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Sobald ich meine Kleider in die Satteltasche gestopft und mein Schwert umgeschnallt hatte, marschierte ich in die Stallungen, wo ich Cinnabar sattelte, den Pferdeknecht mehr als reichlich bezahlte, um mir wenigstens für eine Weile sein Schweigen zu sichern, und unter einem sich schnell verdunkelnden Himmel losritt.
Eisiger Graupel stach mir wie Nadeln ins Gesicht. Nach dem klaren Morgen hatte es einen Wettersturz gegeben, und ein übler Sturm bahnte sich an. Trotzdem war ich froh über die mir bis in die Knochen kriechende Kälte. Ich wollte mich einfach nicht mit der unausgesprochenen Beschuldigung in Kates Worten befassen, dem Vorwurf, dass ich es wieder einmal vorgezogen hatte, für Elizabeth meine Sicherheit zu riskieren.
Ich hasste es zuzugeben, dass Kate bis zu einem gewissen Grad recht hatte: Mich unbegleitet auf eine Geheimmission in den Norden des Landes zu wagen, das war mehr als leichtsinnig. Wenn derjenige, der Lady Parry verschleppt hatte, und der Urheber des Giftanschlags ein- und dieselbe Person war, stand mehr als nur Lady Parrys Sicherheit auf dem Spiel. Und sollte mir tatsächlich ein Unglück zustoßen, an wen konnte sich Elizabeth dann noch wenden?
Dennoch erkannte ich, worauf ich mich da eingelassen hatte, erst in dem Moment, als ich die Tower Street zum Griffin hinunterritt und vor der Tür anhielt. Nachdem ich Cinnabar an der Pferdestange festgebunden hatte, trat ich in die Taverne. Zum Gruß schlugen mir die schalen Gerüche von verschüttetem Bier und abgestandenem Rauch entgegen. In der Düsternis des heraufziehenden Sturms glich die Taverne mehr denn je dem, was sie war: eine heruntergekommene Kaschemme mit unebenen Bodendielen, schmutz- und fettverschmierten Wänden, Hockern, die auf die vernarbten Tische gestellt worden waren. Alles war so zerkratzt und schartig, als hätten Ratten mit ihren winzigen Zähnen daran genagt.
Ich blieb stehen. Gut, das Griffin mochte schäbig sein, eine Abfüllstelle für Hafenarbeiter, Huren und Tagelöhner, doch es war immerhin ein Ort, den jemand sein Zuhause nannte, wohingegen ich trotz meines Königsschwerts, meiner teuren Kleider, der königlichen Gunst und meines beneidenswerten Rufes keinen Ort hatte, an den ich gehörte.
Ich gab mir einen Ruck, schüttelte mein jämmerliches Selbstmitleid ab und rief nach dem Wirt. Hinter dem Tresen tauchte mit zerzaustem Haar der kleine Tom auf, rieb sich die verquollenen Augen und keuchte: »Eure … Eure Lordschaft …«
»Heute keine Lordschaft, Junge. Nur ich. Wo ist dein Herr?«
»Oben. Schläft.« Nervös spähte Tom zur Tür. »War sie nicht verriegelt?«
»Nun, ich bin kein Geist«, antwortete ich trocken.
Er stöhnte auf. »Dann habe ich es vergessen! Dabei hat mir Mistress Nan gestern Abend eingeschärft, dass ich sie verriegeln muss. Und nun habe ich doch nicht dran gedacht! Bitte, Mylord …« Er rang flehentlich die Hände. »Bitte sagt ihr nichts. Sonst wirft sie mich raus, und ich habe nichts mehr, wo ich unterkommen kann.«
Seine Bitte durchbrach meinen Panzer. Und während ich dieses schmächtige Bürschlein betrachtete, das eine viel zu weite Hose trug, die mit einer Schnur um seine magere Taille befestigt war, und die schmutzigen Knöchel und schlecht passenden Schuhe bemerkte, die er von einer Leiche erbeutet haben mochte, erkannte ich in ihm ein Abbild meines toten Junkers. Peregrine war ebenfalls gezwungen gewesen, sich als ein anonymer, rechtloser Niemand durchzuschlagen, bis ich ihn in meine Dienste genommen hatte. Ich neigte den Kopf und versprach mit bebender Stimme: »Mach dir keine Sorgen, Junge, ich werde nichts verraten.« Mein Blick fiel auf Sheltons leeren Sessel. »Wo ist denn sein hässlicher Hund?«
»Crum?« Tom zuckte mit den Schultern. »Auch oben. Er folgt seinem Herrn auf Schritt und Tritt.«
»So bewacht er also das Haus«, brummte ich. Allzu lange konnte ich dem Jungen nicht in die Augen sehen. Die Erinnerungen an Peregrine drohten, mich in den Abgrund zu stürzen. Doch dann wühlte ich in meiner Geldbörse nach Münzen und warf ihm eine zu. »Achte darauf, dass mein Pferd nicht gestohlen wird.«
Eilig lief er hinaus und schlug die Tür so fest zu, dass der Knall im ganzen Schankraum widerhallte. Während ich unschlüssig dastand und mich fragte, ob es ein Fehler gewesen war hierherzukommen, statt sofort den Weg in den Norden einzuschlagen, hörte ich plötzlich ein dumpfes Stampfen über mir. Gleich darauf polterten schwere Schritte die Treppe herunter, und Shelton humpelte in einem zerknitterten Hemd herein. Seine nackten Beine waren beide von Adern durchzogen, und eines war sichtlich entstellt und kürzer als das andere. Eine Keule schwingend, blinzelte er mich mit seinem guten Auge misstrauisch an. Zu seinen Füßen baute sich Crum knurrend auf und fletschte seine verfärbten Zahnstummel.
Ich riss meine Kappe herunter.
»Herrgott, Junge!« Shelton ließ die Keule sinken. »Ein bisschen früh für einen neuerlichen Besuch. Sag bloß, dass wir dir so sehr gefehlt haben.«
Neben ihm tauchte Nan auf, ein Tuch um sich geschlungen. Unter ihrer eingedrückten Haube hatten sich ein paar silbrige Haarsträhnen gelöst. Obwohl ihr anzumerken war, dass ich sie aufgeschreckt hatte, musste ich angesichts ihrer verräterisch geröteten Wangen unwillkürlich grinsen.
»Störe ich Euch?«
»Überhaupt nicht!«, erklärte sie lauter als nötig, was mir verriet, dass genau das der Fall war. »Wir waren gerade am Aufstehen. Es … es ist nur etwas spät geworden.« Sie blickte sich ärgerlich um. »Eigentlich ganz gut, dass du so früh zurückgekehrt bist. Alice, das faule Luder, müsste längst hier sein und die Herde schrubben! Und wo steckt Tom, dieser Nichtsnutz? Ich hab ihm doch gesagt, dass er …«
»Ich habe ihn rausgeschickt, damit er mein Pferd versorgt. Er hat mich ins Haus gelassen.« Während ich das sagte, begegnete ich Sheltons Blick. Seine Miene zuckte fast unmerklich. Er durchschaute mich.
»Hungrig?«, fragte er. Ich nickte, woraufhin Nan sofort in der Küche verschwand. Shelton legte seine Keule auf den Boden. »Ich komme gleich wieder. Du wartest und isst dein Frühstück.« Er wandte sich ab und trottete wieder die Treppe hinauf. Crum, der zurückblieb, fixierte mich grimmig. »Lass dich nicht von ihm stören!«, rief mir Shelton von oben zu. »Er beißt nur, wenn ich es ihm befehle.«
Beruhigt fühlte ich mich freilich nicht. Auch wenn Crums Zähne höchstens dazu geeignet schienen, gekochtes Fleisch zu zerkauen, stellte ich es mir alles andere als vergnüglich vor, ihn abwehren zu müssen. Vorsichtig zog ich einen Hocker vom nächsten Tisch herunter und setzte mich darauf. Mit einem Schnauben legte sich Crum vor die unterste Treppenstufe und ließ einen Darmwind entweichen.
In diesem Moment kam Nan mit einem Tablett zurück. »Gott helfe uns allen! Er verwöhnt diesen Köter einfach zu sehr!« Damit setzte sie das Tablett vor mir ab: ein Krug Dünnbier, Brot und eine Schüssel Porridge. »Ich war heute noch nicht auf dem Markt, und gestern haben sie uns alles weggefressen. Der Wind blies so heftig, dass sie am Hafen draußen nicht richtig arbeiten konnten, und am Ende sind die Faulpelze alle hier gelandet. Nicht, dass es dieser Tage am Markt eine große Auswahl gäbe, wo doch das ganze Land ein einziges Armenhaus ist. Die Ernte war erbärmlich, und wir können von Glück reden, wenn wir anständige Steckrüben finden. Von anderen Sachen ganz zu schweigen. Aber ich hab so meine Quellen.«
»Das hier ist genau recht, danke.« Ich griff gerade nach dem Brot, als sie die Hände in die Hüften stemmte und mich anfunkelte. »Ich nehme an, dass das nicht bloß ein Besuch aus alter Freundschaft ist, oder? Natürlich freuen wir uns, dich zu sehen, aber du warst ja erst hier.« Sie wartete. Und als ich nicht antwortete, schnaubte sie: »Also doch. Du bist gekommen, um ihn in noch mehr Unheil zu verwickeln.«
»Nan, ich …«
»Nein, nein.« Sie drohte mir mit dem Finger. »Das geht mich nichts an, wie mir der alte Ziegenbock jetzt vorhalten würde. Es steht mir nicht zu, was zu sagen.« Sie reckte das Kinn vor. »Aber ich tu’s trotzdem! Diese Sache gefällt mir nicht, und dabei bleibt’s. Er hat von den Hochwohlgeborenen und ihren Intrigen die Schnauze voll. Hätte ihn beim letzten Mal, bei dieser Wyatt-Revolte, fast das Leben gekostet. Und als sie den Aufstand niedergeschlagen hatten, haben wir uns wochenlang versteckt gehalten, damit die Behörden nicht bei uns anklopfen und fragen, ob wir irgendwas wissen. Zu seinem Glück hat ihn keiner mit dir rumlaufen sehen. Du warst da schon längst von hier verschwunden, und es war nicht so, als ob der große Lord Cecil sich dazu herabgelassen hätte, unseren Beitrag zur Rettung des Königreichs zu würdigen.«
»Ich weiß«, murmelte ich kleinlaut. »Er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt. Ich werde ihn um nichts bitten, wenn es dich so aufregt.«
»Dafür ist es ein bisschen spät«, blaffte sie, nur um gleich wieder zu verstummen und zu überlegen. »Ich kann nicht behaupten, dass er mich nicht gewarnt hätte«, erklärte sie schließlich. »Als du hier aufgetaucht bist, hat er mir gesagt, dass er alles tun wird, worum du ihn bittest. Er stünde in deiner Schuld, sagt er, und als du herangewachsen bist, wär er nicht das gewesen, was er hätte sein müssen. Aber gleichgültig, welche Fehler er in der Vergangenheit gemacht hätte, jetzt wär das anders.« Ihre Stimme begann zu zittern. »Er ist ein anständiger Kerl, und es gibt heutzutage weiß Gott viel zu wenige Männer wie ihn. Schwör mir, dass du nicht zulassen wirst, dass ihm was passiert. Das wäre mein Ende. Ohne ihn bin ich keinen Furz wert.«
»Das schwöre ich dir. Wenn es sein muss, stehe ich mit meinem Leben für ihn ein.«
Sie zögerte, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann stapfte Shelton die Treppe herunter, und sie wandte sich zu ihm um. Er war gekleidet wie für eine Reise: Kapuzenumhang, ein um die Hüften gegurtetes Schwert und abgewetzte Stiefel mit keilförmigen Absätzen, in denen er einen sicheren Stand hatte. Crum seufzte niedergeschlagen.
Sheltons Blick fiel auf das Tablett vor mir. »Immer noch nicht fertig? Beeil dich besser und schlag dir den Magen voll, Junge. So wie’s aussieht, wird der Tag weder länger noch schöner.«
Beflissen brach ich das Brot entzwei und wandte die Augen ab, als Shelton Nan in die Arme schloss und sie den Kopf an seine Schulter legte.