16

Ich ging in mein Gemach hinauf, um meine Satteltasche zu überprüfen. Tatsächlich, das Beutelchen mit dem Geld fehlte. Genug, um ein neues Leben anzufangen, hatte es nicht enthalten; schon gar nicht, wenn es einen nach London zog, aber vielleicht hatte Agnes das geglaubt. Oder vielleicht hatten meine Fragen sie in solche Angst versetzt, dass sie beschlossen hatte zu nehmen, was da war, und wegzulaufen, bevor sie bloßgestellt wurde und ihr Techtelmechtel mit Godwin ans Licht kam.

Was immer davon zutraf, ich war ausgeraubt worden, und schon nach nur zwei Tagen Aufenthalt kam ich mir vor, als wäre ich seit hundert Jahren in Vaughan Hall eingemauert. Ich wollte nichts lieber, als diese undankbare Aufgabe hinter mich bringen, und musste an mich halten, um nicht schnurstracks zu Lady Vaughan zu marschieren und sie zu verhören. Sie hatte ihre Augen und Ohren überall und regierte das Haus mit eiserner Hand – und Godwin hatte ihre Kinder unterrichtet. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ihre Magd nicht zumindest verdächtigt hatte, ein loses Mädchen zu sein, das ein Auge auf Godwin geworfen hatte, zumal ihre Sinne nach dem Fehltritt ihres Mannes geschärft sein mussten. Aber heute Abend würde ich sie ohnehin im Empfangssaal sehen und ihr meine Fragen stellen können. Außerdem hatte ich vor, sie auf ihren Streit mit Lady Parry anzusprechen.

Draußen am Horizont türmten sich Sturmwolken auf. Der Wind heulte und rüttelte an irgendetwas, einer Wetterfahne vielleicht oder einem losen Kaminaufsatz. Während ich in meinem engen Gemach auf und ab marschierte und Regen, gemischt mit Graupel, gegen die hohe Fensterscheibe prasseln hörte, beschloss ich, bei Shelton nach dem Rechten zu sehen, bevor das Wetter noch ekelhafter wurde und ich mich nicht mehr vor die Tür wagte. Bei dieser Gelegenheit wollte ich auch einen Abstecher zum Friedhof der Familie machen und feststellen, ob auf einem der Grabsteine der Name Hugh stand. Allerdings befielen mich allmählich Zweifel an meiner Besessenheit von diesem einen Detail. Wahrscheinlich hatte Raff sich nichts weiter dabei gedacht, als er diesen Hugh erwähnte. Dennoch spukte er mir immer noch im Kopf herum, als ich die Treppe hinunterstieg und durch den verlassenen Saal und den leeren Korridor zur Gartentür schritt.

Draußen peitschte mir der Wind entgegen. Die Schultern hochgezogen und mit flatterndem Umhang näherte ich mich dem Friedhof. Erst als ich den dürftigen Schutz der knorrigen Bäume erreicht hatte, bemerkte ich eine kleine Gestalt, die vor dem Mausoleum kauerte. Um sie nicht zu erschrecken, verlangsamte ich meine Schritte. Jäh schnappte sie nach Luft, als eine Böe ihr das Haarnetz vom Kopf riss. Sofort sprang die kleine Abigail Vaughan auf und rannte dem in Richtung Klippe wirbelnden Ding hinterher.

Ich jagte ihr nach und konnte sie gerade noch einfangen. Der Wind wehte ihr die blonden Haare ins Gesicht. Mit traurigen Augen, die so viel älter wirkten als ihre sechs Jahre, stöhnte sie: »O nein! Ich hab’s verloren! Mein Haarnetz ist weg! Genau wie mein Bruder.«

»Ist gut, ist gut.« Ich hob sie hoch und trug sie von der Klippe weg. »Es ist doch nur ein Netz.«

»Aber Mutter wird böse sein«, jammerte sie. »Sie hat mir gesagt, dass ich auf meine Sachen gut aufpassen muss, weil sie es sich nicht leisten kann, was Neues zu kaufen, wenn ich sie verliere oder schmutzig mache.«

Ich stellte sie wieder auf den Boden. Mit kleinen Kindern hatte ich keine Erfahrung, aber eines konnte sogar ich erkennen: Mit ihrem durchnässten Mäntelchen und den halb aufgelösten Zöpfen wirkte sie wie ein Häufchen Elend. Außerdem zitterte sie erbärmlich. Allem Anschein nach war sie zu lange draußen gewesen.

»Du solltest nicht allein hier sein«, ermahnte ich sie sanft. »Ein Sturm zieht auf, und der Wind kann gefährlich werden. Was, wenn er dich mit sich reißt und du davongewirbelt wirst wie dein Haarnetz?«

Sie kratzte mit der Fußspitze über die Erde. »Das würde niemanden kümmern«, murmelte sie. »Sie haben ja meinen Bruder lieber gemocht.«

»Ich glaube, deinen Vater würde es sehr kümmern. Er würde dich bestimmt sehr vermissen.«

Sie richtete ihre ernsten Augen auf mich. »Schon, aber Henry vermisst er noch mehr. Das weiß ich. Er weint viel, wenn er glaubt, dass keiner hinschaut, und er trinkt die ganze Zeit. Mutter schreit ihn ständig an. Sie sagt, sie hätte ihn nie heiraten dürfen.«

Ihr Kummer schnitt mir ins Herz. Da Söhne alles erbten, während die Töchter verheiratet wurden und in das Eigentum ihres Mannes übergingen, schenkte man Mädchen oft weniger Beachtung. Ich fragte mich, was wohl aus Abigail werden würde. Die Umstände waren kaum dazu geeignet, auf eine gute Ehe zu hoffen – von persönlichem Glück ganz zu schweigen. Einmal mehr packte mich ein rasender Zorn auf Lady Vaughan. War diese Frau so gefühllos, dass sie ihre eigene Tochter allein durch die Gegend irren ließ und sie mit grausamen Äußerungen verstörte, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren?

»Deine Mutter ist in Trauer«, erklärte ich in dem Versuch, die Kleine zu beschwichtigen. »Die Menschen sagen manchmal schreckliche Dinge, wenn sie einen Verlust erlitten haben.«

Abigail wandte sich ab und spähte wehmütig zum Mausoleum hinüber. »Henry fehlt mir. Er hat immer mit mir gespielt. Jetzt gibt es niemanden mehr, der mit uns spielt.«

»Mit uns?« Ich kauerte mich neben sie. »Mit wem außer Henry hast du denn noch gespielt?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben immer mit Raff gespielt, bis Mr Godwin gekommen ist, um uns Unterricht zu geben, und unsere Mutter gesagt hat, dass wir jetzt nicht mehr spielen dürfen. Außerdem hasst sie Raff. Sie sagt, dass er ein … ein Bastard ist.« Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten. »Ist das das richtige Wort?«

»Ja. Aber es ist nicht nett, so etwas zu sagen. Hat denn Master Godwin Raff gemocht? War er freundlich zu ihm?«

Die Falten wurden tiefer. »Raff hatte Angst vor ihm.«

»Wirklich? Warum, glaubst du, hat er sich vor ihm gefürchtet?«

Sie zog die Schultern hoch. »Master Godwin hat ihn einmal ins Gesicht geschlagen und ihn einen Köter genannt. Von da an ist Raff ihm aus dem Weg gegangen.« Ihre Miene hellte sich auf. »Henry und ich haben viel mit Raff und seinem Freund gespielt. Das hat Spaß gemacht.«

»Freund?« Mein Atem wurde auf einmal flach. »Er hat einen Freund?«

»O ja, aber ich darf nichts verraten. Das haben wir Raff versprochen, Henry und ich. Es ist nämlich ein Geheimnis.«

»Ich kann ein Geheimnis bewahren«, beteuerte ich. Der Sturm wurde heftiger. Immer mehr ging der Regen in Schnee über. Aber bevor ich Abigail zurückbrachte, musste ich ihr entlocken, was es mit diesem Freund auf sich hatte. Mich wunderte, dass noch niemand nach ihr suchte, aber das würde sich gewiss bald ändern. »Ich selbst kenne auch ein paar Geheimnisse.« Ich senkte die Stimme zu einem Raunen, das sicher ihre Neugier wecken würde. »Soll ich dir was verraten? Ich selbst … bin auch ein Geheimnis.«

Sie kicherte. »Nein, das seid Ihr nicht. Ich sehe Euch doch. Darum könnt Ihr kein Geheimnis sein. Raffs Freund ist geheim, weil man ihn nicht sehen kann.«

»Oh, ist er denn … unsichtbar?«

Abigail nickte eifrig und beugte sich vor. Sie roch nach nasser Erde und feuchter Wolle. »Er versteckt sich in den Gängen unter dem Haus. Und er lebt dort drüben.« Sie deutete über meinen Kopf hinweg. Ich schaute in die Richtung und erkannte den gedrungenen Wachturm auf der Westseite des Herrenhauses.

»Im Turm? Raffs Freund wohnt dort oben ganz allein?«

»Ja!« Entzückt presste sie die Hände ineinander, weil sie endlich jemandem etwas anvertrauen durfte, das sie einst mit ihrem Bruder geteilt hatte. »Aber er ist schüchtern. Raff sagt, dass niemand ihn sehen darf, weil er Angst hat, dass der böse König ihn dann tötet.« Sie seufzte. »Und ich kann ihn nicht besuchen, weil Henry jetzt tot ist.«

»Du könntest mich mitnehmen.« Ich wollte ihre Hand ergreifen und sie dazu bringen, mich auf der Stelle hinzuführen. Normalerweise hätte ich ihre Worte als bloßes Hirngespinst betrachtet, erdacht von einem Kind, das sich an diesem gottverlassenen Ort die Zeit vertreiben wollte, hätte ich nicht daran gezweifelt, dass Raff in der Lage gewesen wäre, von sich aus eine solche Geschichte zu erfinden. Er konnte doch sicher weder lesen noch schreiben; und wer sollte ihn so sehr mögen, dass er ihn auf den Schoß genommen und ihm ein derart phantasievolles Märchen erzählt hätte?

Mit Nachdruck sagte Abigail: »Nein, das kann ich nicht. Die Gänge machen mir Angst. Sie sind dunkel und voller Spinnen.« Sie schüttelte sich. »Ich hasse Spinnen!«

»Ich auch. Und Dunkelheit mag ich auch nicht. Aber wenn wir zusammen gehen, werden wir keine Angst haben.«

»Nein. Ich kann nicht.« Ihr Gesicht verschloss sich. »Mir ist kalt. Darf ich zurück ins Haus?«

»Natürlich.« Mit einem gezwungenen Lächeln richtete ich mich auf. »Ich kann dich begleiten.«

»Das müsst Ihr nicht.« Sie schlang ihr Cape um sich. »Ich kenne den Weg. Die Pforte ist dort drüben.« Damit wandte sie sich ab, hielt aber noch einmal inne und warf mir einen schüchternen Blick zu. »Er heißt Hugh. Seid bitte vorsichtig, wenn Ihr ihn besucht, und jagt ihm keine Angst ein. Er ist sehr scheu.«

Sie zupfte die feuchten Röcke, die ihr an den Beinen klebten, zurecht und stapfte durch den Friedhof zurück zum Herrenhaus, während ich im Regen stehen blieb und das Wasser mir von der Kappe in den Kragen tropfte.

Endlich hatte ich das Geheimnis von Vaughan Hall enträtselt.

Im Turm wurde ein Kind versteckt.

Ich konnte es nicht erwarten, dies Shelton brühwarm zu erzählen, und stürmte in den Stall, wo er auf dem Heuhaufen saß. Zu meiner Überraschung hockte die riesige Dogge Bardolf vor ihm und blickte hingebungsvoll zu ihm auf.

»Raff ist noch nicht zurück?«, fragte ich.

Shelton schnitt eine Grimasse. »Nein. Und falls du dich fragst: Mir geht es schon viel besser.«

»Das freut mich.« Ich setzte mich zu ihm und berichtete hastig, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Als ich geendet hatte, runzelte er skeptisch die Stirn. »Kinder erfinden oft Geschichten. Und diese ist wohl kaum ein Beweis für etwas Verdächtiges.«

»Aber verstehst du denn nicht?«, rief ich, während Bardolf unter Sheltons Liebkosungen mit dem Schwanz auf den Boden klopfte. »Sie hat gesagt, dass der Freund Hugh heißt. Er lebt hier im Turm. Wie kann das kein Beweis sein?«

Shelton rülpste. Er mochte sich zwar besser fühlen, sah aber nicht so aus. »Ich verstehe nicht, wie ein Kinderspiel uns etwas über ein Unglück verraten kann, das Lady Parry womöglich zugestoßen ist.« Er versuchte, den Kopf zu schütteln, doch offenbar bereitete ihm das immer noch Schmerzen, denn er verzog das Gesicht. »Nein, mein Lieber, Hugh ist ein Freund aus der Phantasiewelt, kein echter Mensch. Was Lady Parry zugestoßen ist, ist eine andere Geschichte.« Er stieß einen betrübten Seufzer aus. »Nenn die Dinge bei ihrem Namen, Junge.«

»Was meinst du damit?«

»Dass Lady Parry tot ist.« Mit erhobener Hand erstickte er meinen Protest im Keim. »Sei vernünftig. Ich weiß, dass dieses Haus dir wie ein abgelegener Winkel der Hölle vorkommt – und nach meinem Erlebnis hier schließe ich mich deiner Meinung an –, aber ist es nicht eher wahrscheinlich, dass sie und dieser Godwin auf dem Weg zu einem Arzt von Räubern überfallen wurden? Nach Marys Thronbesteigung ist das Reich auseinandergebrochen – nicht dass es davor sicherer war. Ich glaube, dass sie Männern wie den Kerlen, die uns umbringen wollten, zum Opfer gefallen sind und wir nie erfahren werden, was geschehen ist. Meiner Meinung nach sollten wir schleunigst die Beine in die Hand nehmen und das Weite suchen. Hier können wir ohnehin nichts mehr ausrichten.«

Ich starrte ihn fassungslos an. Als ich Anstalten machte aufzuspringen, unterband Bardolf die abrupte Bewegung mit einem Knurren.

»Das Tier mag mich«, brummte Shelton. »Ist seit deiner Rückkehr nicht von meiner Seite gewichen. Wenigstens ein Wesen hier, dem es nicht gleichgültig ist, ob ich kotze oder verrecke.«

Ich ballte die Fäuste. »Was ist mit dem vermummten Reiter, den wir beide am Horizont gesehen haben? Oder der Botschaft, die der andere Halunke im Sterben geröchelt hat? Dem Attentat auf die Königin, den Mitteilungen und jetzt mit dem Gift, das dir beinahe den Tod gebracht hätte? Hinter alldem muss doch jemand stecken!«

»Wieso?«

Seine leise geäußerte Frage reizte mich zur Weißglut. Dabei sagte er nur seine Meinung, und sosehr ich sie widerlegen oder leugnen wollte, ergab sie doch mehr Sinn, als ich bereit war zuzugeben.

»Vielleicht willst du nur deshalb an ein Komplott glauben, weil sie dich mit diesem Auftrag losgeschickt hat. Sie hat dich um Hilfe gebeten, und du fühlst dich verpflichtet, ihr diesen Wunsch um jeden Preis zu erfüllen – so wie du es ja vom ersten Tag an getan hast.«

Ich setzte zum Protest an, doch Shelton fuhr mir über den Mund. »Nein!«, knurrte er. »Ich weiß schon, was du sagen willst: dass ich sie noch nie mochte. Und damit hättest du auch recht. Königin oder nicht, wohin sie auch geht, Elizabeth zieht Ärger geradezu an. Sie ist nicht wie du oder ich, Junge. Sie ist eine Tudor.«

»Auch ich teile ihr Blut«, schnaubte ich, gereizt über seine Worte, die mich schmerzhaft an das erinnerten, was mir Kate kurz vor meinem Aufbruch vom Hof gesagt hatte. »Hast du das etwa vergessen?«

»Wie könnte ich das je vergessen? Du bist mit ihr verwandt und musst ihr die Treue halten. Dafür bewundere ich dich. Aber diese Mission ist nicht so wie die anderen Angelegenheiten, bei denen du ihr geholfen hast. Menschen erleiden Unfälle; sie sterben oder verschwinden. Bier wird gepanscht; Diebe überfallen Reisende; Attentäter verüben Giftanschläge auf Königinnen. Das kommt vor, aber es bedeutet doch nicht, dass jeder hier ein Geheimnis verbirgt. Es bedeutet nicht …« Seine Stimme erstarb.

»Sag’s«, flüsterte ich.

»Es bedeutet nicht, dass Lady Parrys Verschwinden etwas mit Sybilla zu tun hat.« Er verstummte und beobachtete mich dabei, wie ich mit den Zähnen knirschte.

»Du glaubst, dass ich mir das einbilde«, meinte ich schließlich. »Du glaubst, ich laufe einer Illusion hinterher, um meinen Schuldgefühlen auszuweichen, weil ich es nicht vermocht habe, sie gefangen zu nehmen, bevor sie von der Brücke gesprungen ist.«

»Ich glaube trotz all dem, was du sagst, dass in dir immer noch eine Leidenschaft für sie brennt, der du einfach nicht entkommen kannst. Du willst mit aller Macht ein Komplott entdecken, damit du Rache üben kannst für das, was sie dir und Peregrine angetan hat. Darauf bist du versessen, obwohl du genauso gut wie ich weißt: Während du einem Gespenst hinterherhetzt, treibt derjenige, der nach dem Leben der Königin trachtet, weiter sein Unwesen, ohne dass du seiner Ergreifung auch nur einen Schritt näher gekommen bist. Du solltest am Hof sein und zusammen mit Cecil und den anderen versuchen, ihn aufzuspüren, statt hier deine Zeit mit der Jagd nach Geheimnissen zu verschwenden, die es nicht gibt.«

Ich wandte mich zur Tür. »Ich werde dir ein Essen bringen lassen. Du musst ruhen und wieder zu Kräften kommen.«

Shelton gab ein Grunzen von sich, machte aber keine Anstalten, zu widersprechen oder mich zurückzurufen.

Hatte er einmal die Wahrheit, wie er sie sah, kundgetan, wich er danach kein Jota mehr davon ab.

Das Unwetter brach mit einem sintflutartigen Wolkenbruch und ohrenbetäubenden Donnerschlägen los.

Zurück im Herrenhaus, speiste ich allein im Empfangssaal. Mistress Harper, die immer noch sehr niedergeschlagen wirkte, trug mir einen Holzteller mit kalten Überresten vom gestrigen Festmahl auf. Bei dieser Gelegenheit ließ sie mich wissen, dass Master Gomfrey noch nicht mit einem Ersatz für Agnes aus Withernsea zurückgekehrt sei, während Lord Vaughan und Mylady beliebten, in ihren Gemächern zu bleiben.

Die Offensichtlichkeit, mit der sie mir ihre Gesellschaft vorenthielten, zeugte von einem Vorsatz, der mich entrüstete. Ich wurde hier behandelt wie ein lästiger Dienstbote, den man dazu zwang, seine Zeit zu vertändeln, während sie sich verleugnen ließen, in der Hoffnung, ich würde der Sache überdrüssig werden und unverrichteter Dinge wieder abziehen. Ich aß, was ich hinunterbrachte, trank das bereitgestellte Brunnenwasser – Wein oder Ale rührte ich nicht an – und stieg dann die Treppe zu meinem Gemach hinauf, wo ich mir neben Sheltons unerbetenem Rat noch einmal durch den Kopf gehen ließ, was ich bisher in Erfahrung gebracht hatte.

Wurde im Turm ein Kind verborgen? Oder hatte Abigail lediglich über ein Spiel geplaudert, das sie zusammen mit zwei größeren Jungen erfunden hatte? Vielleicht hatten Henry und Raff sich das Märchen von Hugh, einem unsichtbaren Freund, ausgedacht und das Mädchen damit verwirrt. Das ergab durchaus einen Sinn, zumindest mehr als ein echtes verborgenes Kind. Doch mein Instinkt sagte mir, dass die Sache nicht so einfach war. Vaughan Hall barg ein Geheimnis, das wusste ich einfach. Es lag unmittelbar vor meiner Nase und war irgendwie mit dem Unbekannten verbunden, der wiederum in Zusammenhang mit der Vergangenheit stand. Ich musste das Rätsel lösen. Lady Parrys Leben konnte davon abhängen.

Die Hände unter dem Kopf verschränkt, legte ich mich zurück und starrte zur Balkendecke hinauf. Wieder und wieder spielte ich die Ereignisse in Gedanken durch: meine Entdeckungen bezüglich der Vergangenheit von Lady Vaughans Familie und eine mögliche Verbindung zu Sybilla, die wegen der »Pilgerfahrt der Gnade« ebenfalls Verluste erlitten hatte; den Überfall durch die Raufbolde im Wald und den Unbekannten, der uns dabei beobachtete; und die noch weiter zurückliegende Szene in Elizabeths Gemächern, als die Geschenke geöffnet wurden und ihr Spaniel auf so schreckliche Weise starb. Erneut sah ich Kate vor mir, wie sie verängstigt den Handschuh hielt, während ich die Schachtel nach Hinweisen durchsuchte. Einmal mehr verweilte ich bei der chiffrierten Mitteilung, die dann Dudleys Hellseher Dr. Dee gebracht wurde, und bei Elizabeths Auftrag für mich sowie bei der zerfetzten Botschaft, die sie mir gezeigt hatte.

Du musst für die Sünde zahlen.

Abrupt sprang ich auf und begann, auf und ab zu marschieren. Was hatte dieser Zettel zu bedeuten? Welche Sünde wollte der Fremde sühnen? In welchem Zusammenhang stand er mit der Frau, die alle für tot hielten, und mit Vaughan Hall? Ich raufte mir die Haare. Die Kerze neben meinem Bett begann zu flackern. Diese anscheinend zufälligen Ereignisse mussten doch irgendeinen Berührungspunkt haben. Einen, der alles erklärte.

Plötzlich schossen mir Sheltons Worte in den Sinn. Was, wenn er recht hatte? Jagte ich wirklich einem Gespenst aus meiner Vergangenheit nach, während ein Mörder der Königin nachstellte und Lady Parry und Godwin tot irgendwo in einem Wald lagen?

Die bloße Vorstellung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Benommen stand ich da, ohne zu bemerken, dass die Kerze erloschen war. Erst als ich mich darüberbeugte, um sie mithilfe eines Flintsteins neu zu entzünden, dämmerte mir, dass von irgendwoher ein leichtes Glühen für ein wenig Beleuchtung sorgte. Ein Blick nach oben zum Fensterschlitz verriet mir, dass ein gedämpftes Licht von der dicken Scheibe gebrochen wurde, sodass es wie ein gespenstischer Heiligenschein flimmerte.

Da der Fensterschlitz zu hoch für mich war, schob ich die Kleidertruhe darunter und stellte mich darauf. Auf Zehenspitzen balancierend, starrte ich angestrengt hinaus. Ich bekam den Fensterriegel zu fassen und rüttelte daran, doch das in vielen Jahren herangewehte Meersalz hatte das Fenster versiegelt. Fluchend holte ich meinen Dolch und bearbeitete die Spalte zwischen der Wand und der Scheibe mit der Klinge. An die Frage, wie ich später die Narben im Mauerwerk erklären wollte, vergeudete ich keinen Gedanken. Zu guter Letzt hörte ich den Riegel zurückschnappen. Endlich ließ sich das verbleite Fenster öffnen. Mit beiden Händen klammerte ich mich am Sims fest und zog mich hoch, bis ich durch die Öffnung spähen konnte.

Durch Nebel und Graupel hindurch starrte ich auf den Turm des Herrenhauses, den ich nur als pilzförmige Silhouette wahrnahm.

Dort flackerte hoch oben ein matter Lichtschein.

Ohne zu zögern, zog ich meine verschmutzten Reisekleider an und riss die Tür auf. In der Stille der Nacht hörte ich sie zum ersten Mal knarzen. Das Geräusch dröhnte mir regelrecht in den Ohren. Ängstlich lugte ich in den Korridor. Nichts regte sich. Also huschte ich zur Treppe. Inzwischen war es mir völlig gleichgültig, ob draußen der Sturm tobte oder drinnen Kobolde ihr Unwesen trieben. Im Turm hielt sich jemand auf, und ich musste wissen, wer das war.

Ein Knurren ließ mich erstarren. Im Halbdunkel erkannte ich Bardolf. Wie ein Wachposten hatte er sich am oberen Treppenabsatz hingesetzt. Ich wagte mich nicht weiter. Erneut knurrte er. Das klang so bedrohlich, dass mir klar war: Er meinte es ernst. Vorsichtig machte ich einen Schritt nach hinten, als er auf einmal mit einer Schnelligkeit auf mich zulief, die mir den Atem verschlug.

Gleich würde er mich anspringen. Auf einen Kampf gefasst, riss ich meinen Dolch aus der Scheide. Schon hatte ich seinen fauligen, nach Fleisch stinkenden Atem in der Nase. Ich mochte Hunde und wollte gewiss keinen töten, schon gar nicht den Liebling des Lords. Doch dann senkte Bardolf seinen massiven Schädel und schnupperte an meinen Stiefeln. Halb erwartete ich, dass er sich in meinem Fuß verbeißen würde, und schickte mich an, ihm die Klinge zwischen die Schulterblätter zu rammen, doch nach einer gründlichen Untersuchung der an meinen Stiefeln haftenden Gerüche blickte er zu mir auf und stupste mich mit der Schnauze an.

»So ist’s gut«, flüsterte ich. »Braver Junge.« Auch wenn ich es nicht wagte, seine Berührung zu erwidern, schien er sich davon überzeugt zu haben, dass ich keine Gefahr darstellte, und ließ mich vorbei. Gleich darauf hörte ich in meinem Rücken das schwere Klicken seiner Krallen auf den Bodendielen: Er tapste hinter mir her. Zwar wäre es mir lieber gewesen, er wäre geblieben, wo er war, doch dann sagte ich mir, dass mir seine Begleitung vielleicht noch zupasskommen würde. Ganz gewiss würde er mich auf jede Gefahr aufmerksam machen, die in der Dunkelheit lauerte.

Durch das Hauptportal konnte ich nicht ins Freie gelangen. Die Flügeltür war mit einer schweren Eisenstange gesichert, die ich unmöglich anheben und fortschaffen konnte. Ich würde einen Lärm veranstalten, der das ganze Haus weckte. Mir blieb also nichts anderes übrig, als umzukehren. Während ich am leeren Bankettsaal vorbeiging, versuchte ich, mir den Weg vor Augen zu halten, auf dem mich Agnes in die Küche geführt hatte. Es musste doch irgendwo vom Innenhof aus einen Zugang zum Turm geben, sagte ich mir. Abigail hatte von Gängen unter der Erde gesprochen, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich mitten in der Nacht nach unterirdischen Geheimwegen suchen sollte.

Schließlich entschied ich mich, den Korridor zur Kapelle zu benutzen, und wagte mich vorsichtig in die Dunkelheit. Zwar konnte ich kaum die Hand vor Augen sehen, aber Bardolfs selbstsichere Begleitung bestätigte mich in der Vermutung, dass ich eine ihm wohlvertraute Richtung einschlug. Er brauchte doch gewiss einen Ort außerhalb des Wohnhauses, wo er seine Bedürfnisse verrichten konnte; so kleinlich, wie Lady Vaughan war, hielt ich es für ausgeschlossen, dass sie Hundeurin auf den Binsen duldete. Und tatsächlich wies uns zu meiner Erleichterung bald ein farbloses Licht den Weg, und wir erreichten eine weit offen stehende Pforte zum Innenhof, dieselbe, durch die Agnes mich aus dem Rübenkeller herausgeführt hatte.

Ich trat in ein klammes Totenreich. Der Regen hatte nachgelassen. An seiner Stelle hatte sich ein mit Salzlake getränktes Leichentuch aus Nebel ausgebreitet, das alle Geräusche dämpfte und die Formen verzerrte. Jetzt begriff ich, warum Gomfrey gar nicht erst versucht hatte, mich zurückzuhalten. In einer solchen Düsternis konnte ich mich allzu leicht verirren und stürzte womöglich in mein Verderben. Besonnen verharrte ich, um die Umgebung genau zu erfassen und meinen Augen zu gestatten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Wachsam Fuß vor Fuß setzend, suchte ich mir meinen Weg über den Innenhof. Dinge, die ich am ersten Tag in meiner Eile, dem Rübenkeller zu entkommen, gar nicht bemerkt hatte, ragten jetzt wie Fragmente versteinerter Ungeheuer vor mir auf: eine kaputte Kutsche, die im verhärteten Schlamm feststeckte; Fässer, aufgestapelt zu einer bedenklich schiefen Pyramide; eine improvisierte Markise über einem Schuppen, der wohl als Werkstatt diente. Meine Absätze zermalmten eine schmierige Mischung aus Kieseln, Sand und Schmutz, welche die Steinplatten bedeckte. Zwar konnte ich meine eigenen Schritte kaum hören, doch in meinem überreizten Zustand bildete ich mir ein, sie dröhnten wie das Stampfen eines Riesen.

Bardolf rannte vorweg. Ich verkniff es mir gerade noch, ihn zurückzurufen, als er in der trüben Nacht verschwand. In Erwartung einer wüsten Rauferei verharrte ich einen Moment. Da jedoch nichts geschah, setzte ich meinen Weg fort. Langsam näherte ich mich dem Turm, der mit jedem Schritt größer und abweisender wirkte. Dann plötzlich stand ich unmittelbar davor und starrte hinauf zu seinen gerundeten steinernen Rippen, zu jenem einzelnen glühenden Fenster unter dem verfallenen Spitzdach.

Mitten in der von einem steten Tröpfeln durchsetzten Stille glaubte ich, Schluchzen zu hören. Ich richtete sämtliche Sinne darauf, sperrte alle anderen Eindrücke aus. Dann vernahm ich es wieder. Das Geräusch war zu schwach, um das Geschlecht bestimmen zu können, doch es klang nach einem Kind. Langsam umrundete ich den Turm, bis ich die daran grenzende Mauer des Herrenhauses erreichte. Hier, in größerer Entfernung vom Fenster, verhallte das Weinen. Das bestätigte mir, dass ich es mir nicht eingebildet hatte. Doch als ich zu der Stelle unter dem Fenster zurückrannte, war es ganz erstorben. Ebenso wie das matte Licht – als hätte es nie gebrannt.

Ich begann, den Turm nach einem Eingang abzusuchen, bis ich hoch über mir eine in die Wand eingelassene rechteckige Tür entdeckte. Zu erreichen war sie über eine baufällige Holzleiter, die sich wie Spinnweben an die Mauer klammerte. Der Turm musste einst als Zuflucht bei Belagerungen gedient haben. Die Leiter war nur noch ein Skelett. Selbst wenn ich hochspringen und mich an der untersten Sprosse hätte festhalten können, wäre sie unter meinem Gewicht zerbrochen und ich zu Boden gefallen.

Hinter mir hörte ich Bardolfs Hecheln näher kommen. Er drängte an mir vorbei und schnüffelte am Boden herum. Dann zögerte er, hob das Bein und markierte die Stelle, ehe er mit dem Schnuppern fortfuhr.

»Du bist mir ein schöner Wachhund«, murmelte ich. In der Ferne ertönte ein Donnergrollen. Nun setzte auch der Regen wieder ein, nicht mehr so heftig wie vorhin, doch es genügte, um mich bedauern zu lassen, dass ich meine Kappe vergessen hatte. Sie war der Fluch meines Lebens, diese Neigung, meine Kappe ausgerechnet dann nicht bei mir zu haben, wenn ich sie am dringendsten benötigte. Trotzdem konnte ich mich eines leisen Lachens nicht erwehren. Das war ja auch wirklich zu komisch: Da trieb ich mich in der tiefsten Nacht in einem Sturm herum, weil ich in einem vermutlich bereits seit Generationen verlassenen Turm merkwürdige Lichter sah und ein geheimnisvolles Weinen hörte.

Bardolf bellte. Ich beschwichtigte ihn und warf erst danach einen Blick auf die Stelle, wo er hoch konzentriert und mit heraushängender Zunge stand. Er bellte erneut. Und jetzt bemerkte ich, was sich unmittelbar unter seinen Pfoten befand.

Eine kleine Falltür, die fast nicht von den Steinplatten ringsumher zu unterscheiden war.

Ich bückte mich und packte ihren verrosteten Griff. Doch der war nass und rutschte mir aus der Hand. Mit doppelter Anstrengung versuchte ich es noch einmal, bis mir Schultern und Arme brannten. Ich war schon drauf und dran, mich damit abzufinden, dass ich wohl einen anderen Eingang finden oder – besser noch – dieses törichte Vorhaben aufgeben und endlich ins Haus zurückkehren musste, als ich die Stimme erneut vernahm. Nur kam sie diesmal aus dem Turm unmittelbar über mir. Es war eine Art Sprechgesang wie bei einem Kind, das trotzig ein Wiegenlied sang.

Bardolf spitzte die Ohren, starrte ebenfalls nach oben und winselte.

»Hast du das gehört, Junge?«, flüsterte ich, woraufhin er sich erwartungsvoll zu mir umdrehte, wie um mich zur Eile anzutreiben. Entschlossen rannte ich zurück zu der Werkstatt unter dem durchhängenden Baldachin. Sämtliche Werkzeuge dort waren verrostet und praktisch zu nichts mehr zu gebrauchen. Ein Wutschrei stieg mir in die Kehle. Gab es denn in dem ganzen verfluchten Haus nichts, was seinen vorgesehenen Zweck erfüllte? Nachdem ich bei den aufeinandergestapelten Fässern so gut wie alles durchwühlt hatte, entdeckte ich schließlich eine alte Schaufel. Sie war in einem kaum besseren Zustand als der übrige Abfall, aber ich eilte damit durch die schlammigen Pfützen zurück zur Falltür, schob die Schaufel unter den Deckel und drückte den Stiel mit aller Kraft nach unten.

Inzwischen keuchte ich von der Anstrengung. Schweiß rann mir den Rücken hinunter, der ohnehin vom Regen nass und klamm war. Mit Sicherheit würde ich Fieber bekommen; und wenn mich jetzt jemand dabei sah, wie ich die Falltür mit einer Schaufel bearbeitete, würde er mich obendrein für wahnsinnig halten. Doch ich versuchte es weiter und rammte die Schaufel noch tiefer in den Spalt. Die Augen auf Bardolf gerichtet, der völlig unbeeindruckt von dem über sein Fell perlenden Regen auf dem Boden hockte und mich beobachtete, drückte ich den Stiel mit aller Kraft nach unten, bis ich vor Schmerz keuchte.

Plötzlich barst der Holzstiel. Ehe ich wusste, wie mir geschah, riss mir der zersplitterte Teil, den ich weiter umklammerte, die Handfläche auf. Mit einem grässlichen Fluch schleuderte ich ihn zur Seite und begann, an der Wunde zu saugen, als ich unter der immerhin ein Stück weit aufgestemmten Falltür eine schwarze Öffnung bemerkte.

Ohne auf den Schmutz zu achten, der in die Wunde eindrang, sank ich auf Hände und Knie nieder, packte die andere Hälfte der Schaufel und bearbeitete mit dem Blatt die schmale Öffnung um die Falltür herum. Nachdem ich mich eine schiere Ewigkeit abgemüht hatte, versuchte ich es noch einmal mit dem abgebrochenen Stück des Stiels. Der Spalt ließ sich ein wenig vergrößern, aber es reichte immer noch nicht. Allerdings wehte mir aus der Öffnung ein fauliger Gestank entgegen, der Gedanken an tote Wesen weckte. Wie unter Zwang grub ich weiter und räumte angetrockneten Schmutz und Moos beiseite, bis mir schließlich dämmerte, dass darunter eine verwesende Leiche liegen konnte – am Ende womöglich die von Lady Parry?

Als ich es erneut mit dem Griff probierte, gelang es mir, die Falltür so weit hochzuziehen, dass ich die Hand und den Arm durch die Öffnung stecken konnte. Der Raum fühlte sich leer, kühl und feucht an. Das musste ein Keller sein wie das Gewölbe bei der Pforte, die zum Garten führte. Hier hatten früher diejenigen, die sich im Turm verbarrikadierten, wohl ihre Lebensmittel gelagert. An der unteren Seite der Falltür ertastete ich einen zerbrochenen Riegel, der sich allerdings nicht verschieben ließ.

Ich machte mich wieder ans Graben, das ich erst unterbrach, als meine Kräfte erlahmten. Mittlerweile war ich von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt. Immerhin hatte ich die Tür halb aufgestemmt. Ein letztes Mal zerrte ich am Griff, und mit einem widerwilligen Stöhnen gab die Falltür den Weg endlich frei.

Jetzt war auch Bardolf auf den Beinen und steckte die Nase neugierig in die Öffnung. Ich konnte nicht wissen, was dort unten sein mochte. Gerade wollte ich nach seinem Halsband greifen, als er mit einem freudigen Bellen ins Dunkle sprang.

Nun, Hunde haben ein Gespür für Gefahren, und Bardolf wirkte nicht im Geringsten unruhig. So zwängte auch ich mich durch die Öffnung, die breit genug für einen Korb war, wenn auch nicht für sehr viel mehr, und landete auf der obersten Stufe einer schmalen Treppe. Darunter wartete undurchdringliche Dunkelheit.

Im Turm über mir herrschte Stille.

Wer immer dort oben sein mochte, wusste, dass jemand eingedrungen war.

Igitt! Ich hasse Spinnen! Abigails Worte begleiteten mich, als ich mich die Treppe nach unten vortastete. Ich war jämmerlich unvorbereitet. An nichts hatte ich gedacht, nicht einmal an eine Fackel oder wenigstens an einen Kerzenstummel, die mir den Weg erleuchtet hätten, wenn es mir denn gelungen wäre, den Flintstein während des Regenschauers trocken zu halten. Überdies waren meine Stiefel voller Wasser, sodass jeder meiner Schritte von einem schmatzenden Geräusch begleitet wurde. Während ich mich an der Wand entlanghangelte, erwartete ich, jeden Moment über eine Leiche zu stolpern. Der Geruch war entsetzlich. Er drang durch all meine Poren, und ich achtete darauf, nur noch durch den Mund zu atmen, um dem Schlimmsten zu entgehen. Doch nach und nach dämmerte mir, dass es nicht Leichenfäule war, die hier die Luft verpestete, sondern der Gestank von menschlichen Exkrementen. Vielleicht wurden die Latrinen des Hauses in unmittelbarer Nähe entleert, und der Dreck war, zusammen mit sonstigem Abfall, mit dem Regenwasser nach oben gestiegen und in den Keller gesickert. Ob der Boden wirklich unter Wasser stand, konnte ich in meinem triefend nassen Zustand nicht beurteilen. Wenigstens stieß ich nicht gegen irgendwelche Gegenstände. Langsam bewegte ich mich in der Finsternis zu einer Stelle vor, wo das Schwarz nicht ganz so dicht zu sein schien.

Ich befand mich in einem Stollen mit einer derart niedrigen Decke, dass ich mit der Stirn dagegenprallte und kurz Sterne explodieren sah. Mich in geduckter Haltung weiter vorwärtstastend, erreichte ich eine kahle Kammer, nicht größer als ein Schuppen. Zu meiner Linken erhob sich eine schmale Wendeltreppe. Da von Bardolf jede Spur fehlte, nahm ich an, dass er diese Treppe bereits erklommen hatte. Zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg ich nach oben. Wohlweislich vermied ich es, in die Tiefe zu schauen, denn es gab kein Geländer, und Höhen waren mir zuwider. Die Treppe selbst führte wohl zur Turmspitze. Bald gelangte ich zu einem Absatz, der vor einer Tür endete. Mit einer Hand zog ich meinen Dolch aus dem Stiefel, mit der anderen drückte ich die Klinke nach unten. Die Tür schwang in einen weiteren Raum auf, der nur wenig größer war als der am Fuß der Treppe. Durch eine schlecht vermörtelte Schießscharte an der Wand gegenüber sickerte die Nacht herein und mit ihr genügend Dämmerlicht, um mir zu offenbaren, dass sich hier niemand befand.

Ich kehrte zur Treppe zurück. Die drückende Stille setzte mir zu. Ich konnte mein Herz in den Ohren hämmern hören und das stetig von meinem Umhang auf den Steinboden tropfende Wasser. Es war wohl nicht klug von mir gewesen, ohne mein Schwert hierherzukommen, doch zu meiner eigenen Beruhigung sagte ich mir, dass Bardolf nicht gebellt noch sonst wie auf Gefahren aufmerksam gemacht hatte. Er musste die Person kennen, die vorhin gesungen hatte, und ich bezweifelte sehr, dass Gomfrey oder Lord Vaughan während eines Sturms weinend im Inneren des Turmes hockten und Kinderlieder sangen.

Das musste Hugh sein, dieser mysteriöse, geheime Freund. Die Vaughans hatten mich getäuscht. Im Turm wurde aus irgendeinem unerklärlichen Grund ein Junge verborgen – ein Kind, mit dem Raff, ihr gemeinsamer Sohn und ihre Tochter gespielt hatten, aber von dem ich nichts wissen sollte. Den Grund würde ich schon noch erfahren, und wenn ich ihn ihnen eigenhändig aus der Nase ziehen musste, denn jetzt ging es mir auch darum zu beweisen, dass ich nicht am Rande des Wahnsinns taumelte, sondern recht hatte mit der Vermutung, dass im Turm ein Geheimnis verborgen wurde. Und wenn die Vaughans mich diesbezüglich belogen hatten, wie konnte ich mich dann noch darauf verlassen, dass sie mir die Wahrheit über Lady Parry gesagt hatten?

Ich kam an eine weitere Tür. Sie stand weit offen. Dahinter glomm Kerzen- oder Laternenlicht. Ich hatte mir also nichts eingebildet. Doch zunächst musste ich innehalten, um tief durchzuatmen.

Und jagt ihm keine Angst ein. Er ist sehr scheu.

Wenn Hugh noch ein Kind war, musste ihm in der Tat bange sein. Ganz allein hier oben, stand er gewiss Todesängste aus, wenn ein vor Schmutz starrender Fremder eindrang. Ich musste ja geradezu wie ein Dämon auf ihn wirken. Meine Versuche, mir den Schlamm aus dem Gesicht zu wischen, brachten nichts ein – da hätte nur noch ein heißes Bad mit Seife geholfen –, aber bevor ich über die Schwelle trat, strich ich mir trotzdem mit den Händen über das Gesicht und meinen längst ruinierten Umhang.

Bardolf lag auf dem Steinboden und wedelte freudig mit dem Schwanz, als er mich bemerkte. Ich erfasste die Situation mit einem Blick – ein großer kreisrunder Raum unter dem Giebeldach, in einer Ecke eine durchhängende Pritsche mit einer zerwühlten Decke darauf, davor ein schiefer Hocker und eine umgedrehte Obstkiste, auf der ein Holzteller und eine glühende Laterne standen. Der Docht war so weit heruntergebrannt, dass die Flamme zischte und flackerte.

Doch niemand war zu sehen. Ohne Bardolf aus den Augen zu lassen, trat ich tiefer in den Raum und blickte mich um. Hierher mussten sich die Bewohner des Anwesens früher vor Angriffen gerettet haben. Jetzt war er bis auf die Pritsche kahl und bot keinerlei Möglichkeiten, sich zu verstecken.

Mein Blick fiel erneut auf die Pritsche. Die Decke war mehr als zerwühlt. Bei näherem Hinschauen bemerkte ich, dass sie sich geringfügig hob und senkte.

Jemand musste sich darunter verbergen.

»Ich tue dir nichts«, sagte ich leise und trat behutsam näher, wobei ich darauf achtete, immer den Weg zur Tür zu versperren, falls die Person unter der Decke hervorschoss und zu flüchten versuchte. »Ich bin ein Freund. Abigail hat mir von dir erzählt. Ich weiß, dass du Raffs geheimer Freund bist. Ich bin hier, um dich zu beschützen.« Ich sprach wie mit einem wilden Tier, schließlich konnte ich ja nicht wissen, ob das Kind mich überhaupt verstand. Wenn es mit den anderen gespielt hatte, hatten sie sich womöglich mit anderen Mitteln als Worten verständigt.

Ich verharrte, als ich sah, dass die unter der Decke zusammengerollte Gestalt zitterte.

Dann riss ich beherzt die Decke zurück. Eine fuchsrote strubbelige Haarmähne kam zum Vorschein, dann eine von Tränen glänzende Wange, ehe Hände ein Gesicht bedeckten, das fast die angezogenen Knie berührte.

»Hugh?«, flüsterte ich.

Angespannte Stille trat ein. Der Junge regte sich.

»Ihr … Ihr kennt meinen Freund?« Raff hob das Gesicht zu mir.