Ja, genau. Meine Mutter übertreibt manchmal.
Gestern Abend gab es eine große Besprechung mit der ganzen Familie, ob Katie mich zu Hause besuchen durfte. Meine Schwester, Lucinda, war absolut dagegen. Mir war aber nicht klar, ob sie deswegen dagegen war, weil sie nicht wollte, dass ich etwas bekam, was ich mir wünschte, oder weil sie Angst vor Langweilern hatte. Mit Spinnen war es das Gleiche. Meine Schwester behauptete, sie habe keine Angst vor ihnen, doch wenn ihr eine über den Weg lief, wurde sie ganz komisch. Ich hatte nichts gegen Spinnen. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie gruselig aussahen. Die Leute hatten ja auch nichts gegen Marienkäfer. Es kam mir unfair vor, ein Insekt nicht zu mögen, bloß weil es das Pech hatte, nicht gerade attraktiv auszusehen. Meiner Meinung nach würden die Leute Spinnen viel lieber mögen, wenn wir sie herausputzen dürften. Würdet ihr etwas zerquetschen wollen, das eine hellblaue gepunktete Schleife und kleine schwarze Lackschuhe trägt? Ich auch nicht. Sobald ich Ausbildungsstufe drei erreichen würde und mehr Tierzauber anwenden durfte, würde ich meinen Spinnenverschönerungsplan in die Tat umsetzen.
Ich rang meinen Eltern schließlich die Erlaubnis ab, dass Katie mich besuchen durfte, indem ich darauf hinwies, dass es ein größeres Risiko war, wenn sie nicht vorbeikommen durfte. Langweiler hatten ständig Besuch von ihren Freunden. Wenn ich Katie nicht einlud, würde sie viel eher herausfinden, dass mit mir was nicht stimmte. Ich wusste, dass meine Mutter nervös war, doch meinem Vater gefiel die Idee irgendwie. Er redete dauernd davon, dass er sich schon seit Langem nicht mehr mit einem Langweiler von Angesicht zu Angesicht unterhalten hatte. Er musste mir versprechen, keine Witze zu erzählen. Manchmal hielt mein Vater sich für lustig, war aber bloß peinlich. Letztes Jahr erzählte er beim Elternabend der Feenschule einen Witz, und weil keiner lachte, versuchte er mehrmals ihn zu erklären – es war schrecklich. Wenn man einen Witz erst erklären musste, damit jeder ihn kapierte, war er nicht wirklich witzig. Das sollte eine Regel sein.
Meine Eltern und ich hatten am Vorabend Stunden damit verbracht, durchs Haus zu gehen und Sachen entweder wegzuräumen oder zu verzaubern, damit Katie sie überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Lucinda wurde echt wütend, weil wir ihr Schulprojekt versteckten, bei dem eine Orange sich in eine kleine Kutsche verwandelte. Sie hatte dafür ein Schaubild mit Gebäuden gebaut, die aus Zuckerwürfeln bestanden. Sie war wirklich stolz darauf, aber es nahm fast den ganzen Esszimmertisch ein. Wir hätten es dort lassen können, doch sie hatte den Zauber mit der Orange nicht so ganz hingekriegt, weshalb diese dazu neigte, willkürlich zwischen Frucht und Kutsche hin- und herzuwechseln. Meine Mutter schlug vor, das Schaubild ins Gästezimmer zu stellen, woraufhin Lucinda wütend in ihr Zimmer hinaufstapfte, weil sie fand, sie müsste nichts umräumen, bloß weil meine Freundin zu Besuch kam. Ältere Schwestern glaubten, es müsste immer alles nach ihrem Kopf gehen.
Ich dachte den ganzen Tag in der Schule daran, dass Katie zu Besuch kommen würde. Ich freute mich sehr darauf, ihr mein Zimmer zu zeigen, aber ich war auch echt nervös, weil ich wollte, dass alles klappte.
Nach der Schule ging Katie mit mir nach Hause.
»Ich freue mich schon darauf, deine Schwester kennenzulernen«, sagte Katie.
»Sie ist nicht besonders aufregend.« Ich war mir nicht sicher, ob Lucinda überhaupt aus ihrem Zimmer herauskommen würde. Sie schmollte gerne, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging. Vermutlich hielt sie es für eine Strafe, wenn sie sich rarmachte. Was mich betraf, konnte sie für immer und ewig in ihrem Zimmer bleiben. Die Vorstellung gefiel mir.
»Ich habe mir immer eine Schwester gewünscht. Ich hätte mich sogar mit einem Bruder zufriedengegeben«, sagte Katie und schwang beim Gehen ihre Schultasche.
»Machst du Witze? Du hast echt Glück, dass du ein Einzelkind bist. Schwestern sind Nervensägen«, sagte ich zu ihr.
»Aber es wäre immer jemand zum Rumhängen da.«
Ich sah Katie an. Für jemanden, der so klug war, hatte sie ein paar ganz schön große Wissenslücken.
»Ältere Schwestern wollen nie mit dir rumhängen. Meistens schreien sie dich an, weil du ihre Sachen angefasst hast, und knallen dir danach die Tür vor der Nase zu.« Ich blieb vor unserem Haus stehen.
»Mensch. Ich wusste nicht, dass dein Vater den Garten wieder neu gemacht hat. Ich bin wohl eine Weile nicht mehr hier vorbeigegangen«, sagte Katie.
Mein Vater liebte den Garten. Er formte aus unseren Sträuchern ständig was anderes. Lange Zeit hatten wir einen riesigen immergrünen Drachen, aus dessen Maul knallrote Geranien schossen, als wären es Flammen. Im Moment waren die Sträucher so geformt, dass sie wie ein Hunderudel aussahen, das durch den Garten rannte. Unten in der Nähe des Gehsteigs war ein Haufen weißer Blumen, die einen riesigen Knochen darstellten. Manchmal kamen Langweiler aus der Gegend vorbei, um Fotos zu machen. Ich versuchte meinem Vater zu erklären, dass unser Garten uns überhaupt nicht half, zur normalen Langweilerwelt dazuzugehören, aber er ließ sich nicht beirren.
»Mein Vater arbeitet gerne im Garten. Ständig verändert er irgendwas«, erklärte ich.
Ich öffnete die Tür und erschrak. Meine Eltern standen in der Diele und erwarteten uns. Papa trug einen Anzug, und Mama hatte ihren schicken, weit ausgestellten Tellerrock an, der sich um ihre Taille bauschte. So viel also zum Thema ungezwungenes Benehmen!
»Willkommen bei uns daheim«, sagte Mama.
Katie sah ein bisschen überrascht aus, als sie die beiden da stehen sah. Dann trat mein Vater vor und salutierte vor Katie. Er salutierte vor ihr. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Genau aus diesem Grund lud ich nie Besuch zu mir ein.
»Sie ist keine Generalin, Papa«, sagte ich.
Papa lachte herzhaft, als hätte er einen Witz gemacht, aber ich wusste, dass sein Lachen unecht war. »Nun, selbstverständlich nicht. Sie ist nicht alt genug, um eine Generalin zu sein.«
»Möchtet ihr einen kleinen Imbiss?«, bot Mama an, um das Thema zu wechseln, bevor mein Vater anmerken konnte, dass Katie bloß alt genug für eine Gefreite oder vielleicht einen Feldwebel war.
»Danke, Mrs Doyle«, sagte Katie. »Das wäre sehr nett.« Sie war immer überaus höflich, wenn Erwachsene in der Nähe waren. Ich wusste, dass meiner Mutter ihre Manieren gefallen würden.
Wir marschierten ins Esszimmer, und mir fiel der Schulrucksack aus der Hand, als ich den Tisch sah. Meine Mutter hatte es totaaaaaaaaaaaaaal übertrieben. Jeder Quadratzentimeter des Tisches war mit Essen vollgestellt. Es gab Cupcakes und eine dreischichtige Torte. Aus einer Wassermelone hatte meine Mutter einen Schwan geschnitzt, der mit in Scheiben und Würfeln geschnittenem Obst gefüllt war. Es gab Plätzchen, Brownies, Schalen mit M&M’s, die nach Farben getrennt waren, Käse, Gebäck, klein geschnittenes Gemüse und eine Kristallschüssel mit Dip. In der Mitte des Tisches stand ein Schokoladenbrunnen mit Marshmallows, Bananen und Erdbeeren auf Spießchen, damit man sie in den Brunnen tauchen und mit Schokolade überziehen konnte.
»Wow«, sagte Katie, und ihre Augen wurden groß wie Untertassen.
Meine Mutter hielt ihr einen Bananenspieß hin. »Magst du Schokolade?«
»Ähm, klar.« Katie nahm den Spieß und tauchte ihn in den Brunnen. »Ich hab noch nie jemanden getroffen, der einen Schokoladenbrunnen zu Hause hat.« Sie sah sich im Zimmer um.
Ich warf meiner Mutter einen zornigen Blick zu, um ihr zu signalisieren, dass sie meiner Meinung nach zu weit gegangen war. »Meine Mutter hilft mit, Hochzeiten zu organisieren. Das Zeug hier ist also bloß ein Haufen Reste«, versuchte ich das Ganze zu erklären. »Normalerweise haben wir nicht so viel zu essen im Haus.«
»Genau. Natürlich nicht. Das sind Reste«, wiederholte meine Mutter und rang die Hände.
»Warum laden wir uns nicht einen Teller voll und gehen in mein Zimmer«, schlug ich vor. Ich schnappte mir einen Cupcake und eine Weintraube. Katie nahm sich einen Teller und versuchte, sich zu entscheiden.
Papa zückte sein Notizbuch und fing an, darin herumzukritzeln. »Interessant«, sagte er, als sie sich ein Stück von der Red-Velvet-Torte aussuchte. Seine Augenbrauen schossen nach oben, als sie sich ein paar Erdbeeren nahm. »Ist dir aufgefallen, dass die ersten beiden Dinge, die du ausgewählt hast, rot waren? Ist Rot deine Lieblingsfarbe?«
Katie blickte überrascht auf ihren Teller. »Mir ist nicht aufgefallen, dass beides rot ist. Meine Lieblingsfarbe ist Violett.«
»Interessant.« Papa kritzelte noch etwas in sein Notizbuch. »Ich weiß, dass es keine violetten Lebensmittel gibt, aber wenn doch, würdest du dann eher die auswählen?«
»Auberginen sind violett«, bemerkte Katie.
Papa schnippte mit den Fingern, was sowohl Katie als auch mich zusammenzucken ließ. »Da ist was dran! Magst du Auberginen?«
»Nein. Ich esse sie, wenn meine Mutter genügend Käse drauftut, aber ich mag sie nicht.« Katie hielt inne, um nachzudenken. »Die Farbe macht nicht wirklich einen Unterschied. Ich mag sie nicht, weil sie wie komische matschige Kartoffeln schmecken.«
»Gehen wir in mein Zimmer.« Ich packte Katie am Ellbogen, bevor mein Vater noch mehr dämliche Fragen stellen konnte. Wir gingen die Treppe hoch und liefen oben Lucinda in die Arme, die gerade auf dem Weg in ihr Zimmer war.
»Du musst Willows Schwester sein!«, rief Katie.
Lucinda wich blitzartig zurück, bis sie an die Wand stieß. Sie ging vorsichtig durch den Flur, wobei sie größtmöglichen Abstand zu Katie hielt. Sie flippte komplett aus, weil ihr eine Langweilerin so nahe kam. Ich sah es an ihren Augen. Lucinda fand Katie ebenso Furcht einflößend wie eine riesige, haarige Spinne in der Badewanne.
»Ich bin ihre beste Freundin aus der Schule – Katie.« Katie streckte die Hand aus, um sie Lucinda zu geben.
»AAAAAH! Rühr mich nicht an!« Lucinda rannte durch den Flur zu ihrem Zimmer und blieb in der Tür stehen, um sich nach uns umzublicken. Dann knallte sie die Tür zu.
»Nun, das ist meine Schwester«, sagte ich achselzuckend. Katie sah mich an. »Ich hab dich gewarnt. Ältere Schwestern sind seltsam.«
Wir gingen in mein Zimmer. Winston saß auf dem Bett. Er hatte alles gesehen, was im Flur vorgefallen war.
»Sieht so aus, als würde es bisher ganz gut laufen«, sagte Winston. »Es ist verwunderlich, dass du sie erst jetzt eingeladen hast.«