Iris ahnte, wie übermächtig Roses Enttäuschung nach Nicos Geständnis war und wie verletzt sie sich in diesem Moment fühlen musste, war ihre eigene Ehe doch auch an einer Lüge gescheitert – Christian hatte sie zunächst glauben lassen, ihren Traum von einer Familie mit Kindern zu teilen. Doch als herauskam, dass er zeugungsunfähig war, bekannte er, auch gut ohne Kinder leben zu können, war gegen die Adoption der kleinen Jasmin und forderte, sie solle ohne das Kind zu ihm zurückkehren. Ebenso hätte er verlangen können, Iris solle aufhören zu atmen.
Doch Roses Kurzschlussreaktion fand Iris übereilt. In den letzten Wochen hatte sie den Eindruck gewonnen, dass Rose und Nico sich ehrlich und innig liebten, und obwohl Nicos Versäumnis schwerwiegend war, hätte sie selbst die Hochzeit nicht im ersten Zorn abgesagt, sondern erst das Gespräch gesucht. Einen endgültigen Bruch, im Affekt herbeigeführt, würde Rose später vielleicht bereuen.
Aber nun war es nicht mehr zu ändern, und Iris wollte versuchen, ihre Schwester zu trösten, ihr beizustehen und zu tun, was immer auch nötig war.
Mit einem Stück Anatorte, das von Annemaries Geburtstag übrig geblieben war, klopfte sie an Roses Tür.
»Geh weg«, kam die tränenerstickte Antwort.
»Ich bin es, Iris.« Sie drückte die Klinke hinunter. Die Tür war abgeschlossen. Sie klopfte erneut. Keine Reaktion.
»Okay, dann stelle ich dir den Kuchen vor die Tür.«
Zehn Sekunden später hörte Iris Schritte, dann öffnete sich die Tür, und Rose spähte mit verheulten Augen durch den Spalt.
Iris hielt ihrer Schwester den Teller hin. »Das letzte Stück von Annemaries Geburtstagstorte für dich.«
Rose blickte sie traurig an, nahm ihr den Kuchen aus der Hand und drehte sich wortlos um.
Iris trat ein, schloss die Tür und musterte den Raum. Sie hatte die Zusammenlegung und den Umbau ihrer beider Zimmer natürlich mitbekommen und auch das fertige Ergebnis bewundert. Aber seit Rose und Nico den Raum gemeinsam bewohnten, war sie nicht mehr hier gewesen.
Das elegante Boxspringbett, bezogen mit hellgrauem Samt, einem gepolsterten Rückenteil und zahlreichen Kissen in grauen und zarten Pastelltönen, war das schönste Möbelstück im Raum, ohne zu dominant zu wirken. Seitlich des Bettes stand ein weiß lackierter 50er-Jahre-Frisiertisch mit dreiteiligem Spiegel, dekoriert mit einer Batterie Parfümflakons. Zwischen den beiden Fenstern waren ein dunkelbrauner Bistrotisch und zwei Bugholzstühle platziert, die an ein Wiener Kaffeehaus erinnerten. Dort konnte man als junges Paar frühstücken und die Mahlzeiten einnehmen, wenn man keine Lust auf Familie hatte.
Iris setzte sich neben Rose aufs Bett und betrachtete die Schwester möglichst unauffällig. Roses Augen waren geschwollen, der Hals voller roter Flecken, und die Hand mit dem Kuchenteller zitterte leicht. Ein Bild zum Erbarmen.
»Echt gemütlich«, sagte Iris und testete die Federung mit einem kleinen Hopser, tat so, als wollte sie nur ein wenig plaudern. »Vielleicht sollte ich mir auch so eins anschaffen.«
»Das kannst du nicht machen! Die Einrichtung in deinem Zimmer ist doch Violas Vermächtnis. Das Einzige, was Jasmin von ihrer leiblichen Mutter bleibt.« Rose sprach unerwartet heftig, beinahe aggressiv. »Viola hat doch alles noch vor der Geburt ausgesucht …« Sie stockte, zog kurz die Nase hoch und murmelte: »Wir König-Schwestern haben einfach kein Glück in der Liebe. Was ich schon vor langer Zeit gesagt habe: Wir sind verflucht … jawohl … verflucht.« Mit wenigen Bissen verputzte sie den Kuchen, als hätte sie den ganzen Tag nichts gegessen.
Iris amüsierte sich insgeheim. Roses Appetit hatte offensichtlich nicht unter dem Verlobungsdrama gelitten. Gewiss würde alles wieder gut werden. Sie selbst würde einfach hier sitzen bleiben und abwarten, bis Rose bereit war, darüber zu reden.
Rose kratzte die letzten Reste Buttercreme mit der Kuchengabel zusammen. »Hast du Jasmin allein gelassen?«
»Ich würde sie niemals allein im Zimmer lassen, auch wenn sie inzwischen schon über ein Jahr alt ist. Fritz ist bei ihr, ich habe ihn gebeten, noch ein wenig zu bleiben.«
Rose stellte den Kuchenteller auf dem verspiegelten Nachttisch neben dem Bett ab. »Mit dem hast du einen tollen Fang gemacht. Er liebt dich wirklich. Du solltest ihn heiraten.«
»Noch bin ich nicht geschieden. Aber mit Fritz habe ich wirklich großes Glück gehabt. Deshalb finde ich auch nicht, dass wir verflucht sind. Und Nico …«
»Lass mich bitte mit ihm in Ruhe«, erwiderte Rose ermattet.
Regen trommelte ans Fenster. Iris schauderte. »Puh, was für ein Novembersturm! Den möchte man nicht auf der Straße erleben, aber vom Bett aus hat er fast etwas Romantisches.«
»Na, ich weiß nicht.« Rose erhob sich und ging zum Kleiderschrank, der bündig von Wand zu Wand gebaut war und angenehm wenig Platz einnahm.
Iris dachte, ihre Schwester wollte sich etwas Bequemeres anziehen, erkannte aber gleich darauf, dass sie falschlag.
Mit Tränen in den Augen öffnete Rose die Schranktüren, nahm die Kleiderbügel mit Nicos Anzügen, Hemden und Hosen heraus und legte alles auf den Parkettboden. Es folgten Krawatten, Unterwäsche, Socken, Schuhe.
Offensichtlich wollte Rose alles entfernen, was mit Nico zu tun hatte. Der Versuch, sie zu stoppen, hätte wenig Erfolg gehabt, Iris kannte ihre Schwester gut genug. Schon als Teenager hatte sie aus Enttäuschung über vermeintlich ungerechte Noten ihre Schulhefte vernichtet. Aber Iris wusste auch, dass man in solch einer Verfassung oft Dinge tat, die einem am nächsten Tag leidtaten. Also versuchte sie, irgendwie zu Rose durchzudringen:
»Das Rasierzeug im Bad und die gerahmten Fotos auf der Frisierkommode musst du dann wohl auch dazulegen. Damit gehen dann halt jede Menge glücklicher Erinnerungen den Bach runter. Schade eigentlich, findest du nicht? Ich hatte immer den Eindruck, dass Nico dich ehrlich und aufrichtig liebt. Jenseits von allen geschäftlichen Interessen.«
Rose war ins Schwitzen geraten, unterbrach ihre Ausräumaktion und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Besser jetzt, als nach der Hochzeit festzustellen, mit einem Heuchler im Bett zu liegen. Wenn ich daran denke, dass wir keine Gütertrennung vereinbart haben, wird mir schlecht. Da bin ich gerade noch mal mit einem blauen Auge davongekommen. Du hast seinen Vater doch gehört. Er hat ja sogar noch gesagt, dass wir uns eines Tages vielleicht doch noch handelseinig werden. Darum geht es der Familie. Um nichts sonst.«
»Ich finde, du übertreibst, denn im Grunde hat Nico nicht im wörtlichen Sinn gelogen, er hat dir nur etwas verschwiegen«, versuchte Iris, die Schwester zu beschwichtigen.
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?« Aufgebracht blitzte Rose sie an. Sie griff nach dem Kleiderberg, marschierte damit zum Kaffeehaustisch am Fenster, legte die Sachen darauf ab und öffnete das Fenster. Ein eisiger Windstoß trieb nasse Herbstblätter herein und bauschte die moosgrünen Vorhänge auf.
»Um Himmels willen, Rose, was hast du vor?« Iris rutschte vom Bett und war mit drei Schritten bei ihrer Schwester. Während Rose die Sachen erneut zusammenraffte, gelang es Iris, das Fenster wieder zu schließen. »Du benimmst dich wie ein dramatischer Teenager! Das ist pubertär. Morgen wirst du deine Unbeherrschtheit bereuen.«
Rose ließ das Kleiderbündel fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hast du auf Psychologin umgeschult?«
Iris stemmte die Fäuste in die Hüften. »Nein, aber ich habe das alles auch durchgemacht! Ich weiß, nach der Wut kommen die Tränen, und als Nächstes bedauert man, auch die schönen Erinnerungen vernichtet zu haben.« Momentan fielen ihr zwar kaum positive Erinnerungen an ihre Ehe mit Christian ein, aber immerhin das erste Jahr war wunderschön gewesen.
»Wenn ich mich wie ein dramatischer Teenager verhalte, dann ist es eben so. Ich kann es nicht ändern. Wenn ich daran denke, mit welchen Hintergedanken Nico die Beziehung mit mir eingegangen ist, kann ich nichts Schönes mehr empfinden.«
»Andere Frage: Wie hättest du reagiert, wenn er dir bei seinem Heiratsantrag die Wahrheit gestanden hätte?«
Rose zuckte resigniert mit den Schultern, drehte sich um und ging ins Bad. Unter dem leisen Rauschen des Wassers erwiderte sie: »Das tut jetzt nichts mehr zur Sache.«
Iris war am Ende mit ihrer Weisheit. Es gelang ihr einfach nicht, zu Rose durchzudringen. Sie beschloss, es für heute gut sein zu lassen. »Wie du meinst. Dann geh ich jetzt mal wieder. Wenn du etwas brauchst – du weißt, wo du mich findest. Versuch zu schlafen, morgen sieht die Welt vielleicht nicht mehr ganz so schwarz aus.« Sie verließ das Zimmer und schloss leise die Tür.
Arme Rose, dachte sie auf dem kurzen Weg zu ihrem Zimmer. Wie gern hätte sie ihrer Schwester einen brauchbaren Rat erteilt, aber sie schien gegen jegliche Hilfe immun zu sein. Zumindest heute Abend.
Iris atmete noch einmal tief durch, bevor sie ihr Zimmer betrat, das Viola damals für sich und Jasmin eingerichtet hatte. Das geflochtene Rattanbett in der dunkleren Ecke, von dem aus man den gesamten Raum im Blick hatte. Das weich gepolsterte Sofa aus grünem Samt, den hellen Kelimteppich mit floralem Muster, darauf ein ovaler Tisch und zwei Korbsessel mit dicken Polsterkissen. Die hohe Kommode, auf der Jasmin gewickelt wurde und in deren Schubladen ihre Kleidung und die Spielsachen verstaut waren. Alles war harmonisch aufeinander abgestimmt.
Im schummrigen Lichtschein einer gedimmten Tischlampe spazierte Fritz mit Jasmin auf dem Arm durch den Raum und streichelte dabei sanft über ihren Rücken. Würde er sie jemals bitten, sie zu heiraten, sie würde mit Freuden Ja sagen, dachte Iris voller Zärtlichkeit.
Als Fritz sie bemerkte, blieb er stehen. »Hallo, mein Schatz.«
Iris ging zu ihm. »Danke, dass du da bist.« Sie streckte sich ein wenig, um ihn auf den Mund küssen zu können. »Ist Jasmin wach geworden?«
»Sie hat leise geweint, es war aber wohl nur ein Albtraum, sie hat sofort aufgehört, als ich sie auf den Arm genommen habe. Ich denke, sie ist inzwischen tief genug eingeschlafen, dass ich sie wieder hinlegen kann.«
»Du bist der liebevollste Babysitter der Welt«, flüsterte Iris, nachdem Jasmin im Gitterbett lag und Fritz sie umarmte.
»Wenn das so ist, würde ich mich nicht gegen eine Belohnung wehren«, scherzte er dicht an ihrem Ohr und schob sie dabei vorsichtig in Richtung Bett.
Iris spürte, wie sein keuchender Atem sie erregte. »Aber wir müssen leise sein.«
Fritz knabberte an ihrem Ohr, und dann wanderten seine Küsse zu ihrem Hals. »Leise Leidenschaft kann ich gut«, raunte er, als sie auf die Kissen sanken.
Wir brauchen ein eigenes Zimmer für Jasmin, dachte Iris, während Fritz sie sanft auszog. Gleich darauf erzitterte sie unter seinen Liebkosungen, fühlte seine Hände auf ihrer nackten Haut und vergaß alles um sich herum.
Später lagen sie eng aneinandergeschmiegt im Halbdunkeln. Iris musste sich manchmal kneifen, um zu spüren, dass sie nicht träumte. Die Adoption war offiziell beglaubigt, sie und Fritz hatten einander ihre Liebe gestanden, und es schien, als könnte sich ihr Traum von einer eigenen Familie eines Tages doch noch erfüllen.
»Nach dieser bemerkenswerten Szene vorhin möchte ich dir versprechen, dass ich dich niemals belügen würde«, sagte Fritz leise.
Iris kuschelte sich in seine Armkuhle. »Ich weiß, und auch dafür liebe ich dich. Aber ich schätze, du hast mir auch keinen Immobilienkonzern zu verschweigen.«
Fritz zog die Bettdecke über sie beide. »Dann würde ich längst nicht mehr in der Redaktion schuften, sondern den Roman verfassen, den ich schon in der Schule habe schreiben wollen. Im Moment sieht es aber leider nicht so aus, als würde dieser Traum jemals wahr werden.«
Iris erinnerte sich spontan an die Zeit, als sie sich vergeblich nach einem Kind gesehnt hatte. Niemand wusste besser als sie, dass auch unrealistische Träume wahr werden konnten. »Du solltest die Hoffnung nicht aufgeben. Eines Tages wird es so weit sein, und dann melde ich mich als Testleserin.«
»Ist notiert. Aber was Nico betrifft – ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass er der Sohn reicher Eltern ist. Er kommt mir recht bodenständig vor, keine Designerklamotten oder exquisite Uhren, nur ganz gewöhnliche Kleidung von der Stange. Mal abgesehen von seinem Oldtimer.«
»Ist der denn wertvoll?«
»Ein Ford Mustang aus den 1960er-Jahren ist unter Umständen eine Viertelmillion Euro wert.« Fritz klang bewundernd. »Auch wenn ich kein Autonarr bin, dieses Schätzchen ist etwas Besonderes, und ich würde gern mal ein paar Runden damit drehen.«
»Tja, leider hat Rose genauso wenig Ahnung von Oldtimern wie von Autos generell. Ich übrigens auch nicht, obwohl wir beide einen Führerschein besitzen, merken wir uns gerade mal die Autofarbe.«
»Ist es nicht verrückt, wie das Leben manchmal so spielt? Wie schnell sich das Schicksal oft in Sekunden ändert? Die arme Rose! Sie und Nico hatten Zukunftspläne, und kurz danach liegt alles in Scherben. Was für ein Glück, dass sie euch hat, sonst wäre es bestimmt noch härter für sie.«
Iris befiel Traurigkeit, wenn sie an Rose dachte, die vermutlich weinend auf ihrem Bett lag und in Liebeskummer versank. »Rose kann immer auf die Familie und natürlich auf mich zählen«, bestätigte sie.
Fritz zog sie enger an sich und küsste sie zärtlich auf die Stirn. Nach einer ganzen Weile fragte er: »Denkst du manchmal über die Zukunft nach?«
Iris tastete nach seiner Hand und verhakte ihre Finger in seinen. »Hm … vorhin dachte ich, dass Jasmin ein eigenes Zimmer bräuchte, damit wir nicht immer Mäuschen spielen müssen. Violas altes Kinderzimmer ist ja noch im Urzustand, ich werde mal mit der Familie reden, ob wir das unbedingt für unsere privaten Besucher benötigen, es wäre ideal für Jasmin.«
Fritz drehte sich zu ihr und schaute sie mit seinen goldbraunen Augen ernst an. »Heirate mich! Ich habe eine große Wohnung und ein wunderschönes, sonniges Zimmer für Jasmin.«
Iris wusste nicht, was sie antworten sollte. Obwohl sie gerade noch sentimental über solch einen Heiratsantrag nachgedacht hatte, war sie nun vollkommen überrascht. »Ich … ich bin doch noch verheiratet«, stammelte sie schließlich.
»Das weiß ich doch, mein Schatz.« Fritz bedeckte ihr Gesicht mit zärtlichen kleinen Küssen. »Aber du könntest schon mal Ja sagen, und wenn du geschieden bist …«
»Willst du denn so lange auf mich warten? Du weißt, Christian sträubt sich gegen die Scheidung, es könnte also noch eine ganze Weile dauern.« Iris spürte Glückstränen in sich aufsteigen.
Fritz’ leise Worte »Natürlich warte ich« wurden von ungewöhnlich lautem Klopfen übertönt. Jemand trommelte an eine der Türen auf dem Flur.
Gleich darauf rief eine weibliche Stimme: »Rose, mach auf! Schnell … mach auf!«
Iris erkannte Annemaries Stimme, die ziemlich panisch klang.
»Soll ich nachsehen?«, fragte Fritz.
»Bleib, wo du bist, ich komme gleich zurück.« Iris rollte sich aus dem Bett, zog rasch sein Hemd über und öffnete die Tür ein wenig.
Es war tatsächlich Annemarie, die an Roses Tür hämmerte.
Jetzt riss auch Rose die Tür auf. »Was veranstaltest du denn für einen Radau?«
Genau diese Frage hatte Iris der Tante ebenfalls stellen wollen. Annemarie wusste genau, dass sie womöglich Jasmin weckte, es musste also einen dringenden Grund geben, warum sie trotzdem solch einen Lärm veranstaltete.
Die Stimme ihrer Tante überschlug sich fast, als sie sagte: »Nico hatte einen Unfall!«