Sechstes Kapitel

Sie schlief schlecht in dieser Nacht und wachte immer wieder auf. Ebenso verstört wie empört grübelte sie in den frühen Morgenstunden darüber nach, was wohl in Percy gefahren sein mochte, dass er sich solche unverschämten Übergriffe erlaubte? Jetzt erinnerte sie sich auch wieder an seine allzu innige Umarmung und an seinen Mund an ihrem Hals, als sich auf dem Damm alle vor Erlösung in die Arme gefallen waren. Und viele andere, scheinbar harmlose Vorfälle, die sie für einen normalen Ausdruck von Freundlichkeit gehalten hatte, bekamen im Licht seiner letzten Unverfrorenheit auf einmal ein völlig neues Gesicht.

Sie musste der Tatsache ins Auge sehen, dass Percy sich ihr gegenüber völlig verändert benahm und ständig ihre Nähe suchte, seit Andrew Cardigan verlassen hatte. Es schien, als hätte er ganz vergessen, dass sie glücklich verheiratet und in anderen Umständen war – oder als würde er einen Dreck darum geben! Beides war gleichermaßen bestürzend.

Abby wusste, dass Percy jeden Morgen, noch bevor der Hahn krähte und die Arbeit auf der Farm begann, zuerst zu seinen Pferden ging. Deshalb schlich sie schon beim ersten schwachen Licht des neuen Tages hinüber in die Stallung und passte ihn dort ab. Aus Rücksicht auf seine Eltern wollte sie ihn unter vier Augen zur Rede stellen.

Als Percy kurz nach ihr in den Pferdestall kam und sie dort auf einer Haferkiste sitzen sah, hielt sich seine Überraschung sehr in Grenzen. Und statt Zerknirschung zu zeigen und sich für sein unmögliches Verhalten in der Nacht zuvor zu entschuldigen, begrüßte er sie mit der anzüglichen Frage: »Na, hast du auch so schöne Träume gehabt wie ich?«

»Lass dein dummes Geschwätz, Percy! «, fuhr Abby ihn wütend an und sprang von der Kiste. »Du kannst heilfroh sein, dass ich mich gestern beherrscht und dich nicht vor deiner Familie zur Rede gestellt habe!«

Er zog in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen hoch. »Ach, wirklich? Ich weiß überhaupt nicht, weshalb du mich denn zur Rede hättest stellen können.«

»Du weißt genau, wovon ich rede!«

»So, wovon denn?«

»Von der Unverschämtheit, die du dir herausgenommen hast, indem du ungebeten in mein Zimmer gekommen bist und … und mich geküsst hast! Du musst wirklich von allen guten Geistern verlassen gewesen sein! «, fauchte sie.

Percy antwortete auf ihre Empörung mit einem dreisten Grinsen. »Was machst du so ein Theater, mein Schatz? Gib doch zu, dass es dir gefallen hat, wie ich dich geküsst habe!«

Abby glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. Das Blut stieg ihr nun vor wütender Entrüstung ins Gesicht. »Ich bin nicht dein Schatz, Percy! Ich bin glücklich mit Andrew verheiratet und verbitte mir deine widerlichen Zudringlichkeiten! «, herrschte sie ihn an, griff in die Tasche ihres Kleides und warf ihm seinen Kamm vor die Füße. »Hier hast du dein Geschenk zurück! Für dich bin ich fortan Missis Chandler, hast du verstanden? Und wage es bloß nicht noch einmal, mir zu nahe zu kommen!«

»Ach nein! Und was geschieht dann, mein Schatz?«, verhöhnte er sie.

»Dann bleibt das alles nicht mehr unter uns. Und ich wette, dass dein Vater dich nicht so glimpflich davonkommen lässt wie ich, wenn er hört, dass du mir nachstellst und mich auf unverschämte Weise belästigst! Und wenn ich erst Andrew davon erzähle …«

»Spar dir deinen Atem, Schätzchen!«, fiel er ihr mit einem überheblichen Grinsen ins Wort und kam auf sie zu. »Du wirst dich hüten, auch nur ein Sterbenswörtchen von unserem kleinen Techtelmechtel zu irgendeinem zu sagen.«

»Es gibt nichts zwischen uns! «, erwiderte Abby in heftiger Erregung und wich vor ihm zurück. »Du musst nicht ganz bei Trost sein, dir so etwas Schwachsinniges einzubilden!«

»Ja, wirklich?« Percy hob die Hand und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige.

Sie schrie auf, mehr vor Fassungslosigkeit als vor Schmerz, und taumelte gegen die Rückwand von einer der Pferdeboxen. »Du bist wirklich verrückt! «, stieß sie hervor und hielt sich die brennende Wange.

Und noch bevor sie vor ihm die Flucht ergreifen konnte, war er schon bei ihr. Er legte ihr seinen Arm über die Brust und presste sie damit gegen die Bretterwand, während seine Rechte ihr Kleid hochzerrte und zwischen ihre Schenkel fuhr. »Hör endlich auf, die gesittete junge Siedlerfrau zu spielen! «, zischte er und kam ihr mit seinem Gesicht ganz nahe. »Damit kannst du mich nicht täuschen, Schätzchen. Man hat dich nicht ohne Grund nach Australien verbannt. Frauen von deiner Sorte sind doch alles Huren, die für jeden willig die Röcke heben! Das weiß doch jeder. Also tu nicht so, als kämest du aus einem tugendsamen Mädchenpensionat!«

»Nimm deine Hände weg! Lass mich sofort los oder du wirst es bitter bereuen! «, keuchte Abby.

»Ja? Was du nicht sagst! Ich sehe das ganz anders, nämlich dass die Karten für dich gar nicht gut aussehen, wenn ich allen erzähle, dass du mir bei jeder Gelegenheit schöne Augen machst, seit dein Andrew auf und davon ist, und dass du mich schon mehrfach in eine dunkle Ecke gezogen hast, um mich zu küssen und mir deinen Körper anzubieten«, erwiderte er hämisch. »Rate mal, wem sie dann mehr glauben werden: einem verbannten Flittchen oder einem unbescholtenen Gentleman wie mir?«

Die Drohung erschreckte Abby tatsächlich, konnte sie doch nicht ausschließen, dass man ihm tatsächlich mehr Glauben schenkte als ihr. Denn auch als Frau von Andrew Chandler haftete noch immer der Makel des Sträflings an ihr.

Percy lachte triumphierend auf, als er Angst und Hilflosigkeit in ihren Augen las. »Jetzt hast du wohl endlich kapiert, wer hier die Trümpfe in der Hand hält, mein Schatz. Also hör verdammt noch mal auf, die fromme Unschuld zu spielen und dich zu zieren. Wir können eine Menge Spaß miteinander haben, bis dein Mann zurück ist. Und da du ein Balg erwartest, hast du ja auch sonst nichts zu befürchten.«

Der Angstschweiß brach ihr aus allen Poren und ihr Herz begann zu rasen. Was sollte sie jetzt bloß tun? Wie konnte sie ihm nur entfliehen?

»Nun komm schon! «, drängte er mit lüsterner Stimme, packte sie am Arm und wollte sie in eine leere Box ziehen.

In dem Moment klappte die Stalltür, gefolgt von schweren Stiefelschritten, und das war ihre Rettung. Geistesgegenwärtig sagte sie mit lauter Stimme: »Danke für dein Angebot, Percy, aber in meinem Zustand sollte ich auf einen Ausritt wohl besser verzichten. So, und jetzt muss ich hinüber in die Küche!«

Percy gab sie augenblicklich frei, trat von ihr zurück und nahm eine unverfängliche Haltung ein. »Glaub ja nicht, dass du damit aus dem Schneider bist!«, zischte er grimmig. »Ich werde dir nachher sagen, wo du dich einzufinden hast, damit wir ungestört unseren Spaß haben können!«

Abby zwang sich zu einem falschen Lächeln, als sie Percys ältesten Bruder im Mittelgang auftauchen sah. »Ich werde deine besonderen Wünsche an deine Mutter weitergeben«, antwortete sie doppeldeutig. Dann wandte sie sich an Ethan und wünschte ihm einen schönen Morgen.

Dieser erwiderte den Gruß mit gerunzelter Stirn.

Abby beeilte sich, dass sie aus dem Stall kam. Ein Schauer lief ihr durch den Körper, als sie unter freiem Himmel stand und daran dachte, wie knapp sie gerade einer Vergewaltigung durch Percy entkommen war.