Dreizehntes Kapitel

Cleo sah zum Fürchten aus. Die schweren Blutergüsse in ihrem noch immer stark verquollenen Gesicht hatten sich von einer schwarzblauen Färbung zu einem schmutzigen Grün mit Spuren von Gelb verwandelt. Eine breite Platzwunde, von einer dicken Schicht Schorf bedeckt, zog sich von ihrer linken Augenbraue schräg über die Stirn und reichte bis in die Haare hinein. Ihre Unterlippe war ebenfalls von einem schweren Schlag gezeichnet, der sie wohl auch die faulen Zähne auf der rechten Seite ihres Unterkiefers gekostet hatte. Und ihr linkes Bein steckte in einem blutgetränkten Verband, der von der Ferse bis hoch zum Oberschenkel reichte.

Gestützt auf eine einfache Krücke mit einem Unterarmholz, das als Polsterung mit dreckigen Lappenresten umwickelt war, humpelte Cleo in den Kerker, kaum dass sie vom Eintreffen der Hebamme Eugenia Sutherland erfahren hatte.

»Ah, endlich kommt das Kind, das wir schon alle sehnlichst erwarten«, sagte sie mit bösartiger Doppeldeutigkeit zu Abby und blickte grinsend auf sie hinunter. »Ich hoffe, es ist ein kräftiges Kind, auf dass es dich ordentlich aufreißt. Ich habe mir sagen lassen …«

»Lassen Sie dieses dumme Gerede und sorgen Sie besser dafür, dass ich genügend heißes Wasser und saubere Tücher zur Hand habe!«, fiel ihr die Hebamme ungehalten ins Wort. »Und ich brauche mehr Licht! Eine Schande, dass eine Frau in solch einem Loch ihr Kind zur Welt bringen muss!«

Diesen respektlosen Ton war Cleo nun ganz und gar nicht gewohnt. Nach einem ersten Moment der Verblüffung wollte sie sich mit der Hebamme anlegen und sie wie ein dummes Dienstmädchen herumkommandieren. Doch da war sie an die falsche Adresse geraten!

Eugenia Sutherland war eine große, kräftige und resolute Frau in den Fünfzigern, die ebenso viel auf ihre makellose Erscheinung wie auf ihren guten Ruf als zuverlässige und erfahrene Geburtshelferin achtete. Sie war als Ehefrau des Schiffsoffiziers Charles Sutherland nach New South Wales gekommen, der nach jahrzehntelangem Dienst Abschied von der Handelsmarine genommen hatte, um sich mit seiner Frau in der jungen Kolonie niederzulassen. Seine bescheidenen Ersparnisse investierte er in ein Geschäft für Schiffszubehör aller Art am Hafen. Doch schon acht Monate nach ihrer Ankunft in Sydney trug Eugenia ihren Mann, der zeit seines Lebens nie einen Tag krank gewesen war, zu Grabe. Ein tödlicher Schlaganfall hatte ihn von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen, als er eines Morgens voller Stolz vor sein Geschäft getreten war und die Schiffe in der Bucht bewundert hatte.

Das war vor mehr als vier Jahren gewesen. Eugenia Sutherland hatte erst nach England zurückkehren wollen, war dann jedoch in Sydney geblieben. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie über ein Jahr lang allein und erfolgreich das Geschäft weitergeführt, bis sie schließlich einen vertrauenswürdigen Partner gefunden hatte. Danach hatte sie wieder ihre einstige Tätigkeit als Hebamme aufgenommen.

Dass Eugenia Sutherland sich bereit erklärt hatte, einer Frau im Gefängnis bei der Niederkunft beizustehen, hatte angeblich Lucinda arrangiert. In Wirklichkeit war es das Verdienst von Frederick Burke, der als Schiffsausrüster in derselben Branche tätig und dessen Frau gut mit Eugenia Sutherland befreundet war. Dass er schon mehrfach vergeblich versucht hatte, ihr das Geschäft abzukaufen, tat der Freundschaft und der gegenseitigen Wertschätzung keinen Abbruch.

Von all dem hatte Cleo nicht den Schimmer einer Ahnung. Sie wusste nur, dass sie diese Frau mit dem eisgrauen, straff zurückgekämmten Haar nicht ausstehen konnte. Sie hielt das Gefängnis für ihr Reich, wo allein ihr Wort und das ihres Mannes galten. Das Selbstbewusstsein der Hebamme, die ihr doch wahrhaftig die Stirn zu bieten wagte, brachte sie daher in Rage.

Aber Cleos Großmäuligkeit und Selbstgefälligkeit machten auf Eugenia Sutherland nicht den geringsten Eindruck. Im Gegenteil.

»Haben Sie nicht gehört, was ich gerade gesagt habe? Sie können sich Ihre Kommentare sparen, Missis Patterson! Für mich ist offensichtlich, dass Sie so viel vom Geburtsvorgang verstehen wie ein Ochse vom Segelsetzen! Deshalb noch einmal für Ihre tauben Ohren: Es wird noch mehrere Stunden dauern, bis das Kind kommt. Also gehen Sie endlich! Sie stehen hier sowieso nur im Weg!«, sagte die Hebamme.

»Und Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie es zu tun haben!«, blaffte Cleo auffahrend zurück. »In diesen Mauern haben wir das Sagen!« Sie deutete mit einer herrischen Geste auf ihren einäugigen, dürren Mann, der hinter ihr in der Tür stand und ein verdrossenes Gesicht machte, wobei nicht eindeutig zu erkennen war, über wen er sich mehr ärgerte – über die Hebamme oder über seine Frau.

»Verkrampf dich nicht. Schön ruhig und gleichmäßig atmen und auf die Kontraktionen achten«, sagte Eugenia Sutherland zu Abby, trocknete sich die Hände an einem Tuch ab, drehte sich zu Cleo um und richtete sich aufreizend langsam zu ihrer vollen Größe auf. »Und wissen Sie, was man hier in der Kolonie einen ›Exklusiven‹ nennt?«, fragte sie mit einer Stimme, die so scharf wie geschliffener Stahl durch den Raum schnitt.

Es war nur eine rhetorische Frage, denn jeder wusste, dass sich die Gesellschaft in der Kolonie in drei Gruppen teilte. Auf der untersten Ebene standen die rechtlosen Sträflinge. Über ihnen standen jene Sträflinge, die ihre Strafe verbüßt hatten oder begnadigt worden waren und »Emanzipisten« hießen. Die Oberschicht bildeten die freien Siedler, insbesondere die Großfarmer und Händler unter ihnen, die sich neuerdings immer öfter die »Exklusiven« nannten und sozusagen den Adel der Strafkolonie bildeten. Die Soldaten des Rum Corps waren zwar ebenfalls Freie, aber wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Armeeeinheit, die ausschließlich zur Bewachung von Sträflingen aufgestellt worden war, genossen sie nicht dasselbe Ansehen wie die zivilen Exklusiven.

Und noch bevor Cleo sich von ihrer Verblüffung erholen und eine Antwort geben konnte, fuhr Eugenia Sutherland auch schon mit unverändert schneidender Stimme fort: »Man zählt mich zu diesen Exklusiven, so wie man auch meinen seligen Mann, den einstigen Ersten Offizier der HMS Batavia und Gründer des renommierten Sydneyer Geschäftes Sutherland’s Ship Chandlery, dazugezählt hat. Und zu welcher Art von Einwanderer gehören Sie, wenn Sie mir diese Frage erlauben, Missis Patterson?«

Die rote Glut der Wut ob dieser demütigenden Zurechtweisung schoss Cleo ins Gesicht, denn jeder im Kerker wusste die Antwort auf die Frage der Hebamme. »Das geht Sie einen feuchten Dreck an!«, zischte Cleo schließlich.

Eugenia Sutherland lächelte, doch es war ein bedrohlich kaltes und gefährliches Lächeln. »Ich habe nicht nur der Frau von Captain Grenville das Leben gerettet, als sie nach einem schweren Sturz eine Fehlgeburt gehabt hat und um ein Haar verblutet wäre, sondern ich habe auch die Zwillinge von Alice Morgan-Hunter, der jungen Frau von Major Morgan-Hunter, gesund zur Welt gebracht«, antwortete sie, scheinbar ohne auf Cleos Beleidigung einzugehen. »In beiden Häusern erfreue ich mich großer Beliebtheit, wie Sie sich vielleicht vorstellen können, Missis Patterson.« Sie machte eine kurze Pause. »Deshalb wird es mir auch nicht viel Mühe bereiten, dafür zu sorgen…«, und nun fielen ihre Worte wie Schläge mit der Neunschwänzigen auf Cleo nieder, »… dass man Sie ans Dreibein bindet und Ihrem dreckigen Mundwerk mit einem oder auch zwei Dutzend Peitschenhieben die einzig passende Antwort erteilt – bevor man Sie und Ihren Mann zum Teufel jagt!«

Cleo riss die verquollenen Augen auf und wurde blass unter all den vielfarbigen Blutergüssen. Denn sie spürte, dass Eugenia Sutherland es mit ihrer Drohung ernst meinte – und wohl auch über den notwendigen Einfluss verfügte, um sie in die Tat umzusetzen.

Auch ihrem Mann sackte das Blut vor Schreck aus dem Gesicht. Einen Augenblick herrschte bestürztes Schweigen. Dann stieß er mit rauer Stimme hervor: »Ich denke, du gehst besser, Weib!«

Eugenia Sutherland wandte Cleo und Winston Patterson den Rücken zu, so wie man Dienstboten zu verstehen gibt, dass sie nicht mehr gebraucht werden und sich zu entfernen haben. »So lange das Kind nicht auf der Welt ist, will ich diese Frau hier weder hören noch sehen!«, sagte sie, nun wieder mit völlig ruhiger Stimme. Doch ein scharfer Befehl von Captain Grenville persönlich hätte kaum wirkungsvoller sein können. Alle hier wussten nun, mit wem sie es zu tun hatten.

Abby lächelte dankbar, als die Hebamme sich wieder zu ihr hinunterbeugte. Diese schenkte jedoch auch ihr einen kühlen Blick. »Und du bilde dir bloß nichts darauf ein, dass ich mich mit ihr angelegt habe! Ich habe das nicht aus Mitleid mit dir getan, sondern weil mir das unschuldige Kind am Herzen liegt.«

»Das ist schon mehr als genug«, antwortete Abby. Denn sie wusste nun, dass sie und ihr Baby sich bei Eugenia Sutherland in den allerbesten Händen befanden.