15
Trotz der Umstände war ich froh, mit Lord Vaughan allein zu sein. Meine Erfahrungen hatten mich gelehrt, dass Leid unsere Herzen entriegeln und unsere tiefsten Empfindungen freisetzen kann, die wir sonst sogar vor uns selbst verbergen: Hass, Ängste und Reue.
Ich beabsichtigte, seinen Kummer gegen ihn zu verwenden. Nach allem, was passiert war, hatte ich bezüglich dieses Vorgehens keinerlei Schuldgefühle. Irgendjemand hier musste wissen, was Lady Parry zugestoßen war. Agnes hatte alle gleichermaßen beschuldigt, aber auf ihr Wort wollte ich mich nicht verlassen. Vielmehr hatte ich vor, die Bewohner einen nach dem anderen zu verhören und zu klären, ob sie als Verdächtige infrage kamen, bis nur noch der Täter übrig blieb. Und gnade ihnen Gott, wenn sie versuchten, die Wahrheit vor mir zu verbergen!
Die Dogge, Bardolf, trabte hinter uns her. Immer wieder blickte ich über die Schulter, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass ein solches Ungetüm mit uns mithalten würde, doch dieser Hund war unermüdlich. Von den Tieren auf Vaughan Hall wirkte er als Einziges nicht unterernährt – im Gegenteil, mit seinem glänzenden schwarzen Fell, den darunterspielenden Muskeln und den von seinen Lefzen herabhängenden Speichelfäden blieb er unermüdlich hinter unseren Pferden.
Ich hatte nicht den geringsten Wunsch, ihn gegen mich aufzubringen.
Während wir durch das verlassene Withernsea auf die Straße nach York zuritten, fragte ich Vaughan abrupt: »Wie lange seid Ihr und Lady Philippa schon verheiratet?«
Er blickte mich verblüfft an. »Philippa ist meine zweite Frau. Vor ihr war ich schon einmal verheiratet, aber meine erste Frau starb 1539 am Schweißfieber. Ich habe Philippa drei Jahre später geheiratet.«
Interessant. »Hattet Ihr vor Henry schon einmal einen Sohn?«
Er runzelte die Stirn. »Warum wollt Ihr das wissen?«
»Ohne besonderen Grund. Es ist nur so, dass Raff … na ja, ich frage mich, warum Ihr ihn bei Euch beschäftigt. Hat er keine Angehörigen im Dorf, oder ist er ein Findelkind, das Ihr aufgenommen habt?«
Für einen langen Moment ritt er schweigend neben mir weiter, bis ich glaubte, er würde mir die Antwort schuldig bleiben. Als er doch noch den Mund aufmachte, war seine Stimme gedämpft. »Raff ist mein Kind, wenn es das ist, was Ihr wissen wollt. Eine unserer Mägde. Ein törichter Fehltritt meinerseits. Es bedeutete nichts. Nur bekam sie eben ein Kind und verließ es dann. Ich brachte es nicht übers Herz, den Jungen wegzuschicken.«
»Aber Eure Frau verachtet ihn. Das muss doch gewiss Zank ausgelöst haben.«
Der Lord seufzte. »Freude hat es ihr nicht gebracht, aber nachdem sie Henry geboren hatte, duldete sie auch Raff, denn wir hatten nun unseren eigenen Sohn. Abigail kam ein Jahr später auf die Welt.«
»Wie alt war Henry?« Ich wollte kein Salz in die Wunde streuen, aber meine Frage war notwendig. Wenn es mir gelang, Lord Vaughans Herz aufzubrechen, gab er vielleicht etwas preis, das ich wissen musste. Nach Mistress Harper, die nun wohl schreckliche Angst hatte, schien mir Lord Vaughan von allen Bewohnern des Hauses am weichherzigsten zu sein. Wer so tief trauerte wie er, konnte nicht ganz ohne Gewissen sein.
»Sieben.« Seine Stimme war fast nicht vernehmbar. »Dieses Jahr wäre er acht geworden.«
Eilig überschlug ich die Daten. Wenn er Philippa 1542 geheiratet hatte und Henry mit sieben Jahren gestorben war, dann hatte es bis zu Philippas Empfängnis acht Jahre gedauert – eine beträchtliche Zeitspanne in gleich welcher Ehe. Wenn meine Schätzung von Raffs Alter mehr oder weniger zutraf, musste er nach Philippas Hochzeit mit Lord Vaughan, aber zwei, drei Jahre vor ihrem gemeinsamen Sohn auf die Welt gekommen sein. Wenn es so lange gedauert hatte, Henry zu zeugen, konnte es vielleicht noch ein anderes Kind gegeben haben? Einen Erstgeborenen mit dem Namen Hugh, der dann gestorben war? Damit ließe sich zumindest Lady Vaughans Hass auf Raff erklären. Das Kind dieses Fehltritts musste eine permanente Erinnerung an die Untreue ihres Mannes und ihren eigenen Verlust gewesen sein.
Völlig unvermittelt sagte er: »Ich verstehe nicht, warum Ihr mich das fragt. Meine Ehe und mein Scheitern als Gemahl haben doch sicher nichts mit dem anstehenden Problem zu tun, oder?«
»Verzeiht mir, ich muss Euch um Nachsicht bitten. Ich versuche lediglich zu ermitteln, wie die allgemeine Stimmung im Haus war, als Lady Parry abreiste.« Diesmal schlug ich keinen sanfteren Ton an. »Ich habe den Eindruck, dass sie Euch überstürzt verließ. Euer Haushofmeister hat mir gesagt, dass sie trotz seiner Warnung fest entschlossen war, zusammen mit dem verkrüppelten Hauslehrer über die gefährliche Landstraße zu reiten. Sie trat die Reise an und ließ ein krankes Kind und auch Eure erkrankte Frau zurück. Ihr seid Lady Parrys Neffe; warum habt Ihr sie nicht aufgehalten oder wenigstens dafür gesorgt, dass sie eine angemessene Begleitung erhielt? Hätte sie nur ein paar Tage länger gewartet, wäre die Eskorte der Königin eingetroffen.«
Er wich meinem Blick aus. Himmel, er wusste etwas! Ich fischte nicht im Trüben.
»Lord Vaughan«, sagte ich in strengem Ton, »wenn Ihr etwas zu sagen habt, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Die Königin lässt sich keine Ausflüchte bieten, und meine eigene Geduld ist bald aufgebraucht.«
Seine Kiefermuskeln arbeiteten, als wäre er sich nicht sicher, wie viel er offenbaren sollte. Schließlich sagte er: »Meine Tante und meine Frau mochten einander nicht. Philippa kann bisweilen schwierig sein. Sie und Blanche waren in vielem uneins.« Seine Schultern sackten nach vorn. Und auf einmal sprudelten die Worte aus seinem Mund. »So wahr mir Gott helfe, ich habe mit Engelszungen auf meine Tante eingeredet, damit sie so lange bleibt, bis wir die nötigen Vorkehrungen getroffen haben. Aber dann gerieten sie und Philippa in einen fürchterlichen Streit über Henrys Pflege. Es ging so weit, dass beide sich weigerten, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Philippa war zu der Zeit schon genesen, und Henry schien auch auf dem Weg der Besserung zu sein, doch dann verschlechterte sich sein Zustand plötzlich wieder. Blanche meinte, wir sollten unbedingt nach einem Arzt schicken, der Junge würde sonst womöglich sterben.« Er stockte. Tränen traten ihm in die Augen, er kämpfte sie zurück. Als er fortfuhr, klang seine Stimme belegt. »Sie hatte natürlich recht, aber Philippa wollte nichts davon wissen. Sie erklärte Blanche, sie wisse am besten, wie ihr Sohn zu pflegen sei, und warf sie aus dem Krankenzimmer. Daraufhin sagte mir meine Tante, dass sie bei Henrys sicherem Tod nicht tatenlos zuschauen könne und darum notfalls auch allein nach York reisen und von dort einen Arzt mitbringen würde.«
»Demnach plante sie gar nicht ihre Rückkehr nach London? Sie ritt mit dem Hauslehrer nach York, um dort einen Arzt zu suchen?«
»Ja.« Er verbarg das Gesicht in den Händen. »Und ich ließ sie ziehen. Philippa war fürchterlich erbost darüber, dass ich es gewagt hatte, meiner Tante zu gestatten, sie in der Pflege abzulösen, und verbot mir in ihrer Wut, mit ihr nach York zu reiten. Daraufhin erbot sich Master Godwin, sie zu begleiten. Damals dachte ich, er würde ihr wohl ausreichend Schutz bieten können. Außerdem wollte ich nicht von der Seite meines kranken Sohnes weichen. Aber ich schwöre Euch, ich war fest davon überzeugt, dass sie binnen einem, höchstens zwei Tagen wieder da sein würden!« Er hob das von Schuldgefühlen tief gezeichnete Gesicht zu mir. »Ich hätte nie gedacht, dass uns ein derart … derart schrecklicher Albtraum heimsuchen würde.«
Ich ließ ein paar Momente verstreichen, damit er sich wieder fassen konnte. Dann bat ich ihn: »Erklärt mir bitte, warum Eure Frau und Lady Parry einander ablehnten.«
»Das habe ich doch schon getan. Ich habe Euch gesagt, dass sie wegen Henry in Streit geraten waren und …«
»Nein«, unterbrach ich ihn, »ein derartiger Zwist, dass Lady Parry wider jeden besseren Rat Hals über Kopf davonreitet, bricht nicht über Nacht aus. In Krisenzeiten geben Frauen sich nicht mit Haarspaltereien ab, vor allem dann nicht, wenn es um das Leben eines Kindes geht. Hinter diesem Zerwürfnis muss etwas anderes stecken als ein bloßer Streit über Henrys Pflege. Was ist geschehen?«
Auf einmal wirkte er gramgebeugt, gealtert. Zu guter Letzt hatte ich also den passenden Schlüssel ins Schloss gesteckt, doch es bereitete mir keine Freude, ihn zu drehen. »Es war wegen … ihr«, flüsterte er.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Von wem sprecht Ihr?«
»Von unserer neuen Königin.« Er holte tief Luft. »Philippa verabscheute Lady Parry, weil sie Elizabeth so sehr verehrt. Versteht Ihr, Philippa und ihre Familie sind …«
»Ich weiß. Ihr seid allesamt Papisten.«
Er nickte. »Philippas Vater und ihr Bruder nahmen an der ›Pilgerfahrt der Gnade‹ teil. Mehr noch, Lord Hussey und sein Sohn waren glühende Verfechter der Rebellion gegen den König und seine Politik, die Klöster abzureißen. Am Ende wurden sie auf Henrys Geheiß in York wie Verbrecher gehängt, ausgenommen und gevierteilt. Lady Hussey starb an gebrochenem Herzen, während Philippa und ihre drei Schwestern alles verloren. Wegen Hochverrats wurde der Familie ihr ganzes Eigentum entzogen. Das ist auch der Grund, warum Philippa mein Werben erhörte. Sie hatte keine Wahl. Eine ihrer Schwestern, Lady Browne, hatte sich darum bemüht, Philippa im Hofstaat von Lady Mary unterzubringen, die später unsere Königin wurde. Ich selbst kannte Lady Brownes Mann durch meine, allerdings nicht sehr häufigen, Reisen nach London. Er ist Tuchhändler wie ich, und über ihn habe ich Philippa kennengelernt.«
Philippas Schwester hatte also Beziehungen zu Mary gehabt; Lady Vaughans Familie war mit unserer verstorbenen Königin bekannt gewesen – genau wie Sybilla Darrier …
Beklommen lauschte ich dem Rest seiner Geschichte. »Ihr müsst verstehen, dass wir alle, die den wahren Glauben verehren, in Angst und Schrecken lebten. Der König hatte alles zerstört, was uns heilig war; es war, als wäre ein Fluch über das Reich hereingebrochen. Philippa war neunzehn Jahre alt, als wir heirateten, aber sie hat denjenigen, die ihr dieses Leid zugefügt haben, nie vergeben, zumal sie dadurch verarmte und zu einem Leben fern des Hofes gezwungen wurde. Obwohl sie mich nicht liebte, war ich bereit, sie zu heiraten. Ich habe seit jeher ein ruhiges Leben geführt. Ich selbst bin von guter, aber nicht adeliger Geburt. Meine Verwandten haben mit dem Hof nichts zu tun. Mein Urgroßvater stammte aus Yorkshire. Nachdem er sich erfolgreich im Wollhandel betätigt und Vaughan Hall erworben hatte, wurde er Landbesitzer. Für Philippa war ich kaum mehr als ein gemeiner Bürger. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, muss ich zugeben, dass sie recht hatte. Die Beschlagnahmung und Umverteilung der Ländereien der Klöster hat mir erheblich geschadet. Ich hatte zu geringe Bestände, um mit den Großen mithalten zu können.«
»Kennt Eure Frau … hat sie jemals eine Familie mit dem Namen Darrier erwähnt?« Ich musste die Worte förmlich aus meiner Kehle herausreißen. »Genauer gesagt eine Frau namens Sybilla Darrier, die Königin Mary diente und deren Vater und Brüder ebenfalls bei dieser ›Pilgerfahrt der Gnade‹ das Leben verloren. Hat jemand in Eurem Haus, einschließlich dieses Master Godwin, jemals von ihr gesprochen?«
Er überlegte. Zu meinem Verdruss sah ich ihm auf Anhieb an, dass ihm dieser Name völlig fremd war. »Master Godwin ganz gewiss nicht«, erklärte er. »Philippa kennt sie vielleicht schon, aber sie spricht nie über die Vergangenheit. Als es ihrer Schwester nicht gelang, ihr einen Platz am Hof zu verschaffen, bedrängte sie Philippa, meinen Heiratsantrag anzunehmen. Und was Philippa betrifft … sie tut immer so, als hätten ihr Vater und ihr Bruder nie existiert, aber mir ist klar, dass sie beide im Herzen trägt. Was ich über ihre inneren Qualen weiß, habe ich vom Mann ihrer Schwester erfahren.«
Es war also durchaus möglich, dass Lady Browne Sybilla gekannt hatte. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, was mir Sybilla über den Tod ihres Vaters und ihres Bruders erzählt hatte. Die Ereignisse hatten sie, ihre Mutter und ihre Schwestern zur Flucht nach Brüssel gezwungen, wo sie Renard begegnet waren, dem Intrigen schmiedenden kaiserlichen Botschafter. Dieser hatte Sybilla als seine Spionin in Marys Dienste geschleust. Hier bestand ein unbestreitbarer Zusammenhang, den zu ignorieren töricht gewesen wäre.
Gehörte dieser Unbekannte, den ich suchte, einem geheimen Kreis von Papisten an, die jetzt wegen Elizabeths Thronbesteigung auf Rache sannen?
»Hier.« Lord Vaughan zügelte sein Pferd. Wir hatten eine Weggabelung erreicht, von der die Hauptstraße nach York abzweigte und eine andere Route nach Westen. Es war eine düstere Stelle – windgepeitscht, zerklüftet, von gezackten Felsbrocken übersät. »Hier haben wir ihr Pferd gefunden. Nach einer Nacht im Freien war es in einem erbärmlichen Zustand. Da es auch noch lahmte, musste ich es später töten.«
Ich blickte mich um. Cinnabar nutzte die Pause aus, um an dem ausgedörrten Gras zu knabbern. Mit Schnee durchsetzter Wind kam auf. Der Himmel färbte sich in der Ferne schwarz. Ein Sturm nahte. Wir mussten bald zurückkehren.
»Wo sie überfallen und verschleppt wurde, weiß ich leider nicht«, murmelte Lord Vaughan betrübt. »Das Pferd könnte davongelaufen sein. Es sah nach einer ganzen Nacht allein da draußen wirklich erbärmlich aus.«
»Aber wir wissen, dass Lady Parry York nicht erreicht hat«, gab ich zu bedenken. »Und auch nicht London, ebenso wenig wie Master Godwin, dessen Pferd, anders als das ihre, nicht entdeckt wurde.« Was ich für mich behielt, war, dass ich allmählich einen dunklen Verdacht gegen den geheimnisvollen Hauslehrer zu hegen begann, der auf Lady Brownes Empfehlung aufgenommen worden war. Es gab keine Leichen. War Godwin an einer Verschleppung beteiligt, obwohl er nach außen so friedfertig gewirkt haben musste? War er der Unbekannte, der den Überfall auf Shelton und mich in die Wege geleitet hatte?
Über uns grollte der Donner. Bardolf hob das Hinterbein und pinkelte gegen einen Stein. Nichts von dem, was ich hier sah, ließ Schlüsse darauf zu, was Lady Parry und dem Hauslehrer widerfahren war, außer dass dieser Ort in der Tat gottverlassen wirkte. Falls es einen Kampf gegeben hatte, hatte wohl niemand etwas gesehen oder gehört. Zwischen hier und York erstreckte sich meilenweit unwirtliches Gelände, in dem man eine Leiche überall hätte abladen und verrotten lassen können.
Mir sank der Mut. Welchen Nutzen hatte mir dieser Ausflug gebracht? Gut, ich hatte ein wenig über Lord Vaughan erfahren, aber das vermochte mich in keinster Weise zu ermuntern.
Ich stolperte hier durch ödes Niemandsland, weit entfernt von jedem Schutz durch Elizabeth oder den Hof, und während ich blind nach Spuren suchte, konnte der Fremde, der mir nachstellte, längst auf der Lauer liegen und seinen nächsten Schlag vorbereiten.
Zum Herrenhaus zurückgekehrt, führte ich Cinnabar sogleich in den Stall, wo ich ihn absattelte und kräftig abrieb. Shelton war auch dort. Bis auf Kopfschmerzen schien er sich bereits ein wenig erholt zu haben. Man hatte ihm etwas zu essen angeboten, was er aber abgelehnt hatte, weil sein Magen sich immer noch anfühlte »wie die reinste Höllengrube«. Auf seine steife Weise hatte Gomfrey sein Bestes getan, um besorgt und beflissen zu erscheinen.
»Dabei ist es dem Kerl doch völlig gleichgültig, ob ich lebe oder sterbe«, knurrte Shelton und ließ zu meiner Erleichterung einen Funken seiner alten Lebensenergie aufblitzen. »Im Vergleich zu ihm kommt mir mein eigenes Treiben als Haushofmeister bei den Dudleys wie das Wirken eines verdammten Heiligen vor. Nichts ist schlimmer als ein Mann, der seinen Rang im Leben für unter seiner Würde ansieht.«
»Wie wahr«, stimmte ich zu und berichtete, was ich herausgebracht hatte. Dann gestand ich, wie enttäuscht ich darüber war, hinsichtlich Lady Parrys Verbleib keinen Schritt weitergekommen zu sein. »Aber ich werde tun, was ich kann. Dieses Mädchen, Agnes, hat mir gestern Abend gesagt, dass man hier keinem über den Weg trauen sollte. Darum werde ich sie als Erste verhören. Was hast du über Raff erfahren?«
Shelton warf mir einen schrägen Blick zu. »Nirgendwo zu sehen. Aber mit dem Mädchen wirst du ebenfalls deine Mühe haben. Sie hat sich anscheinend in Luft aufgelöst. Gomfrey hat mir gesagt, dass sie in der Nacht verschwunden ist.«
Ich warf meine Pferdebürste beiseite und rannte zum Haus hinüber.
In der Küche herrschte helle Aufregung. Mistress Harper vergrub schluchzend den Kopf in den Händen, während Gomfrey Befehle bellte. Als ich hereinstürmte, musterte er mich kalt. »Master Prescott, Seine Lordschaft ist mit Mylady im Privatgemach. Ihr könnt im Empfangssaal warten. Wir haben einen höchst anstrengenden Morgen …«
»Wo ist Agnes?«, unterbrach ich ihn. »Sie ist verschwunden, wurde mir berichtet.«
Gomfrey blinzelte. »Das würde ich nicht sagen. Aber sie hat sich offenbar davongestohlen. Doch das betrifft Euch nicht. Mistress Harper und ich werden das klären.«
»Erst verschwinden Lady Parry und der Hauslehrer, dann Raff und jetzt Agnes?«, donnerte ich. »Und das nennt Ihr ›klären‹?«
»Ich bitte um Verzeihung, Master Prescott«, presste Gomfrey hervor, »aber Raff ist keineswegs verschwunden. Der Junge hat die Gewohnheit, ab und an wegzulaufen. Er kann Stunden, bisweilen sogar Tage unauffindbar sein. Er ist wild wie ein Tier im Wald und ungefähr genauso unzuverlässig. Hättet Ihr danach gefragt, hätte ich es Euch erklärt. Ich bin sicher, dass er sich irgendwo im Haus versteckt hat und zu gegebener Zeit wieder auftaucht, wie er das immer tut.«
Mistress Harper stöhnte auf. Einer Ohnmacht nahe, knetete sie verzweifelt ihre Schürze. »So viel Arbeit! Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht! Agnes wusste doch, wie sehr ich auf sie angewiesen bin. Ich verstehe nicht, wie sie das tun konnte! Läuft einfach weg, ohne ein Wort zu sagen, und sogar ohne ihren Lohn!«
»Sie ist ohne ihre Bezahlung gegangen?«, fragte ich. »Mitten in der Nacht und trotz ihrer Angst vor den Geistern und dem Nebel? Unmöglich!«
Gomfrey bedachte mich mit einem vernichtenden Blick. »Ich kann Euch versichern, das ist sehr wohl möglich. Agnes ist in Withernsea geboren. Sie würde blind nach Hause finden. Abgesehen davon ist sie schon oft genug heimgelaufen, um ihre Mutter zu besuchen, und …«
»Ich habe sie gestern Abend gesehen«, unterbrach ich ihn.
Schlagartig erstarrte er am ganzen Körper, während Mistress Harper entsetzt nach Luft schnappte. »Sie brachte mir Kerzen und einen Krug Wasser für den Morgen. Wir wechselten ein paar Worte, bis Mistress Harper nach ihr rief. Ich kann Euch versichern, Master Gomfrey, nichts an ihr ließ erkennen, dass sie vorgehabt hätte, dieses Haus zu verlassen.«
»Ist das wahr?«
Ich war fassungslos. Gomfrey hatte diese Frage nicht an mich gerichtet, sondern an die Hauswirtschafterin. »Zweifelt Ihr etwa an meinem Wort?«, rief ich erregt.
Mistress Harper schien meinen Ausbruch gar nicht wahrzunehmen. Sie nickte. »Ja, es ist wahr. Ich habe nach Agnes gerufen. Das Feuer musste nachgeschürt werden, und meine Hände waren nach dem vielen Kochen zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich fand sie oben. Sie sagte mir auch, dass sie Master Prescott versorgt hatte, ging mit mir in die Küche zurück, schürte das Feuer, und dann … wünschten wir uns eine gute Nacht.« Ihre Stimme bebte vor Scham. Dazu hatte sie auch allen Grund. Wenn die Hauswirtschafterin sich jede Nacht in den Schlaf trank, konnte sie nicht wissen, ob Agnes sich davongeschlichen hatte oder von der Klippe gestürzt war.
»Ihr hättet mir das nicht vorenthalten dürfen«, tadelte Gomfrey sie. »Ich bin der Haushofmeister. Jeder Vorfall im Haus, und sei er noch so belanglos, ist mir zu melden. Trotzdem, ganz gleich, wo sie vor ihrem Verschwinden war, es ist und bleibt eine Tatsache, dass Agnes nicht mehr bei uns ist, und jetzt fällt mir die Aufgabe zu, im Dorf einen passenden Ersatz zu finden.« Er wandte sich zu mir um. »Master Prescott«, sagte er eisig, »wenn ich bitten darf? Mistress Harper hat viel Arbeit zu erledigen, wenn Ihr heute Abend zu speisen wünscht.«
Erneut musterte ich die Hauswirtschafterin, die sich mit ihrer Schürze die Augen abtupfte und dann, meinem Blick geflissentlich ausweichend, in den Küchentrakt schlurfte.
Widerstrebend folgte ich Gomfrey. Sobald wir den Innenhof erreicht hatten, knurrte ich: »Ihr werdet meine Ehre nicht noch einmal in Zweifel ziehen. Mir scheint, Ihr müsst daran erinnert werden, wer ich bin.«
»Oh, ich weiß genau, wer Ihr seid.« Sein Ton nahm eine verächtliche Schärfe an. »Ihr habt ja Eure Bedeutung jedem hier klar genug gemacht. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich Euch gefällig erweisen muss. Es sei denn, Ihr müsst daran erinnert werden, dass Ihr, Master Prescott, nicht mein Herr seid.« Er neigte den Kopf. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt, ich habe eine Pflicht im Dorf zu erledigen. Ohne Magd bricht unser Haushalt zusammen.«
Er strebte schon zum Empfangssaal, als ich ihm nachrief: »Wer ist Hugh?«
»Wer ist Hugh?« So wie Agnes gestern Abend blieb er abrupt stehen. Nach kurzem Zögern sagte er: »Mir ist schleierhaft, wen Ihr damit meint. Wenn Ihr mich entschuldigt, Master Prescott, ich wünsche einen guten Tag.«
Verdrießlich kehrte ich in die Küche zurück. Mistress Harper bedachte mich mit einem müden Blick. »Noch mehr Fragen kann ich mir nicht anhören. Jetzt, wo Agnes weg ist, weiß ich vor Arbeit nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Ihr habt gehört, was Gomfrey gesagt hat.«
Ich wiederholte die Worte des Haushofmeisters. »Gomfrey ist nicht Euer Herr.«
Sie seufzte. »Aber er ist es eben doch. Er ist Mylady verantwortlich und steht über mir. Wir sind – oder waren – nur drei Bedienstete. Dazu gehört auch der arme Raff, der für den Stall und das Tor zuständig ist. Mylady hat Gomfrey freie Hand über das ganze Haus gewährt. Dass Agnes weggelaufen ist, wundert mich offen gestanden überhaupt nicht. Gomfrey hat sie in einem fort wegen ihrer Faulheit geschimpft. Und dann ist auch noch die Sache mit dem Hauslehrer dazugekommen …« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Ach, ich fange schon wieder damit an und erzähle Dinge, die ich für mich behalten sollte! Ich bitte Euch, bedrängt mich nicht länger.«
»Welche Sache mit dem Hauslehrer?« Ich trat dicht an sie heran und senkte die Stimme. »Mistress Harper, ich weiß, dass in diesem Haus etwas geschehen ist, das so schlimm war, dass Lady Parry davor geflohen ist. Niemand sagt mir die Wahrheit, aber ich werde sie herausfinden. Also: Was war mit Agnes und Master Godwin?«
Wenn überhaupt möglich, wirkte sie noch bestürzter. Mehrere Minuten lang kaute sie auf ihrer Unterlippe, ehe sie schließlich sagte: »Agnes … war nie zufrieden. Wäre es nicht derart schwer, in dieser Gegend Ersatz zu finden, wo wir doch so weit entfernt von der nächsten Stadt leben und Ihre Lordschaften verarmt sind, hätte sie ihre Stelle längst verloren. Als Master Godwin zu uns kam, hat sie …«
»Sich an ihn herangemacht?«
Meine Mutmaßung schien Mistress Harper nicht im Geringsten zu überraschen. »Ja. Sie sagte, sie würde dafür sorgen, dass er sich in sie verliebt. Schließlich ist er verkrüppelt, und wer schaut schon so einen an, meinte sie. Oh, sie hielt sich ja für so schlau! Und Master Godwin – na ja, schlechtes Bein hin oder her – ist immer noch ein Mann, oder etwa nicht? Und so hat er sich auch verhalten. Zumindest hat sie das behauptet. Sie redete die ganze Zeit über ihn, dass sie heiraten und nach London ziehen würden, wo er die Bälger eines Adeligen unterrichten und sie einer richtig vornehmen Lady dienen würde.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hatte nichts als Flausen im Kopf, unsere Agnes, als wäre sie für Samt und Seide geboren worden. Ich dagegen habe ihr wieder und wieder erklärt, dass er sie ins Verderben stürzen würde, wie die Männer das eben machen, und sie am Ende gar nichts hätte außer einem dicken Bauch und Schelte von Mylady. Noch so ein Bastard im Haus würde Mylady überhaupt nicht gefallen, nicht nach Raff.«
»Und was ist dann geschehen?«
»Das Fieber.« Sie seufzte. »Master Henry und Mylady wurden krank. Wir alle hier im Haus waren Tag und Nacht auf den Beinen und pflegten sie pausenlos. Und dann kam Lady Parry. Ihre Ankunft war uns nicht angekündigt worden, aber sie bedeutete das Ende von Agnes’ Hoffnungen. Als Master Godwin sich erbot, Lady Parry zu eskortieren, regte sich Agnes so sehr auf, dass ich kaum noch wusste, wohin mit ihr. Dabei war Lady Parry doch eine verheiratete Frau und nicht mehr die Jüngste. Ach, es war schrecklich, was Agnes alles von sich gab. Als Lady Parry verschwand und Master Henry starb, war ihr das völlig gleichgültig. Sie heulte mir bloß die Ohren voll, dass Master Godwin durchgebrannt war und sie hatte sitzen lassen, und was sollte sie nun tun, sich etwa bis ans Ende ihrer Tage die Finger wund schrubben? Wie gesagt, sie war nie zufrieden. Je mehr sie glaubte, bekommen zu können, umso mehr wollte sie.«
Ein Triumphgefühl wallte in mir auf. Endlich kam ich weiter: Agnes und Godwin hatten etwas miteinander gehabt. Das schuf zwar noch nicht Klarheit, aber es machte die Bratensoße dicker, wie meine Alice es formuliert hätte.
»Hat der Hauslehrer sie denn geliebt? Glaubt Ihr, er hätte bei seiner Rückkehr so gehandelt, wie sie es sich erhofft hat?«
»Das kann ich Euch beim besten Willen nicht sagen. Agnes log in allem, von der Menge der Arbeit, die sie erledigt hatte, bis zu der Frage, ob die Sonne schien. Das war einfach ihre Art. Ich bezweifle, dass er in ihr mehr sah als einen Zeitvertreib. Er war ein gebildeter Herr aus London. Agnes dagegen konnte kaum ihren Namen buchstabieren. Was kann zwei so unterschiedliche Menschen schon verbinden, außer vielleicht ein Schäferstündchen auf dem Heuboden?«
Ich musste grinsen. Sie erinnerte mich tatsächlich an Alice.
»Mistress Harper, sagt Euch der Name Hugh etwas?«
Sie legte die Stirn in Falten. Dann erklärte sie zu meiner Enttäuschung: »Das kann ich nicht behaupten.«
»Danke für Eure Hilfe. Ich werde Euch nicht weiter belästigen.«
Ich wandte mich schon zum Gehen, als sie unvermittelt sagte: »Ich hatte schon geglaubt, Agnes hätte dasselbe mit Euch versucht. Von dem Moment an, als Ihr einen Fuß auf dieses Anwesen gesetzt hattet, war sie ganz aus dem Häuschen. Sie muss sich gedacht haben, gut, dann seid eben Ihr hier, auch jemand aus London, noch dazu vom Hof – ihre zweite Gelegenheit. Und als sie mir erzählt hat, dass sie gestern Abend bei Euch im Gemach war, habe ich angenommen … Das ist der Grund, warum ich Gomfrey nichts gesagt habe. Geht mich nichts an, was die Leute tun, sobald die Lichter gelöscht sind.«
»Danke für Euer Schweigen, aber ich versichere Euch, zwischen Agnes und mir hat es nichts Ungehöriges gegeben. Wie Ihr Euch denken könnt, haben wir nichts gemeinsam.«
Außer der Tatsache, wie ich beim Hinausgehen dachte, dass jetzt drei Personen aus Vaughan Hall verschwunden waren – und eine davon Agnes war.