Chris schloss die Augen und atmete die warme Nachtluft tief ein. Schmutzige Lagosluft. Ganz anders als die, die er während seines dreijährigen Studiums in Deutschland geatmet hatte. Er hustete. Seit er fastete, das musste er sich eingestehen, ging es ihm nicht gut. Er wusste, dass das an der Hexerei lag, mit der seine Frau ihn belegt hatte. Sie wehrte sich gegen seine Reinigungsversuche. Er musste weiterfasten. Irgendwann würde es ihm besser gehen, er würde sich ihrer Macht widersetzen und sein Leben und seine Frau wieder in den Griff bekommen. Vielleicht.
Er saß an dem schwarzen schmiedeeisernen Tor vor Vater Okes Haus und wartete. Das Tor war stabil und es saß in einer stabilen, dicken und weißen Mauer, die das prächtige Anwesen umgab. Chris’ Haus war nur von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben und nicht vor den Blicken neugieriger Passanten geschützt. Er und seine hinterhältige Frau Adaora verdienten zwar gut, aber selbst sie konnten sich den Bau und den Erhalt einer solchen Mauer nicht leisten, nicht wenn sie sich auch noch um den Bau und den Erhalt ihres Hauses kümmern mussten.
Auf beiden Seiten der Mauer standen winzige Häuser, in denen wahrscheinlich zehnmal so viele Menschen lebten. Arme Menschen. Auch diese Heime waren von Mauern umgeben, allerdings denen weit größerer Häuser, die sie bedrängten. Lagos ist wie ein großer Zoo, dachte Chris. Alle sind hinter Mauern und Toren eingesperrt, ob sie wollen oder nicht. Es ist sicher, aber es gibt keine Sicherheit.
Er rieb sich die roten Augen, als Vater Oke langsam das Tor öffnete. Er sah müde aus, aber die Sache duldete keinen Aufschub. Unter solchen Umständen durfte man auch einen Heiligen mitten in der Nacht wecken. Trotzdem entschuldigte sich Chris. »Es tut mir so leid, dass ich Sie geweckt habe, aber …« Er konnte sich nicht länger beherrschen. Schluchzend und keuchend stützte er sich schwer auf Vater Okes Schulter. Er war so tief in seinen Gefühlen versunken, dass ihm die Verärgerung, die kurz auf Vater Okes Gesicht trat, nicht auffiel.
»Meine Frau … meine … meine … ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll«, schluchzte Chris in Vater Okes Nachthemd.
Vater Oke tätschelte Chris’ Rücken und stieß ihn dann entschieden zurück. »Was ist passiert?«, fragte er. Angewidert warf er einen Blick auf den feuchten Fleck, den Chris’ Tränen auf seiner Schulter hinterlassen hatten. »Du … du hast doch nichts getan, oder?«
»Nein, nein. Ich nicht. Ich …«
Vater Oke seufzte erleichtert. »Komm rein, komm rein«, sagte er. »Wir wollen drinnen reden.«
»Danke, Vater«, sagte Chris, als sie zwischen Vater Okes Mercedes und seinem BMW hindurchgingen. Vater Oke zog die Augenbrauen zusammen, als Chris dem BMW etwas zu nahe kam. Der Wagen hatte trotz der schlechten Straßen in Lagos noch keinen Kratzer abbekommen und er wollte nicht, dass irgendein verzweifelter Idiot etwas daran änderte.
Chris und Vater Oke saßen sich auf Ledersesseln gegenüber. Eine übernächtigt wirkende junge Frau, die einen Schlafanzug trug, brachte ihnen eine Flasche Rotwein. Als sie Chris ein Glas einschüttete, fragte er sich, ob der Wein schlecht für sein Fasten und seinen Versuch, die Hexerei seiner Frau abzuschütteln, sein würde.
»Entspann dich, Chris«, sagte Vater Oke, der seine Gedanken zu lesen schien. Sie sahen zu, wie die Frau den Raum verließ. »Wein ist nichts Schlechtes. Das ist das Getränk Christi und kann also nur gut sein.«
Chris nickte und hob das Glas an seine Lippen. Seine Hand zitterte, als er daran nippte.
»Nun, Chris«, meinte Vater Oke. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, eine Meeresbiologin zu heiraten?«
»Aber sie und ich kennen uns seit frühester Kindheit«, sagte Chris. »Unsere Väter waren gut befreundet …«
Vater Oke schüttelte den Kopf, stellte sein Weinglas ab und beugte sich vor. Er wirkte gequält, so als trüge er eine große Last auf seinen Schultern. »Hör mir zu, Bruder Chris. Frauen sind … das schwächere Gefäß. So steht es schon in der Bibel. Deine Adaora ist eine hochgebildete Biologin, aber sie ist trotzdem wie alle anderen Frauen. Das kann sie nicht ändern.« Er lächelte und nippte an seinem Wein. Dann lachte er laut auf. »Kai! Deine Frau ist ganz schön frech, o!«
»Glauben Sie wirklich, dass sie eine Hexe ist?«, fragte Chris.
»Das tue ich, Bruder Chris. Sogar eine Meereshexe, die schlimmste Sorte. Bedenke, wie viel sie über Wasser weiß. Aber du musst weder Angst haben noch vor ihr zittern, o«, sagte er lächelnd. »Meine Kirche hat Macht. Und es ist meine Aufgabe, solche Probleme zu lösen.«
Chris nippte mit immer noch zitternder Hand an seinem Wein. Er hinterließ einen sauren Geschmack in seinem Mund. »Gut, denn sie hat heute Abend etwas mit mir gemacht. Ich wollte sie unterwerfen, aber auf einmal konnte ich mich nicht mehr bewegen! Ich war an den Boden gefesselt wie eine Ziege, die geopfert werden soll!«
Vater Oke runzelte die Stirn, schwieg jedoch.
»Genau.« Chris nickte. Dass Vater Oke nichts sagte, interpretierte er als ein Zeichen dafür, dass er das glaubte. »Und das ist noch nicht alles. Vor knapp einer Stunde ging ich runter in ihren Hexenbau und stieß dort auf meine Frau und zwei fremde Männer!«, sagte er. »Zwei! Und da war … noch eine Frau.
Noch eine Hexe! Sie verwandelte sich vor meinen Augen!«
»Ah, Bruder Chris, ganz ruhig«, meinte Vater Oke. Es fiel ihm schwer, dieses traurige Lamm aus seiner Herde nicht auszulachen. »Es ist wichtig, dass du fastest und die Hexerei deiner Frau aus deinem Körper verbannst. Aber du hast in letzter Zeit zu viel gefastet … vielleicht siehst du nicht wirklich, was du zu sehen glaubst?«
»Ich weiß, was ich gesehen habe, Vater«, beharrte Chris. »Diese Frau hat sich in mich verwandelt! Ich kann sie Ihnen zeigen! Ich kann …«
»Entspann dich, Bruder Chris«, sagte Vater Oke lächelnd. »Es ist schon spät.« Er seufzte. »Okay, wenn deine Frau noch eine Hexe in dein Haus geholt hat, dann sollten wir das Tageslicht abwarten. Ich werde morgen kommen.«
»Aber …«
Vater Oke schlug ein Kreuz. Das beruhigte seine Gemeindemitglieder immer, so auch dieses. Chris entspannte sich sofort und hörte auf zu reden. »Vertraue auf den Herrn, Bruder Chris«, sagte Vater Oke sanft. »Alles wird sich fügen, ja? In der Zwischenzeit solltest du versuchen, Frieden mit deiner Frau zu schließen. Vermeide Streitigkeiten; Frauen genießen die. Lass dich nicht von ihr überlisten. Denke an Jesus Christus, der uns bat, die andere Wange hinzuhalten. Geh nach Hause. Geh zu Bett. Ich werde morgen zu dir kommen.«
Die Worte seines geliebten Priesters berauschten Chris und sorgten dafür, dass er sich besser fühlte. Er lächelte sogar ein wenig gequält. »Das werde ich, Vater. Danke. Vielen Dank.«