Titeldekoration

Eins

Das Aufregendste, was meiner vierten Klasse je passieren könnte:

Mir war klar, dass etwas wirklich Aufregendes passiert sein musste, weil sich ziemlich viele Leute auf dem Schulhof tummelten. Jemand kreischte, und ein paar Mädchen sprangen auf und ab. Sie hüpften herum wie Popcorn.

Meine beste Freundin Katie Hillegonds hockte oben auf der Rutsche. Sie saß gerne dort, wo sie den Überblick hatte. Ich lief zu ihr hinüber. »Was ist denn hier los?«

»Ich habe ein neues Buch bekommen.« Katie hielt es mir hin. »Es ist über die NASA. Meine Mutter meinte, es wäre für ältere Kinder. Aber ich hab ihr gesagt, wenn ich Astronautin werden will, kann ich keine Bücher für kleine Kinder lesen. Hast du gewusst, dass es im Weltraum keine Geräusche gibt?« Sie wartete meine Antwort gar nicht ab. »Es ist ein gutes Buch, doch es wäre noch besser, wenn mehr Bilder drin wären.« Sie blätterte es durch.

Ich verstand die Menschen – oder die Langweiler, wie wir in der Feengemeinde sie nannten – nicht immer. Ich stammte aus einem alten Geschlecht guter Feen, hatte aber immer bloß eine gewöhnliche Langweilerin sein wollen. Oder zumindest war das der Fall gewesen, bis ich herausfand, was für einen Spaß es machen konnte, ein Zauberwesen zu sein. Wenn ich kein Zauberwesen wäre, könnte ich schließlich nicht mit meinem Hund sprechen und verstehen, was er sagt. Wenn ich kein Zauberwesen wäre, hätte ich meine Schwester auch nicht davor bewahren können, von einer Echse gefressen zu werden. Es war keine Riesenechse oder so, aber meine Schwester war damals wirklich klein gewesen – etwa so groß wie ein Glühwürmchen. Obwohl es also keine riesige Mutantenechse war, hatte es für den Rettungsplan trotzdem ganz schön viel Hirnschmalz gebraucht. Und das sage ich jetzt nicht, um anzugeben. Jedenfalls hatte ich beschlossen, ein Zauberwesen zu bleiben, dafür aber eine Langweilerin zur Freundin zu haben.

Bis zu diesem Schuljahr hatte ich die Cottingley-Feenschule besucht. Ich hatte meinen Eltern die Erlaubnis abgerungen, Langweiler aus der Nähe studieren zu dürfen, solange niemand herausfand, dass ich eine Fee war. Ich ging zwar erst seit ein paar Monaten auf die Riverside-Grundschule, und es gab noch immer eine Menge Dinge, die ich nicht verstand, aber eins wusste ich bestimmt: Keiner aus unserer Klasse war aufgeregt, weil Katie ein Buch über Raketen hatte.

»Toll. Sieht nach einem coolen Buch aus.«

Ein guter Rat, um mit Langweilern auszukommen: Tu immer so, als würdest du dich für dasselbe interessieren wie sie, auch wenn das gar nicht der Fall ist. Wenn deine beste Freundin zum Beispiel einen Vogel als Haustier hat, tu so, als würdest du es echt faszinierend finden, dass Vögel sich säubern, indem sie Staubbäder nehmen. (Obwohl sich ein Staubbad nach einer ziemlich blöden Methode anhört, um sauber zu werden.)

»Weißt du, warum alle so aufgeregt sind?«, fragte ich und versuchte, Katies Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.

Katie blickte auf die Gruppe von Mädchen hinunter. »Oh. Miranda geht zu einer Hochzeit.«

Ich beobachtete Mirandas Freundin Bethany, die sich aufführte, als würde sie vor Begeisterung gleich in Ohnmacht fallen. Bethany machte immer aus allem gleich ein Drama, aber diesmal schienen auch die anderen Mädchen völlig aus dem Häuschen zu sein. »Ist das so was Besonderes?«

Katie schlug ihr Buch mit einem Knall zu. »Genau! Wen interessiert es schon, dass sie eine Brautjungfer ist? Wenn du mich fragst, kann die Hochzeitstorte gar nicht so gut schmecken, dass man dafür unbequeme Schuhe und ein Faschingskostüm in Kauf nimmt.«

Stirnrunzelnd dachte ich über ihre Worte nach. Mir fielen eine Menge Dinge ein, die sich nach mehr Spaß anhörten, als unbequeme Schuhe zu tragen. Unter den Wünschen, die meine Mutter erfüllte, lagen die Hochzeitswünsche allerdings weit vorne. Gute Feen kümmerten sich einen Großteil ihrer Zeit um Liebesgeschichten, also musste was dran sein.

»Mein Kleid ist hellrosa, und wir werden Blumensträuße aus rosa und weißen Rosen tragen«, hörte ich Miranda sagen. Die Mädchen seufzten kollektiv auf.

»Rosen bedeuten wahre Liebe«, sagte Bethany. »Jede Blume hat eine Bedeutung, wisst ihr.« Ein paar Mädchen nickten. Bethany musste immer bei allem die Expertin herauskehren. »Man muss echt vorsichtig sein, welche Blumen man in einem Brautstrauß verwendet, sonst ist die ganze Ehe zum Scheitern verurteilt.«

Ich war mir nicht sicher, was die Bedeutung von Rosen anbelangte. Ich war mir jedoch ziemlich sicher, dass Bethany sich irrte und Blumen bestimmt nichts ruinierten.

»Ich frage mich, was Löwenzahn bedeutet«, sagte Paula.

Bethany ignorierte sie.

»Ich bin nicht bloß eine gewöhnliche kleine Brautjungfer. Ich bin verantwortlich dafür, während der Trauung den Brautstrauß meiner Cousine zu halten, damit sie sich aufs Heiraten konzentrieren kann.« Miranda zuckte mit den Achseln. »Das ist eine ganz schön wichtige Aufgabe.«

Alle schwiegen einen Moment ehrfürchtig angesichts Mirandas Aufgabe. Sie führten sich auf, als würde Miranda eine Bombe entschärfen und nicht einen Blumenstrauß halten. Manchmal waren Langweiler sehr verwirrend.

Es läutete. Katie sprang auf und surfte die Rutsche hinunter, wobei sie mit ausgestreckten Armen das Gleichgewicht hielt. Ich kletterte die Leiter hinunter. Wenn ich versuchte, im Stehen runterzurutschen wie Katie, würde ich bestimmt hinfallen. Und wenn ich im Sitzen runterrutschte, würde Bethany sich über mich lustig machen, dass ich mich wie ein Baby benahm. Die vierte Klasse war echt kompliziert. Manchmal war es in Ordnung, ein Kind zu sein, und manchmal benahmen sich alle wie Erwachsene. Das Schwierige daran war herauszufinden, wann man sich wie benehmen musste. Es wäre bedeutend leichter, wenn es ein Handbuch gäbe. Im Gegenzug für die Erlaubnis meiner Eltern, auf die Langweilerschule gehen zu dürfen, musste ich mich bereit erklären, anderen Feen in der Feenschule etwas über Langweiler beizubringen. Doch wie sollte ich künftigen guten Feen helfen, die Langweiler zu verstehen, wenn ich mir selber die halbe Zeit keinen Reim auf ihr Verhalten machen konnte?

»Ich finde es cool, dass du eine Brautjungfer bist«, sagte ich zu Miranda, als wir uns in einer Reihe aufstellten, um hineinzugehen. »Ich würde gerne mal dein Kleid sehen.«

Katie war meine beste Freundin, aber irgendwie faszinierte Miranda mich noch immer. Und das ging nicht nur mir so. Alle an unserer Schule mochten Miranda, einschließlich der total griesgrämigen Serviererin in der Schulkantine, die ihr immer eine Extraportion Apfelmus gab. Sogar die Fünftklässlerinnen, die uns andere meistens ignorierten, mochten Miranda. Mir drängte sich der Gedanke auf, dass es wirklich cool wäre, auch mit Miranda befreundet zu sein.

»Glaubst du vielleicht, sie kommt im Brautjungfernkleid in die Schule?«, fragte Bethany. »Sonst noch was, Willow?« Sie verdrehte die Augen und sah Paula an.

Ich ignorierte Bethany. »Vielleicht kannst du ja ein Foto davon mitbringen.«

»Ich sollte ein Foto vom Kleid meiner Cousine mitbringen. Es ist das schönste Kleid, das ihr je gesehen habt. Es war vorne auf der Zeitschrift Die Braut drauf. Es ist schulterfrei, und der Rock besteht aus mehreren Schichten von Spitze und ist mit Perlen und Pailletten bestickt, sodass er beim Gehen raschelt.«

Sämtliche Mädchen um uns herum stießen einen weiteren begeisterten Seufzer aus. Ich zog mein kleines Langweilernotizbuch aus der Tasche und kritzelte hinein: Kleider sind umso besser, je mehr sie glitzern. Man wusste nie, welche Informationen über Langweiler irgendwann einmal nützlich sein könnten. Eines Tages würde ich vielleicht einen Kleiderwunsch erfüllen müssen, und jetzt wusste ich, dass ein wenig zusätzlicher Glitzer nicht schaden konnte.

Nathan, der hinter Miranda stand, riss mir das Notizbuch aus der Hand und hielt es über seinen Kopf. Das wäre keine große Sache gewesen, wäre er nicht der Größte in unserer Klasse. »Hab dein Tagebuch!«, brüllte er.

»Gib’s mir zurück.« Ich sprang hoch und versuchte, es ihm wieder wegzunehmen, kam aber nicht ran. Lachend drehte er sich im Kreis.

»Wer will Willows Geheimnisse hören?« Seine Kumpels lachten, was ihn noch mehr anstachelte. »Kleider sind umso besser, je mehr sie glitzern«, las er vor. »Hm, träumst du etwa von deiner eigenen Hochzeit?«

Mein Gesicht glühte. Hoffentlich blätterte er nicht weiter und las noch mehr von den Sachen, die drinstanden. Ich war mir ziemlich sicher, dass sich in meiner Klasse niemand außer mir Notizen darüber machen musste, wie man dazugehörte. Wieder versuchte ich, an mein Notizbuch heranzukommen, doch so lange ich nicht fliegen konnte wie meine Schwester, würde das nie klappen.

»Gib es mir bitte«, bat ich ihn. Ich blickte mich um und hoffte, dass unsere Lehrerin, Mrs Caul, herauskommen und ihn dazu bringen würde, es mir zurückzugeben, aber sie war noch drinnen. Nie war ein Erwachsener in der Nähe, wenn man ihn brauchte.

Nathan legte den Kopf schief. »Willow möchte heiraten. Ist das nicht romantisch?« Er klimperte mit den Wimpern und setzte ein süßliches Lächeln auf. »Sie ist verliiiiiiiebt.«

»Wer will die denn schon heiraten?«, fragte Bethany, und Nathan lachte.

Nathan hielt mein Notizbuch noch immer über dem Kopf, während er umzublättern und weiterzulesen versuchte. »Vielleicht steht hier ja, wen sie liebt.«

»Gib es zurück«, verlangte Katie.

Nathan lachte. Katie war sogar noch kleiner als ich. Nie im Leben würde sie sich das Notizbuch schnappen können. Wenn nicht ein Wunder geschähe, wäre mein Leben in Kürze zerstört. Nathan würde meine ganzen Notizen vorlesen, und alle würden sich das restliche Schuljahr über mich lustig machen. Wäre mein Hund Winston in der Nähe gewesen, hätte ich ihn dazu gebracht, Nathan die Lippen abzubeißen. Ohne Lippen könnte Nathan nicht so viel reden.

Katie boxte Nathan fest in den Bauch. Er stieß ein lautes Grmpf aus und beugte sich vor. Katie riss ihm das Notizbuch aus der Hand und gab es mir zurück.

»He, man darf niemanden schlagen!«, schrie Bethany.

»He, man darf nicht stehlen«, gab Katie zurück, wobei sie Bethany nachmachte und eine Hand in die Hüfte stemmte.

Ich presste das Notizbuch an meine Brust. Ich würde es nie wieder aus der Hand geben. Vielleicht würde ich meine Mutter bitten, es zu verzaubern, damit ein Langweiler – sollte es je wieder einer in die Finger kriegen – nur Seiten vorfand, auf denen Nathan Filler ist ein kompletter Idiot stand.

Mrs Caul kam heraus und klatschte in die Hände. »Okay, stellt euch endlich alle in einer Reihe auf.«

Ich hielt die Luft an, ob Bethany Katie verpetzen würde. Mrs Caul würde sich dann mein Notizbuch vielleicht ansehen wollen, um herauszufinden, warum wir so einen Aufstand darum machten. Obwohl ich sie für die beste Lehrerin auf der ganzen Welt hielt – und sie nach Vanille roch –, wollte ich nicht, dass sie es las. Niemand sagte was. Alle schlurften wieder in die Reihe zurück, und wir folgten Mrs Caul nach drinnen.

»Willow ist verlüüübt«, flüsterte Nathan mit verstellter Stimme, die sich anhörte wie die eines Kleinkinds. Die ganze Reihe Viertklässler kicherte.

Ich fuhr herum und funkelte ihn an. Er schob eine Hand unter sein Hemd und bewegte sie vor und zurück, als würde sein Herz klopfen wie verrückt.

Jetzt reichte es mir. Dafür würde Nathan Filler büßen müssen.