckte sich mit einem unterdrückten Stöhnen neben ihr aus. Auch ihn schmerzten alle Glieder.
Abby schmiegte sich an ihn und tastete im Dunkel nach seiner Hand. »Und was wird jetzt aus uns?«, fragte sie leise.
Seine Antwort ließ lange auf sich warten. »Ich weiß es nicht«, gab Andrew schließlich ebenso leise zurück, als wagte er nicht, seine Ratlosigkeit laut auszusprechen. »Aber irgendwie wird es schon weitergehen.«
»Ach, irgendwie«, flüsterte Abby beklommen und presste sich noch näher an ihn, während der Regen weiterhin mit unverminderter Heftigkeit auf das Dach über ihnen trommelte.