Iris stellte eine kleine Schüssel mit Haferflocken in warmer Milch vor Nico und Jasmin ab und legte Jasmins Löffel, nach dem die Kleine sofort griff, daneben. »Vielleicht setzen wir Jasmin besser in den Hochstuhl, Nico, sonst versaut sie noch deine Hose. Sie liebt es, selbst zu essen, aber die Hälfte rutscht oft noch vom Löffel.«
»Ach was«, winkte Nico ab. »Klecksen am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen. Außerdem war ich noch nicht unter der Dusche, ich stelle mich gleich mit den Klamotten darunter, dann geht die Reinigung in einem Aufwasch.«
Iris nickte grinsend. »Wenn du dir das antun möchtest, kann ich in Ruhe Kaffee kochen und schon mit den Vorbereitungen fürs Frühstück anfangen.«
»Mach ich gern! Wir kriegen das mit dem Haferbrei schon geregelt, nicht wahr, mein kleines Hoppelhäschen?« Zärtlich strich Nico über Jasmins blonde Haare, die Iris auf dem Oberkopf mit einer Blumenspange gebändigt hatte.
Aufatmend bedankte sich Iris für die Hilfe. Sie konnte eine kurze Pause vom Mutterdasein gut gebrauchen – und eine Extradosis Koffein, um wach zu werden. Sie hatte kaum geschlafen und fühlte sich, als wäre sie meilenweit durch den See geschwommen. Schuld daran war aber keine Liebesnacht mit Fritz, sondern ein Telefonat mit ihrem Nochehemann.
Spät am Abend hatte Christian angerufen, offensichtlich angetrunken, und hatte dummes Zeug geschwafelt, von wegen, er wolle definitiv keine Scheidung. Er würde sie noch immer lieben, sie jede Sekunde vermissen, und sie sollten doch noch einmal einen Versuch wagen. Iris konnte nicht aufhören, sich über so viel Schwachsinn zu wundern und sich zu fragen, was in ihn gefahren war. Christian schien vollkommen vergessen zu haben, warum sie sich getrennt hatten. Dass sie ihn seit November mehrmals angerufen hatte, um ihn an die noch nicht unterschriebenen Scheidungspapiere zu erinnern. Dass sie für nichts auf der Welt gewillt war, Jasmin wegzugeben, um wieder mit ihm in Köln zu leben. Dass sie ihn nicht mehr liebte. Sie war glücklich am Bodensee mit ihrer Tochter und Fritz, und das würde sie niemals aufs Spiel setzen.
»Soll ich helfen?« Rose stand plötzlich neben ihr an der Arbeitsfläche.
Iris erschrak, hatte sich aber schnell wieder im Griff. »Ähm … ja … vielleicht die Rühreier machen … liegt alles schon bereit.«
Rose schlug zehn Eier in die Schüssel. »Geht es dir gut, du wirkst so abwesend …«
»Alles bestens«, antwortete sie knapp. Sie war viel zu erschöpft, um jetzt das Problem »Christian« zu diskutieren, und es würde auch keine neuen Erkenntnisse bringen. Solche Gespräche hatten sie bereits unzählige Male geführt – nach Violas Tod, als es um Jasmins Adoption ging und Christian das partout nicht akzeptieren wollte. Der Tod seiner Schwägerin und das Schicksal eines mutterlosen Neugeborenen hatten ihn nicht sonderlich berührt. Damals hatte sie sich gefragt, ob er schon immer so gefühllos gewesen und warum ihr das nicht eher aufgefallen war.
»In Ordnung«, sagte Rose jetzt. »Dann hat es sicher nichts zu bedeuten, dass du Kaffeemehl für einhundert Tassen in den Filter, aber kein Wasser in den Tank gefüllt und die Maschine trotzdem eingeschaltet hast.«
Iris zuckte müde mit den Schultern. »Ups, jetzt hast du mich erwischt. Ich erzähle es dir später …« Sie schaltete die Kaffeemaschine wieder aus, kam aber nicht dazu, Wasser einzufüllen, weil ihr Handy klingelte. Genervt zog sie es aus der hinteren Hosentasche.
Schon wieder Christian! Sie zeigte Rose den Apparat. »Er ruft gerade ständig an.« Sie verdrehte die Augen und meldete sich kurz angebunden: »Was ist?«
Rose stellte grinsend eine Pfanne auf die Herdplatte.
»Guten Morgen, liebe Iris, wie geht es dir? Gut geschlafen?«, hörte sie Christian säuseln.
»Was willst du schon wieder?«, brummte Iris unfreundlich. Seine Frage ließ sie unbeantwortet.
»Ich wollte hören, ob du deine Meinung nach unserem gestrigen Gespräch noch einmal geändert hast.«
»Nein!«
»Nein, weil du noch nicht darüber nachdenken konntest, oder nein …«
»Nein, weil ich dazu bereits alles gesagt habe und meine Meinung wirklich nicht mehr ändern werde. Ich erwarte, dass du endlich die Papiere unterschreibst!«, unterbrach sie ihn. »Wir hatten vereinbart, nach einem Trennungsjahr eine einvernehmliche Scheidung durchzuziehen. Ohne getrennte Anwälte, ohne Aufwand …«
»Bitte, Iris, lass uns doch …«
Sie holte Luft und fiel ihm erneut ins Wort. »Rede ich in einer Sprache, die du nicht verstehst, oder was ist los?«
»Ich liebe dich noch immer …«
Iris hatte genug von diesem Schwachsinn, drückte das Gespräch einfach weg und knallte das Telefon auf die Arbeitsplatte.
»Probleme?« Rose gab ein Stück Butter in die Pfanne.
Iris schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf die wichtigen Dinge, zum Beispiel den Wassertank zu befüllen und schnellstens die Maschine einzuschalten, damit sie endlich Kaffee bekam. »Christian will eine neue Chance. Er muss verrückt geworden sein, anders kann ich mir seine ›neu entflammte Liebe‹ nicht erklären.«
»Weiß Christian von deiner Beziehung zu Fritz?«
»Nein. Jedenfalls habe ich nichts erwähnt und gebe mir Mühe, mich nicht durch eine unachtsame Bemerkung zu verraten«, antwortete Iris. »Doch selbst wenn er etwas ahnt, wäre sein Verhalten lächerlich. Wir sind seit über einem Jahr getrennt, und so wie ich Christians Wirkung auf Frauen kenne, hat er längst eine neue Freundin. Attraktive Männer wie er bleiben doch selten lange allein.«
Rose schwenkte die langsam zerlaufene Butter. »Soll ich jetzt die Eier da einfach reinschütten?«
»Erst noch mit einer Gabel aufschlagen … lass mal.« Iris griff nach der Schüssel, so konnte sie sich kurz abreagieren.
»Tut mir leid, du kennst ja meine Kochkünste, ich bin keine große Hilfe am Herd.« Rose hob bedauernd die Hände.
»Schon gut, Kochen wird allgemein überschätzt«, tröstete Iris ihre Schwester. »Aber warum hast du gefragt, ob Christian von Fritz weiß?«
»Weil er dann eifersüchtig sein könnte«, mutmaßte Rose. »Solange ihr nicht geschieden seid, glaubt er vielleicht, die älteren Rechte zu haben. Das ist doch auch so ein Männerding – was sie nicht selbst haben können, soll auch kein anderer bekommen.«
»Daran hat Fritz auch schon gedacht, und es trifft ziemlich genau auf Christian zu …« Iris seufzte. Dass er tatsächlich eifersüchtig sein könnte, behagte ihr gar nicht.
»Ah, hier riecht es ja schon lecker nach Kaffee! Guten Morgen, liebe Kinder.«
Iris blickte über die Schulter. Herbert stand mitten in der Küche und nahm die Brille von der Knubbelnase, als könnte er dann besser riechen. »Guten Morgen, Papa, gut geschlafen? Setz dich, der Kaffee ist gleich fertig. Rühreier auch.«
Als Nächste betrat Annemarie die Küche. Selbst am frühen Sonntagmorgen leuchteten ihre Lippen knallrot, und der orangefarbene Pullover war ausgesprochen kleidsam. »Hast du Rühreier gesagt? Hoffentlich sind noch Eier da, ich wollte Pfannkuchen machen.«
Während sich die Morgensonne durch die Wolken kämpfte und dann durch das Küchenfenster alles in kühles Winterlicht tauchte, philosophierten Herbert und Annemarie über die Frage, ob Rühreier nicht Pfannkuchen ohne Mehl, also glutenfreie Pfannkuchen wären. Annemarie war der Meinung, dass der Geschmack ein vollkommen anderer sei, das müsse sie ihm als Konditormeister ja wohl nicht erklären.
Als Florence erschien, beendete sie die laut gewordene Unterhaltung allein durch ein freundliches Lächeln, das Herbert augenblicklich besänftigte.
Iris flüsterte Rose zu, dass sie hoffte, eines Tages auch so eine harmonische Ehe wie ihre Eltern führen zu können, was ihre Schwester mit einem sehnsüchtigen Seufzer kommentierte.
An diesen Wunsch erinnerte sich Iris, als sie am Abend mit einem Buch auf das Sofa sank. Fritz war für ein paar Tage beruflich verreist, und Jasmin war heute sehr schnell eingeschlafen. Iris freute sich auf zwei, drei entspannte Lesestunden mit einem Sachbuch über die ersten drei Jahre im Leben eines Kindes. Doch sie hatte kaum die erste Seite aufgeschlagen, als ein Motorengeräusch sie aufhorchen ließ. Angemeldete Pensionsgäste waren es nicht, das hätte sie gewusst, denn dann hätte sie ja die Zimmer entsprechend vorbereitet und kleine Blumensträuße auf die Tische gestellt.
Sie legte das Buch zur Seite, ging zum Fenster, von dem aus sie auf den Parkplatz vor dem Haupteingang sehen konnte, und öffnete den Vorhang.
Als sie den roten Porsche sah, musste sie nicht warten, bis der Fahrer ausgestiegen war, um zu wissen, wem dieser Wagen gehörte: Christian! Sie ahnte, dass er der Überzeugung war, sein Überraschungsbesuch würde sie beeindrucken, könne sie sogar umstimmen. Fehlte nur noch, dass er sein Kommen durch anhaltendes Hupen kundtat! Aber dazu war er dann doch zu sehr Hotelier; die Ruhe der Gäste durfte nicht gestört werden. Überrascht war sie von seinem männlichen Ego, das ihn zu solch verrückten Aktionen verleitete. Na, er würde sich wundern, was er damit erreichte. Nämlich nichts!
Iris unterdrückte den Impuls, nach unten zu laufen und ihn sofort wieder wegzuschicken.
Es dauerte keine Minute, bis die an der Rezeption stehende Tischglocke erklang. Ungeduldig, beinahe aggressiv, schrillten die Glockentöne aus dem Erdgeschoss durch das stille Haus. Schließlich brüllte er sogar: »Hallooohooo!« Rücksicht auf eventuelle Gäste? Fehlanzeige.
Dann verstummte die Tischglocke. Stattdessen rief er sie auf dem Handy an.
Iris hätte ihn gern mit »Idiot, du weckst Jasmin auf« begrüßt, meldete sich aber mit einem knappen »Ja.«
»Hallo, Iris«, hauchte er. Sein dunkles Timbre ließ fast ihr Handy vibrieren.
»Was gibt’s?«
»Ich stehe unten an der Rezeption, würdest du bitte runterkommen?«
»Christian, lass die Scherze, ich habe keine Zeit für solchen Blödsinn.« Iris war entschlossen, ihn auflaufen zu lassen.
»Kein Scherz. Meine Sehnsucht nach dir war übermächtig, deshalb bin ich einfach in den Wagen gestiegen und … et voilà . Komm bitte runter, damit ich dich in meine Arme schließen kann.«
Iris musste sich beherrschen, ihn nicht anzuschreien, und ihm somit die Gelegenheit zu geben, sie als »hysterisch« zu bezeichnen. »Wenn du glaubst, meine Meinung ändern zu können, dann irrst du dich. Steig einfach wieder in deinen Wagen und fahr nach Hause.«
»Iris, das kannst du nicht von mir verlangen! Ich habe eine sechsstündige Autofahrt ohne Pause hinter mir.« Seine Stimme triefte vor Entrüstung und Verzweiflung.
Sie verkniff sich ein Lachen. Es war einfach zu albern. Aber irgendwie musste sie ihn loswerden.
»Christian«, begann sie ruhig. »Meine Meinung hat sich seit gestern Abend nicht geändert. Ich werde das Kind nicht wieder hergeben. Es gibt nichts zu bereden, wir sind lange genug getrennt von Tisch und Bett, sogar sehr weit entfernt voneinander, und ich möchte nach wie vor die Scheidung. Bitte akzeptiere das und unterschreibe endlich die Papiere.«
Schweigend schnaufte er mehrmals ins Telefon. »Bekomme ich wenigstens einen Kaffee und einen Snack als Wegzehrung? Sonst schlafe ich am Steuer ein.«
Was für eine durchsichtige Masche, dachte Iris amüsiert. Normalerweise hätte sie ihn ins Wintergartencafé geschickt, wo Waltraud ihm eine »Wegzehrung« zubereitet und Herr Otto sie ihm serviert hätte. Aber das Café war natürlich schon geschlossen. Sie überlegte, ihm Konstanz zu empfehlen, wo es genug Auswahl an Kneipen oder Restaurants gab, doch dann entschied sie sich um. Wenn er schon mal da war, konnte sie ihn vielleicht mit geduldigem Zureden zur Unterschrift der Scheidungspapiere bringen.