17

Schluchzend presste Rose das durchnässte Taschentuch auf den Mund. Sie konnte nicht aufhören zu weinen. Egal, wie sehr sie versuchte, sich zu beherrschen, sie war einfach zu aufgewühlt. Zu glücklich.

Worauf sie seit Wochen gehofft hatte, war heute geschehen: Nico war wach! Als sie ins Zimmer kam, hatte er sie angelächelt, als wäre nie etwas gewesen. Als hätte er nicht wochenlang im Koma gelegen. Als wäre der schreckliche Unfall nie passiert.

Jetzt saß sie an seinem Bett und hielt seine Hand, und weil seine Stimmbänder noch eingerostet waren, krächzte er: »Nicht weinen, mein Seepferdchen.« Die Worte kamen so undeutlich aus seinem Mund, dass Rose sie erraten musste. Aber das war unwichtig. Er hatte das Schlimmste überstanden! War aufgewacht. Würde wieder vollkommen gesund werden.

Rose hatte diesen Moment herbeigesehnt wie sonst noch nie etwas in ihrem Leben. Bis heute hatte sie gebangt und sich alle möglichen Horrorszenarien ausgemalt. Trotz aller Maschinen gab es keine verlässlichen Informationen über den tatsächlichen Zustand einer Person in Langzeitnarkose. Und bis zu diesem erlösenden Moment, in dem Nico wieder wach wurde, war nicht vorherzusagen, wie es ihm danach ging. Natürlich hatte Rose sich selbst immer wieder Mut gemacht und sich vor Augen gehalten, dass Nico vor dem Unfall ein gesunder junger Mann gewesen war. Dass die Medizin mit den Hochleistungsgeräten, den Medikamenten und allem voran durch die ärztliche Kunst Wunder vollbringen konnte. Trotzdem hatte sie permanent unter Strom gestanden, und erst jetzt spürte sie, wie die Anspannung nachließ und sie aufatmen konnte.

»Alles wird gut«, versicherte sie, obwohl Nico noch blass und abgemagert war. Kein Wunder, so eine Langzeitnarkose sei ja auch keine Urlaubsreise, hatte Schwester Hilde gescherzt, und dass Nico nun richtig aufgepäppelt werden müsse. Nahrhafte Cremeschnitten könnten helfen.

Nico zog die Stirn kraus und blinzelte in die Nachmittagssonne, die schräg in den Raum fiel. Nach einigen Sekunden sagte er einzelne Worte, die sich für Rose nach »Verlobung … Ring« anhörten.

»Wir haben uns gestritten …« Rose erzählte von ihrem heftigen Streit am Verlobungsabend, der begonnen hatte, als sie erfuhr, wer seine Eltern waren. »Ich habe dir den Ring vor die Füße geworfen und bin weggelaufen. Deine Eltern haben mir später erzählt, du hättest ihn an dich genommen und eingesteckt. Dann musst du in dein Auto gestiegen und mit hohem Tempo davongerast sein, anders ist der Unfall nicht zu erklären. In dieser Nacht hat es heftig geregnet, da entsteht schnell Aquaplaning. Du bist von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gerast. Zum Glück war im Fahrzeug hinter dir ein Mann, der die Rettung angerufen hat und bei dir geblieben ist, bis sie vor Ort war.«

Aufstöhnend, als erinnerte Nico sich, presste er seinen Kopf in das Kissen und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sprach er langsam und von Atempausen unterbrochen über seine Empfindungen während der Langzeitnarkose. Er sei immer wieder in ein schwarzes Loch gefallen, habe andere Male versucht, mit dem Kopf eine mächtige Mauer zu durchstoßen. Aber auch Musik, Roses Stimme und die seiner Eltern habe er gehört. Manchmal habe er geglaubt, keine Luft mehr zu bekommen, ersticken zu müssen und zu sterben. Der Arzt habe ihm erklärt, dass diese traumatischen Erstickungsängste durch den Wechsel des Beatmungsschlauchs ausgelöst worden waren.

Die Übergangsphase vom Schlafen zum Wachsein war vor knapp einer Woche eingeleitet worden. Langsam waren die Medikamente reduziert, regelmäßig die Reflexe überprüft und der Beatmungsschlauch kurzzeitig entfernt worden. Auch dadurch hatte Nico unter Erstickungsanfällen gelitten. Doch nun war der Albtraum fast vorbei.

Rose hatte ihn natürlich auch während dieser Übergangsphase täglich besucht und bemerkt, wie Nico mehr und mehr auf Geräusche reagierte, den Kopf drehte, wenn sie das Zimmer betrat, und dass sein Mund zuckte, wenn sie ihn ansprach.

Rose war Professor Ambach vorhin auf dem Flur begegnet, und er hatte ihr die Vorgehensweise erklärt, mit der man Patienten langsam wieder ins Leben zurückholte. Nico werde wieder vollständig gesund, hatte der Mediziner anschließend versprochen.

»Werden wir noch vor Weihnachten heiraten können?«, hatte Rose ihn gefragt. Er wusste, dass der Unfall am Verlobungsabend geschehen war.

»Bis dahin sind es ja nur noch zwei Wochen, da kann ich Ihnen leider keine Hoffnungen machen«, hatte Professor Ambach bedauert. »Ihrem Verlobten steht eine wochen-, vielleicht sogar monatelange Phase der Rehabilitation bevor, die er anfangs im Rollstuhl verbringen wird. Die Muskulatur ist durch das lange Liegen geschwächt, sie muss unter Anleitung trainiert und auch das Laufen mithilfe eines Rollators wieder erlernt werden. Das Sprechen muss er ebenso üben. Sie können ihn dabei unterstützen, indem Sie sich gedulden und nicht auf Termine drängen.«

Rose suchte jetzt nach einem frischen Taschentuch in ihrer Handtasche. »Ich bin so glücklich, dass du das Schlimmste überstanden hast und bald wieder ganz gesund sein wirst!« Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Lautstark putzte sie sich die Nase, und mit dem Prusten gelang es ihr, die Tränenflut zu stoppen. »Ich liebe dich so sehr …«

Nico drückte ihre Hand. »Www rrrückt.«

Rose wusste, dass er »Ich liebe dich wie verrückt« sagen wollte, und lächelte selig.

»So, ihr Turteltäubchen, heute ist leider nur ein kurzer Besuch erlaubt«, ertönte überraschend die Stimme von Stationsschwester Hilde, deren Klopfen Rose nicht bemerkt hatte. »Der Patient muss vor der Abendvisite noch ein Stündchen schlafen.« Entschlossenen Schrittes kam sie ans Bett, griff nach dem Tablett, das noch vom Mittag auf dem Rollbeistelltisch stand, und sagte an Rose gewandt: »Schütteln Sie ihm bitte noch mal das Kopfkissen auf, bevor Sie gehen.«

»Mach ich gern.« Als Hilde das Zimmer wieder verlassen hatte, schüttelte Rose das Kissen auf, umarmte Nico vorsichtig und küsste ihn. »Bis morgen um die gleiche Zeit, mein Liebling.«

Nico lehnte sich zurück. Er schien tatsächlich erschöpft zu sein. Doch plötzlich richtete er sich wieder auf, griff nach Roses Arm und krächzte: »Ring … Hosentasche …«

»Wenn er in deiner Hosentasche war, müsste er bei deinen Eltern sein. Sie haben deine Kleider mitgenommen. Die waren ziemlich schmutzig, soweit ich weiß«, sagte Rose.

Nico sagte etwas, das Rose als »Schlaues Seepferdchen« verstand, wobei er schon fast wieder so verschmitzt grinste wie damals, als er ihr die Visitenkarte auf den Tresen gelegt und um eine Verabredung gebeten hatte.

Rose fiel es nicht leicht, sich schon wieder zu verabschieden, doch wenn Nico Ruhe benötigte, war das wichtiger. Sie schlüpfte in ihren schwarz-rot karierten Wollmantel, schnappte sich die rote Handtasche und gab Nico ein letztes Küsschen. »Bis morgen.«

Glücklich summend, schlenderte sie durch die langen Klinikgänge. Was für ein Tag, was für wundervolle Nachrichten, und auch wenn die Hochzeit noch warten musste, war sie überglücklich.

Auf dem großen Parkplatz hatte gerade eine Limousine gehalten, die der von Nicos Eltern ähnelte. Rose schirmte mit der Hand die Augen vor der Abendsonne ab, die ihr direkt ins Gesicht schien. Ein Mann in Lederjacke und Jeans stieg aus dem Wagen, umrundete ihn und öffnete dann die Beifahrertür. Es war tatsächlich Mark Weingold, der seiner Frau Amber beim Aussteigen behilflich war.

Rose eilte den beiden entgegen. »Hallo, wie geht es euch? Habt ihr es schon erfahren?«, sprudelte es aus ihr heraus. »Nico ist aufgewacht! Er wird wieder ganz gesund. Ich bin so aufgeregt! Wir haben uns unterhalten. Ein bisschen holprig zwar, aber er lacht schon wieder!«

Mark hatte ihr mit einem Lächeln zugehört. »Ja, wir wissen es seit heute Morgen, der Arzt hat uns angerufen.«

»Es ist einfach wundervoll, ich kann euch gar nicht sagen, wie glücklich ich bin. Ich hätte mir ein Leben lang Vorwürfe …« Rose brach ab. Sie wollte nicht wieder über Schuld sprechen, Mark und Amber hatten ihr schon so oft versichert, sie sei trotz der unschönen Szene nicht verantwortlich für den Unfall.

»Es ist alles gut, Rose«, sagte Amber auch jetzt wieder und streichelte ihr liebevoll über den Arm.

»Amber hat recht, reden wir nicht mehr darüber«, meinte auch Mark. »Nico wird wieder ganz gesund, deshalb lass uns das Thema vergessen und stattdessen in die Zukunft schauen. Ihr werdet sicher neue Pläne schmieden …«

Rose nickte gerührt. »Nico hat sich sogar an den Verlobungsring erinnert und nach ihm gefragt.«

»Ein großartiges Zeichen, dass seine Erinnerungen zurückkehren, bedeutet es doch, dass sein Gehirn unbeschädigt ist. Es wäre zu grausam gewesen, wenn …« Mark stockte.

Rose wusste, was er hatte sagen wollen. Und es war deutlich zu erkennen, dass Nicos Eltern genauso erleichtert über den erfreulichen Zustand ihres Sohnes waren wie sie.

»Ich muss leider los, und ihr wollt bestimmt so schnell wie möglich zu Nico, auch wenn ihr wie ich wohl nur kurz bleiben dürft«, verabschiedete sie sich.

Mark drückte ihr die Hand, und Amber küsste sie sanft auf die Wange. »Bis bald, Rose, und fahr vorsichtig.«

Rose stieg in ihren Wagen und atmete einige Male tief durch. Vielleicht schaffte sie es eines Tages, diese grässlichen Schuldgefühle zu überwinden. Spätestens wenn Nico ihr den Verlobungsring wieder an den Finger steckte.

Versonnen startete sie den Motor, legte die Hände aufs Lenkrad und stellte sich vor, dass der traumhafte Weißgoldring mit dem Diamanten am Ringfinger ihrer linken Hand glitzerte.