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Im Frühling 2014 veröffentlichte die Huffington Post einen Artikel, den die Mutter eines dreijährigen Mädchens verfasst hatte.113 Darin schrieb sie, dass die Trotzphasen zweijähriger Kinder gar nichts seien gegen die Tyrannei Dreijähriger. Dreijährige seien schwieriger als jede andere Kreatur auf diesem Planeten, und zwar deshalb, weil ihnen alles egal sei (sie benutzte eine ausdrucksstärkere, anschaulichere Sprache). Als Beispiel führte sie an, dass ihre Tochter einen Wutanfall bekam, wenn die rosa Hose, die sie anziehen wollte, schmutzig war und sie stattdessen die blaue anziehen sollte. Der Artikel mit dem Titel »3-Year-Olds Are Assholes« (»Dreijährige sind Arschlöcher«) stieß in den sozialen Medien auf breite Resonanz. Tausende Eltern nutzten die Gelegenheit, ihr Mitgefühl zu äußern und zu bestätigen, was für kleine Monster ihre Zwei- und Dreijährigen sein konnten. Die meisten lasen den Artikel und lachten darüber. Ich fand ihn kein bisschen lustig.
Mich ärgerte und beunruhigte dieser Artikel eher. Empfanden Eltern ihren Kindern gegenüber tatsächlich so? Und weshalb schien es keinen zu interessieren, ob das Kind vielleicht einen guten Grund für sein Verhalten gehabt hatte? Offenbar lag die Absicht der Autorin darin, anderen Eltern zu versichern, dass die extrem unfreundlichen Gedanken, die ihnen manchmal durch den Kopf schossen, universell und verständlich waren. Wahrscheinlich wollte sie helfen. Meiner Meinung nach verfestigte sie damit aber nur die Vorstellung, dass kleine Kinder grundsätzlich schwierig und anstrengend sind und unseren Ärger verdienen. Sie wissen schließlich, dass sie sich schlecht benehmen, sie wissen, dass sie einen wütend machen, und es ist ihnen einfach egal. Aber nichts davon stimmt. Ich fand den Artikel wie gesagt überhaupt nicht lustig, für mich zeigte er nur, wie wenig Verständnis Eltern für die Gefühle kleiner Kinder aufbringen, und dass es ihnen nicht in den Sinn kommt, ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen. Kinder in diesem Alter wollen ihren Bezugspersonen normalerweise gefallen. Wenn mehr Eltern das verstehen würden, könnten sie vielleicht rechtzeitig eingreifen und so ein Verhalten der Kinder verhindern, das sogar die geduldigsten Erwachsenen zur Weißglut treiben würde.
Die Mission des Kleinkinds: Ursache und Wirkung erproben
Keine Mutter ist wirklich auf die Veränderungen in ihrem Leben vorbereitet, die sie ab dem Tag erwarten, an dem sie mit ihrem wunderbaren kleinen Baby nach Hause kommt. Genauso wenig können Sie sich ausmalen, wie überrascht sie sein werden, wenn Ihr Kind beginnt, selbstständig umherzutapsen. Von nun an wird die Welt zu seiner Forschungsstätte, zu einem Ort, an dem es Ursache und Wirkung erprobt. »Ob ich wohl in den Küchenschrank passe, wenn ich alle Töpfe und Pfannen heraushole?« – »Mit diesen Stiften kann ich schöne Bilder in mein Ausmalbuch malen. Mama hat Bilder an ihren Wänden – welche Bilder kann ich an die Wand malen?« – »Ich frag Mama immer wieder, ob sie mit mir spielt, aber sie telefoniert einfach weiter. Ich fühl mich allein. Wie kann ich sie dazu bringen, etwas mit mir zu machen? Vielleicht hört sie mich, wenn ich meinen Kinderwagen gegen das Auto fahre, und spielt dann mit mir.« – »Hey, wenn ich weine und den Atem anhalte, sieht Mama ängstlich aus, nimmt mich in den Arm und gibt mir alles, was ich haben möchte.« Das alles sind ganz normale Überlegungen/Verhaltensweisen, vor allem bei Kindern, die das Gefühl haben, nicht genug Aufmerksamkeit zu bekommen, die sich langweilen oder spüren, dass ihre Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden. Ihre Eltern reagieren dann oft verärgert oder glauben, dass die Kleinen einfach schwierig sein wollen. Dadurch fühlen sich die Kinder hilflos und kennen keinen anderen Ausweg, als ihr störendes Verhalten zu wiederholen; immer wieder und immer heftiger.
Die Eltern sind zunehmend frustriert, und die ganze Situation gerät außer Kontrolle. Irgendwann wissen Mama und Papa plötzlich nicht mehr weiter. Schließlich herrscht in der Gesellschaft die Einstellung vor, dass sie eine endlose Quelle an Weisheit, Geduld und Ermutigung sein sollten. Wenn aber die Kinder beginnen, ihren eigenen Kopf zu haben, ihre Bedürfnisse und Meinungen auszudrücken und sogar ihre Grenzen auszutesten, fühlen sich Eltern oft hilflos. Sie flüchten sich in eine Bestrafung der Kinder und sind schließlich völlig erschöpft, wenn weder Auszeiten noch Schreien oder andere disziplinarische Maßnahmen wirken.
Manchmal fragen sich Eltern, ob vorhergehende Generationen es vielleicht richtig gemacht haben. Wäre es wirklich so schlimm, das Kind ab und zu zu schlagen? In vielen anderen Ländern würden Eltern sich über unsere Zweifel wundern, vor allem in stärker traditionalistisch orientierten Gesellschaften. In einigen hispanischen Kulturen ist körperliche Züchtigung ziemlich weit verbreitet; ein YouTube-Video, das sich in einer Parodie über die Gewohnheit von Müttern lustig macht, la chancla als disziplinierendes Werkzeug zu benutzen, verbreitete sich rasend schnell.114 (La chancla115 ist ein feststehender Begriff für einen Flip-Flop, der benutzt wird, um jemanden zu schlagen.) Es gab Kommentare, die diese Praxis hinterfragten, und Threads in den sozialen Medien, in denen Leute sich brüsteten, dass ihre Mutter wie ein Ninja damit zuschlagen konnte. In Singapur und Malaysia ist es noch üblich, Kinder mit einem Stock zu schlagen, und auch wenn eine Familie nicht die Philosophie beherzigt »Ich schlage dich, weil ich dich liebe. Je mehr ich dich schlage, desto mehr liebe ich dich«,116 sind viele asiatische Eltern doch Anhänger einer traditionell strengen Disziplin. In ihrem heiß diskutierten Bestseller Die Mutter des Erfolgs: Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte preist Amy Chua genau diese Strenge als Erfolgsgeheimnis asiatischer Immigranten an.
Sicher kann die Angst vor Prügel einige Kinder dazu bringen, ihren Eltern zu gehorchen. Und – das Mittel wirkt schnell. Eltern, die sich nicht scheuen, ihre Kinder zu schlagen, verbringen vermutlich nicht allzu viel Zeit damit, mit ihnen zu verhandeln oder auf sie einzureden. Hier in den USA werden diese harten Praktiken von vielen Eltern abgelehnt und als überholt und schädlich, ja, sogar als Missbrauch angesehen. Dies gilt vor allem für die Mittel- und Oberklasse. (Studien belegen, dass die jeweilige Gesellschaftsschicht die Werte der Eltern bei der Kindererziehung stärker beeinflusst als Ethnie, Religion, Region und nationaler Hintergrund zusammen; verstärkt gilt das noch bei Vätern.117) Ist das der Grund, weshalb wir Probleme mit der Disziplin unserer Kinder haben?
Ganz sicher nicht. In mehr als 30 Ländern, darunter Deutschland, ist die körperliche Bestrafung von Kindern verboten. Auch Kenia gehört zu diesen Ländern. Da ich dort aufgewachsen bin, habe ich viel Zeit in der Gesellschaft junger afrikanischer Familien verbracht. Und schon früh war ich erstaunt, wie selten afrikanische Mütter mit ihren kleinen Kindern schimpften. Für mich als kleines weißes Mädchen, das während eines gegen die Kolonialherrschaft gerichteten Aufstands aufwuchs, waren natürlich Sicherheitsvorkehrungen notwendig. Außerdem wurden in meiner traditionell britischen Erziehung hohe Erwartungen an mein Benehmen gestellt; daher konnte ich nicht die gleiche Art Freiheit genießen wie meine afrikanischen Spielkameraden. Aber obwohl diese kaum beaufsichtigt wurden, benahmen sich die meisten den Älteren gegenüber höflich und freundlich und machten keinerlei Probleme – genau wie ich. Im Nachhinein wird klar, dass ich Zeuge davon wurde, wie zwei verschiedene Kulturen und Erwartungshaltungen seitens der Eltern zu ähnlichen Ergebnissen führen können.
Weshalb waren die kenianischen Kleinkinder so kooperativ und ausgeglichen, obwohl die dortige Erziehungsmethode so ganz anders war als die meiner Eltern – und auch als die, die in den USA heute als Goldstandard gilt? Nach dem, was ich beobachtet habe, kann die kenianische Methode der Kindererziehung in folgenden Prinzipien zusammengefasst werden:
Sehen wir uns diese Grundsätze einen nach dem anderen genauer an. Wie funktionieren sie, und wie könnten sie uns nützen?
Wenn Sie wollen, dass Ihre Kinder Ihnen zuhören und tun, was Sie sagen, stellen Sie möglichst wenige Regeln auf. Konzentrieren Sie sich darauf, ihre Sicherheit und die anderer Menschen zu schützen und den Kindern Respekt vor jedermann und gutes Benehmen beizubringen. Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken über Dinge, die nicht wirklich wichtig für Sie sind.
Eltern zu raten, etwas lockerer und entspannter zu sein, heißt nicht, dass wir unsere Ansprüche zurückschrauben oder ganz auf Regeln verzichten sollten. Niemand möchte gern mit kleinen Rabauken zusammen sein, die darauf bestehen, immer ihren Willen durchzusetzen, und ständige Aufmerksamkeit fordern. Ein solches Verhalten raubt einem alle Energie, und in diesem Buch geht es darum, glückliche, gesunde Kinder großzuziehen, ohne sich dabei aufzureiben. Vielleicht könnten wir diesem Ziel näher kommen, wenn wir nicht so viele Regeln aufstellten und stattdessen daran denken würden, welche Art von Regeln unsere Kinder befolgen sollten und warum. Anstatt Kindern nur zu sagen, was sie tun sollen, könnten wir ihnen erklären, warum wir das möchten. Wenn es nur ein paar Regeln zu befolgen gibt und allen klar ist, warum sie existieren, werden Sie vielleicht feststellen, dass es nur noch sehr selten Grund gibt, Ihre Kinder überhaupt zu maßregeln.
Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Die von mir in Kenia beobachteten Mütter mussten ihre Kinder auch deshalb nicht immer wieder für ihren Ungehorsam bestrafen, weil es von vornherein nur sehr wenige Regeln zu brechen gab. Bei denjenigen Regeln, deren Befolgung von den Kindern erwartet wurde, ging es meist um ihre eigene Sicherheit, die Sicherheit anderer Kinder in ihrer Obhut und um eine respektvolle Haltung gegenüber anderen Menschen. Vielleicht finden manche es widersprüchlich, dass ein Kind durch eine relativ lockere Erziehung den nötigen Respekt verinnerlichen kann, um den Eltern oder anderen Autoritätspersonen bereitwillig zu gehorchen. Doch es ist kein Widerspruch, wenn man dem Kind seine Erwartungen nur konsequent vermittelt. Das führt dazu, dass Kinder normalerweise auch gehorchen, wenn die Eltern denn einmal eine Anweisung geben.
Beantworten Sie folgende Frage: Was tun Sie, wenn jemand Ihnen zum zehnten Mal sagt, was er von Ihnen möchte? Sie hören gar nicht mehr richtig zu, stimmt’s? Bei Kindern ist es genauso. Ständige Ermahnungen und Wiederholungen werden schließlich zu Hintergrundrauschen – die Kinder hören sie nicht mehr. Erwachsene wiederum, vor allem müde Erwachsene, gehen meist ziemlich schnell an die Decke, wenn ihr Kind nach einer mehrfach wiederholten Aufforderung immer noch nicht reagiert. So kann die einfache Bitte, ihr Kind möge seine Socken im Wohnzimmer aufheben, schnell in einen heftigen Streit ausarten. Oft erledigen wir die Aufgabe dann selbst, was frustrierend ist, oder wir setzen uns durch, indem wir laut werden und eine Strafe verhängen, die im Verhältnis völlig überzogen ist. Wir haben uns inkonsequent verhalten und ein Drama wegen etwas heraufbeschworen, das es einfach nicht wert war. Und so sollte es uns auch nicht überraschen, wenn unser Kind ein solches Verhalten nachahmt.
Zur Vermeidung derartiger Fallen ist es am besten, die Gelegenheiten für Reibereien zu verringern. Zum Beispiel könnten wir aufhören zu kontrollieren, was unsere Kinder anziehen. Was macht es schon, wenn wir der Meinung sind, dass ihre Sachen nicht zusammenpassen? Und kann ein Kind eine Hose nicht doch zwei Tage hintereinander anziehen, solange sie keine Flecken hat und nicht unangenehm riecht – oder machen Sie sich Sorgen, was die Lehrer in der Schule denken könnten? Wenn ich meine Kinder morgens beim Verlassen des Hauses warnte, dass es eigentlich kalt genug für einen Mantel sei und sie trotzdem keinen anziehen wollten, schlug ich ihnen vor, hinauszugehen und es zu überprüfen. Meist kamen sie zurück und zogen den Mantel an. Indem ich Psychologie anwandte, anstatt darauf zu bestehen, dass ich recht hatte, gab ich ihnen die Kontrolle über ihr Tun und vermied, dass ein ärgerlicher Streit entfacht wurde, bevor sie überhaupt das Haus verließen.
Spielt es wirklich eine Rolle, ob im Zimmer Ihrer Kinder Chaos herrscht? Wir müssen akzeptieren, dass Kinder an einem Tag an bestimmte Dinge denken, am nächsten aber eben nicht. Sie können ihnen zwar Ihre Erwartungen an sie mitteilen, aber es wäre unvernünftig einzufordern, dass sie ihre Pflichten in Eigenverantwortung selbst managen, bevor sie dazu wirklich in der Lage sind; und manche Kinder sind das später, als man denken würde.
Ein gutes Vorbild zu sein, ist sehr viel wirkungsvoller als fast jede andere Erziehungsmethode.
Wenn Ihre Kinder am Familientisch an einem Kunstprojekt arbeiten, ist es in Ordnung, sie zu bitten, danach aufzuräumen. Es ist auch in Ordnung, sie zu bitten, ihre schmutzige Wäsche in den Wäschekorb zu legen, anstatt sie einfach auf den Boden ihres Zimmers fallen zu lassen. Aber auch wenn das nicht jedes Mal klappt, sollten Sie ruhig bleiben und die Kinder nicht bestrafen. Wahrscheinlich machen auch Sie selbst nicht immer alles richtig. Erinnern Sie die Kinder einfach kurz daran, was sie eigentlich tun sollten, räumen Sie selbst auf und wenden Sie sich wichtigeren Dingen zu. Ein gutes Vorbild zu sein, ist sehr viel wirkungsvoller als fast jede andere Erziehungsmethode. Mir fällt immer wieder auf, dass Eltern, die respektvoll mit ihren Kindern reden, ihnen gegenüber höflich sind und bei Problemen konsequent reagieren, meist ausgeglichene, einfühlsame und vernünftige Kinder haben.
Erlauben Sie Ihren Kindern, ihre Individualität auszudrücken und innerhalb eines vernünftigen Rahmens zu experimentieren. Es gibt so viele Dinge, die uns zwar normal erscheinen, in anderen Kulturen aber absolut unüblich sind. Was schadet es, wenn Ihre Kinder zum Frühstück Suppe essen möchten? In vielen Ländern der Welt ist Suppe zum Frühstück etwas Alltägliches, zum Beispiel in China die Jook, in Bolivien die Changua und in Tunesien die Lablabi. Denken Sie daran, dass unsere Regeln und Werte nicht überall gleichermaßen gelten. (Als ich meinen ersten Hamburger gegessen habe, war ich schon 35 Jahre alt und lebte in den USA.) Bevor Sie Ihrem Kind etwas verbieten, fragen Sie sich, ob es sich lohnt, wegen dieser Sache einen Streit zu riskieren. Würde es bei diesem Streit um etwas Wichtiges gehen, das dazu beitragen könnte, aus Ihrem Kind später einen ausgeglichenen Erwachsenen zu machen? Locker mit unwichtigen Dingen umzugehen, kann viel dazu beitragen, dass es bei Ihnen zu Hause ruhiger zugeht und weniger Stress herrscht.
Je weniger Sie schimpfen, desto mehr werden Ihre Kinder Ihnen zuhören.
Um eine sinnvolle Disziplin zu erreichen, ist vor allem Konsequenz nötig, keine Strenge. Sie können zu Hause eine entspannte Atmosphäre pflegen und Ihrem Kind trotzdem klarmachen, dass die Regeln in der Schule oder anderswo davon abweichen können. Sagen Sie ihm, dass Sie erwarten, dass es die dort herrschenden Regeln respektiert. Konzentrieren Sie sich darauf, ein Verhalten zu verhindern, das Ihrem Kind oder anderen schaden könnte, lassen Sie kein gewalttätiges Benehmen zu, bringen Sie Ihrem Nachwuchs Empathie und Respekt gegenüber Mitmenschen bei und ignorieren Sie die kleinen Dinge, die letztlich keinen Unterschied machen. Wenn Sie nur wenige Regeln aufstellen, lernen die Kinder eher, was für Sie und Ihre Familie wirklich wichtig ist. Sind sie erst einmal alt genug, werden sie auch verstehen, warum sie diese Regeln befolgen müssen. Erst dann können Sie anfangen, sie stärker zur Verantwortung zu ziehen und mehr von ihnen zu erwarten. Je weniger Sie schimpfen, so meine Erfahrung, desto mehr werden Ihre Kinder Ihnen zuhören.
Sagen Sie, was Sie wollen, und nicht, was Sie nicht wollen
Kinder unter zwei Jahren verstehen einen negativen Satz nicht wirklich. Wenn Sie zum Beispiel einem sehr kleinen Kind sagen, was es nicht tun soll, können Sie ihm ebenso gut sagen, dass es genau das tun soll. Nehmen wir an, Sie gehen mit Ihrem 18 Monate alten Kind den Bürgersteig entlang und sehen eine Pfütze vor sich. Der natürliche Instinkt des Kindes wäre, mit dem Fuß hineinzustapfen. Prinzipiell würde ich Ihnen empfehlen, das zuzulassen – ich fände es schön, wenn mehr Kinder die Freiheit hätten, sich schmutzig zu machen (die Gründe erkläre ich im nächsten Kapitel, in dem es ums Spielen geht). Aber nehmen wir einmal an, Sie sind auf dem Weg zu einer Familienfeier und wollen, dass Ihr Kleines ordentlich angezogen und sauber bleibt. Sehen Sie Ihr Kind nun geradewegs auf die Pfütze zulaufen, wäre Ihre erste Reaktion vielleicht zu schreien: »Halt, Nathan, nicht in die Pfütze treten, du machst dich schmutzig!« Wirkungsvoller wäre jedoch, wenn Sie sagten: »Nathan, lass uns zusammen um die Pfütze herum laufen.« Jetzt weiß das Kind genau, was Sie von ihm wollen, und wahrscheinlich wird es das auch tun. Unterstützend können Sie ihm noch etwas anderes anbieten, was Spaß macht, zum Beispiel die Blätter aufzuwirbeln oder wie ein Hase zu springen.
Geben Sie Kindern nicht zu viele Aufgaben
Mir ist aufgefallen, dass viele Eltern ihren Kindern eine Aufgabe im Haushalt zuweisen, zu der sie selbst keine Lust haben. Damit schaffen Sie ziemlich sicher einen Anlass für ständige Reibereien. Besser wäre es, das Kind zu fragen, was es tun möchte. Das geht vor allem dann leicht, wenn Sie die Hilfe nicht wirklich brauchen, sondern dem Kind beibringen wollen, dass es schön ist, als Familienmitglied auch etwas für die Familie zu tun. Ihr Kind wird seine Aufgabe eher erledigen, wenn Sie es selbst wählen lassen, wofür es verantwortlich sein möchte. Wenn Sie ihm sagen, es soll das Geschirr in den Geschirrspüler stellen, es aber lieber den Hund füttern möchte, warum lassen Sie es dann nicht den Hund füttern? Diese Aufgabe wird es sicher zuverlässiger erledigen, und es herrscht Frieden. Die meisten Kinder wollen die Kleidung, die sie anziehen, selbst auswählen; lassen Sie Ihr Kind also seine Sachen selbst aussuchen, und gewöhnen Sie sich am besten an, die Kleidung schon abends mit ihm zusammen zurechtzulegen. Akzeptieren Sie seine Auswahl, ohne sie zu kritisieren. Natürlich können Sie Vorschläge machen, aber sollte die Entscheidung Ihres Kindes nicht völlig unannehmbar sein, dann lassen Sie ihm seinen Willen. Alternativ können Sie selbst einige Outfits bereitlegen und das Kind eines davon aussuchen lassen. Wenn Ihr Kind sich weigert, sein Spielzeug aufzusammeln, machen Sie ein Spiel daraus: Wer sammelt in fünf Minuten die meisten Spielsachen ein? Es ist erstaunlich, wie viel Spaß das machen kann.
Je mehr Möglichkeiten Sie Ihrem Kind geben, innerhalb eines sicheren Rahmens eigene Entscheidungen zu treffen, desto eher wird es sich an den täglichen Aufgaben des Familienlebens beteiligen und Ihrer Bitte um Hilfe nachkommen. Wenn wir allerdings erwarten, dass Kinder immer von allein die Zeit im Auge behalten und ihr Spiel rechtzeitig beenden, um die Aufgabe zu erledigen, die man ihnen aufgetragen hat, ist unsere Frustration programmiert. Sogar Teenager müssen oft noch daran erinnert werden, auf die Zeit zu achten.
Schön wäre es, wenn Sie den Nachwuchs um Hilfe bei Ihren Arbeiten im Freien bitten könnten. Oder noch besser – lassen Sie ihn nach der Schule oder an den Wochenenden helfen, wenn Sie oder Ihr Partner draußen beschäftigt sind. Arbeit im Freien ist meist körperliche Arbeit, und die Aufgaben, die Sie für die Kinder finden, werden ihnen Spaß machen, weil sie sich schmutzig machen dürfen und die Chance besteht, dabei mit Wasser oder Erde zu spielen. Wenn die Kinder älter sind, können Sie Ihnen Tätigkeiten wie zum Beispiel Rasenmähen beibringen. Natürlich können Kinder auch im Haus helfen, aber ich finde nicht, dass wir sie zu Aufgaben verpflichten sollten, um uns selber das Leben leichter zu machen. Als Erwachsene sind wir verantwortlich dafür, unser Leben so zu organisieren, dass es ohne die Hilfe unseres Nachwuchses funktioniert. Die erste Priorität unserer Kinder sollte das Lernen sein, und unsere Priorität in Bezug auf die Kinder sollte sein, ihnen Gelegenheit zum Lernen und zum Einüben von Fähigkeiten zu bieten. Das heißt nicht, dass wir sie nicht um Hilfe bitten sollten, wenn wir sie brauchen. Natürlich können wir das tun. Aber wir sollten nicht böse werden, wenn unsere Kinder unseren Erwachsenenerwartungen nicht entsprechen. Sie werden manchmal ihre Pflichten vergessen oder etwas falsch machen. Sie werden sie daran erinnern müssen, wahrscheinlich häufiger, als Sie glauben. Denken Sie daran, dass Kinder sich noch nicht so gut konzentrieren und erinnern können wie wir.
Als unsere Kinder im Schulalter waren, arbeiteten wir alle sechs am Samstagmorgen ein paar Stunden zusammen im Haus. Ich teilte jedem eine Stelle zu, die sauber gemacht werden musste, oder eine bestimmte Arbeit wie zum Beispiel das Staubsaugen. Dabei berücksichtigte ich, was für das jeweilige Alter angemessen war. Wenn wir fertig waren, unternahmen wir alle zusammen den Rest des Tages etwas Schönes, zum Beispiel gingen wir Wasserskilaufen, machten einen Picknickausflug oder fuhren in die nahen Berge zum Skilaufen. Das funktionierte immer gut; das Haus war sauber, jeder hatte seinen Teil dazu beigetragen, und niemand beschwerte sich.
Unsere Aufgabe als Eltern ist es, unseren Kindern beizubringen, wie man etwas macht, ihnen zu erlauben, etwas auszuprobieren, und ihnen dann jede Hilfe anzubieten, die sie brauchen, um ans Ziel zu kommen und erfolgreich zu sein. Kinder haben bereits sehr viel Verantwortung – sie müssen ihre eigene Entwicklung bewältigen und mit der Schule und anderen Aktivitäten zurechtkommen. Und wenn wir sie um etwas bitten, sollte unser Ziel sein, dass sie mit uns arbeiten – nicht für uns. Wenn Sie Ihren Kindern all dies mit Humor beibringen, werden Sie vielleicht erstaunt sein, wie viel schneller sie etwas begreifen. Eventuell haben sie dann sogar Spaß daran, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, um Ihr gemeinsames Zuhause sauber zu halten.
Wir sind Menschen, und wie sehr wir uns auch bemühen, ruhig zu bleiben, verlieren wir doch ab und zu die Nerven. Zu mir kamen jedoch auch verzweifelte Eltern, die nicht nur ihre Nerven verloren hatten, sondern auch die Kontrolle über ihre Kinder. Das Problem hatte sich schon so sehr verfestigt, dass die Eltern ungerecht verallgemeinerten. Sie sagten, ihr Kind würde überhaupt nicht mehr gehorchen; es sei mit Absicht schwierig, es sei störrisch und eigensinnig; es hätte Wutanfälle oder weigere sich, zu schlafen. Oft hatten die Eltern zu diesem Zeitpunkt bereits mit Drohungen und Strafen versucht, das von ihnen gewünschte Verhalten zu erzwingen. Manchmal wirken Drohungen und Strafen sogar eine Zeit lang, aber bald benehmen sich die Kinder wieder wie zuvor. Anstatt einen anderen Kurs einzuschlagen, verschärfen die Eltern dann die Strafen. Sie nehmen an, dass sie nicht streng genug waren, weil das Verhalten des Kindes sich ja nicht dauerhaft verändert hat. So hören wir es doch auch von allen Seiten, nicht wahr? Bestimmt hat auch Ihnen schon jemand einen vernichtenden Seitenblick zugeworfen, wenn Ihr Kind in der Öffentlichkeit verrücktspielte, oder eine wohlmeinende Mutter oder Schwiegermutter hat Sie in vorwurfsvollem Ton darüber informiert, wie man so etwas zu ihrer Zeit handhabte. Auf diese Weise signalisiert man Ihnen, dass die Kinder sich nur deshalb danebenbenehmen, weil Sie sich ihnen gegenüber nicht durchsetzen können.
Kein Kind ist von Natur aus schwierig, es sei denn, es liegt ein medizinisches, genetisches, neurologisches oder psychosoziales Problem vor. Aber es gibt viele Kinder, deren Bedürfnisse von ihrer Umgebung nicht wahrgenommen werden. Niemand agiert in einem Vakuum, auch Kinder nicht. Benehmen sie sich auffällig, wollen sie uns damit fast immer sagen, dass sie frustriert sind. Wir können ihnen aber nicht helfen, solange wir nicht wissen, warum sie das sind. Leider machen sich einige Eltern noch nicht einmal die Mühe, ihre Kinder danach zu fragen. Sie denken sofort, dass das Kind einfach launisch, verwöhnt oder egoistisch ist. Andere Eltern versuchen, von ihrem eigenen Standpunkt als Erwachsene aus mit ihren Kindern zu argumentieren, aber sie kommen nicht weiter, also ziehen sie die gleichen Schlussfolgerungen. Das ist sehr schade, denn meistens gibt es tatsächlich einen Grund, warum Kinder sich so provokant verhalten. Und man muss kein Kinderpsychologe sein, um ihn herauszufinden. Man muss nur fragen!
Meistens gibt es tatsächlich einen Grund, warum Kinder sich provokant verhalten.
Nehmen Sie sich Zeit
Sie müssen sich die Zeit nehmen, Ihr Kind in ruhigem Ton zu fragen, was sein Problem ist – allerdings bevor seine Gefühle und auch Ihre eigenen außer Kontrolle geraten. Das Thema haben wir schon behandelt: Zeit ist das, wovon die meisten Eltern meinen, dass sie sie nicht haben. Tatsächlich ist Zeitmangel wahrscheinlich einer der häufigsten Gründe, warum Eltern und Kinder aneinandergeraten. Die Eltern wollen endlich los, weil sie zur Arbeit müssen, oder sie wollen mit der Zubereitung des Abendessens fertig werden oder die Kinder ins Bett bringen oder eine E-Mail zu Ende schreiben oder pünktlich irgendwo ankommen oder vor der Rushhour zu Hause sein. Es ist heute nicht mehr so, wie es während meiner Kindheit in England war. Damals fing dort die Schule und meist auch die Arbeit um neun Uhr an, und die Leute wohnten oft in der Nähe der Schule oder ihres Arbeitsplatzes. Damals stand man um sieben Uhr auf und hatte reichlich Zeit, um sich anzukleiden, in Ruhe am Tisch zu frühstücken und sich dann ohne Eile auf den Weg zu machen. Wenn meine Freundinnen und ich morgens aus dem Haus gingen, hatten wir selten, wenn überhaupt jemals das Echo der Stimmen unserer Eltern im Ohr, die uns laut und gereizt zur Eile mahnten. Leider hat sich das Leben heute um ein Vielfaches beschleunigt. An vielen Grundschulen fängt der Unterricht um 7:45 Uhr an, aber manche Kinder werden schon um sieben dort abgeliefert. Die Eltern wollen zeitig mit der Arbeit beginnen, um die Kinder nach der Schule wieder abholen und sich damit das Geld für die Nachmittagsbetreuung sparen zu können.
Man könnte ein ganzes Buch darüber schreiben, wie sehr unser Land bei der Unterstützung von Kindern und arbeitenden Familien versagt. Aber bis genug Familien für einen Wandel stimmen, werden diese Zeitpläne – und daraus folgend Hektik und Druck – Realität in unserem Alltag bleiben. Ich empfehle Ihnen daher, Prioritäten zu setzen und sich auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist; das heißt zugleich, alles in den Hintergrund rücken zu lassen, was sich nicht positiv auf Sie oder Ihre Familie auswirkt.
Wenn der morgendliche Ablauf zu Hause Sie beispielsweise jeden Tag aufs Neue frustriert, dann stimmt etwas mit der Planung nicht. Überprüfen Sie, was Sie verändern könnten, um die Situation zu verbessern. Vielleicht könnten Sie 30 Minuten früher aufstehen, um sich fertig zu machen und schon etwas vorbereiten können – zum Beispiel die Frühstücksdosen –, bevor die Kinder aufwachen. Dann können Sie sich anschließend besser auf den Nachwuchs konzentrieren und den Rest der Morgenroutine ganz in Ruhe angehen. Vielleicht sind Sie der Meinung, dass Ihre Kinder schon einiges ohne Ihre Hilfe hinbekommen sollten, aber wenn Sie jeden Morgen schreien müssen, weil getrödelt wird, sollten Sie vielleicht Ihre Prinzipien zugunsten eines reibungslosen Ablaufs vernachlässigen und helfen. Es lohnt sich, denn so können Sie alle positiv gestimmt in den Tag starten.
Sobald wir das Gefühl haben, gegen die Uhr anzukämpfen, werden wir ungeduldig und bedrängen die Kinder, bevor diese überhaupt verstanden haben, was sie tun oder lassen sollen. Außerdem hören Eltern ihren Kindern meist nicht mehr zu, wenn sie in Eile sind. Sie nehmen sich nicht die Zeit oder haben schlichtweg keine, um herauszufinden, warum das Kind trödelt, warum es so eigensinnig ist oder wütend (oft sind Kinder einfach total erschöpft, genau wie Sie).
Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie ein Problem hätten und es jemand anderem gegenüber auch zum Ausdruck brächten, als Antwort aber jedes Mal nur gesagt bekämen, dass jetzt keine Zeit sei, um sich darum zu kümmern.
In meiner Zeit als Ärztin in einer Kinderklinik betreute ich ein bezauberndes Baby namens Jacob. Seine Mutter Anna war ebenso reizend. Bei den Vorsorgeterminen sprachen wir immer über Jacobs Entwicklung und darüber, wie es in der nächsten Zeit weitergehen würde. Jacob war ein liebes Baby mit einem freundlichen Gemüt. Dann bekam Anne ihr zweites Kind, eine Tochter. Sie machte alles so, wie ich es ihr bei ihrem ersten Kind geraten hatte, aber ihr kleines Mädchen, Ella, war launisch und schwierig und hatte häufig Wutanfälle. Als Ella 18 Monate alt war, kam Anne mit ihr zur Vorsorgeuntersuchung. Die Mutter war müde und frustriert und erzählte mir, dass es sie selbst schockierte, wie gereizt und wütend sie sich ihrer Tochter gegenüber manchmal fühlte.
Dieses Beispiel zeigt, wie leicht unsere Gefühle verhindern können, dass wir die Ursache eines Problems erkennen. Anne war immer eine ruhige, einfühlsame und intuitiv richtig handelnde Mutter gewesen. Aber nachdem sie über eine längere Zeit hinweg zu wenig Schlaf bekommen und stressige Tage gehabt hatte, war sie nicht mehr in der Lage zu erkennen, was für mich offensichtlich war. Ich machte sie also darauf aufmerksam, dass Ellas Entwicklung natürlich nicht genauso verlaufen konnte wie die von Jacob. Vom ersten Lebenstag an hatte Ella teilen müssen, Jacob nicht. Ella kam bei Weitem nicht so oft in den Genuss, exklusiv Zeit mit ihren Eltern zu verbringen, wie Jacob damals. Ich riet Anne, darauf zu achten, dass sie möglichst viel Zeit mit ihrer Tochter einplante, in der sie sich ganz auf das Mädchen konzentrierte. Und wenn Anne aufgrund von Ellas Benehmen das nächste Mal Ärger in sich aufsteigen spürte, sollte sie dieses Gefühl mit Extrazeit oder mehr Hilfe für ihr Töchterchen ausgleichen. Und tatsächlich – sobald Anne begann, mit Mitgefühl und Aufmerksamkeit anstatt mit Frustration und Ärger auf ihre Tochter zu reagieren, legten sich auch deren Wutanfälle.
Meiner Meinung nach war Zeitmangel auch der Grund für den Konflikt zwischen der Autorin des Huffington-Post-Artikels und ihrer Tochter, den ich an den Anfang dieses Kapitels gestellt habe. In einem damals auf den Artikel folgenden Interview erklärte die Autorin ihre wütende Reaktion auf die Launenhaftigkeit ihrer Tochter so: »Wissen Sie, wir mussten los, und wenn man sich dann so widerspenstig verhält, muss man eben mit den Folgen leben, die das nach sich zieht.«118 Viele Eltern von Kleinkindern würden der Autorin vermutlich zustimmen, denn einen ähnlichen Machtkampf wie den um die rosa Hose haben wohl die meisten schon erlebt. Man hat es eilig, und plötzlich weigert sich das Kind, die brandneuen Schuhe anzuziehen, die es selbst ausgesucht hat, oder es beschließt, dass es lange Ärmel hasst und jetzt doch sein kurzärmliges Lieblingsshirt mit den Teenage Mutant Ninja Turtles anziehen möchte. Unsere erste Reaktion besteht oft darin, mit den Augen zu rollen und dem Kind zu sagen, dass es dafür jetzt zu spät sei. Aber wie wäre es, wenn Sie in dieser Situation nicht negativ, sondern mitfühlend reagierten und fragen würden, warum das Kind die Schuhe plötzlich nicht mehr mag. Auch wenn es uns vielleicht albern vorkommt, über so etwas zu diskutieren, für ein Kind ist es das selten. Wenn Sie Ihrem Nachwuchs die Chance geben, seine Gefühle wahrzunehmen und auszusprechen, und dann Verständnis äußern, wird das die Situation wahrscheinlich entschärfen.
In einer Gesellschaft, in der Selbstständigkeit einen so großen Stellenwert hat wie in den USA, müssen wir das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gut ausbalancieren – beide sollten sich gestärkt fühlen, anstatt über Kleinigkeiten zu streiten, bei denen es um Unabhängigkeit geht. Es kann sich wie ein Drahtseilakt anfühlen, die richtige Balance zu finden, zum Beispiel zwischen der Ermunterung des Kindes, seine Probleme selbst zu lösen, und dem Angebot, ihm zu helfen, wenn es Hilfe braucht.
An einem Tag besteht das Kind mit Vehemenz darauf, seine Schuhe selbst anzuziehen, wenn Sie ihm helfen wollen, am nächsten Tag ist es verzweifelt, weil es plötzlich nicht mehr weiß, welcher Schuh an welchen Fuß gehört. Wir wiederum nehmen Kindern so oft etwas ab, was sie bereits alleine machen können und wollen, oder bestehen darauf, dass sie etwas alleine tun, wozu sie sich noch nicht in der Lage fühlen. Wir müssen besser zuhören. Nur weil ein Kind etwas schon alleine kann, heißt das nicht, dass Sie ihm nicht helfen sollten, wenn es Sie darum bittet. Wenn ein dreijähriges Kind gerade gelernt hat, rechts und links zu unterscheiden, ist diese Fähigkeit noch eine Weile Neuland. Vielleicht ist es ihm peinlich, dass es wieder vergessen hat, an welchen Fuß welcher Schuh gehört. Vielleicht ist es an diesem Tag einfach unsicher. Reagieren Sie nicht gleich gereizt und sorgen Sie zeitlich für ausreichend Spielraum; wenn Ihr Kind dann plötzlich ein Problem hat, können Sie auf seine Gefühle eingehen und ihm bei der Lösung helfen. Anschließend können alle mit gutem Gefühl das Haus verlassen. Meist kostet es weniger Zeit, Ihrem Kind zu helfen, als einen Streit mit ihm auszufechten. Außerdem lohnt sich eine Konfrontation nicht, wenn Sie danach beide mit schlechter Laune in den Tag starten.
Wenn ein Schulkind Sie um etwas bittet, das es auch alleine kann, können Sie fragen: »Was bereitet dir Schwierigkeiten? Ist es unbedingt nötig, dass ich aufhöre zu kochen (oder zu telefonieren, eine Mail zu schreiben oder die Blumen zu gießen), oder meinst du, du kannst es erst einmal allein probieren?« Wenn das Kind auf Ihrem Eingreifen besteht, helfen Sie ihm rasch und fahren Sie dann mit Ihrer vorherigen Beschäftigung fort.
Doch bei einem dreijährigen Kind gibt es niemals einen Grund, einen Streit auf emotionaler Ebene auszufechten. In diesem Alter ist es wichtig, dass Sie Ihrem Kind helfen, das zu schaffen, was es gerade tun möchte. Das heißt nicht, dass Sie es verwöhnen oder zulassen sollen, dass es Sie ausnutzt. Helfen Sie ihm, aber belohnen Sie niemals unerwünschtes Verhalten; schreien Sie das Kind nicht an (was Aufmerksamkeit bedeutet, auch wenn es negative Aufmerksamkeit ist), bitten Sie nicht um besseres Verhalten und geben Sie nicht nach.
Es gibt niemals einen Grund, mit einem dreijährigen Kind einen Streit auf emotionaler Ebene auszufechten.
Trotzdem passiert es hin und wieder einfach – Ihr Kind bekommt einen Wutanfall. Was nun? Diskutieren Sie nicht und verschwenden Sie keine Zeit damit, Ihr Kind auszuschimpfen. Am besten schicken Sie es zu einer Auszeit in einen sicheren Bereich, zum Beispiel sein Zimmer. Manchmal besteht das Problem einfach darin, dass es müde ist und eine Pause braucht. Wenn es kein Publikum mehr hat, wird es wahrscheinlich auch kein »Theater« mehr machen. Sobald das Kind sich beruhigt hat, darf es wieder zu Ihnen kommen. Auf diese Art und Weise wird es schnell lernen, dass sein Verhalten nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt.
Eine Auszeit entschärft zwar den Wutanfall meines Kindes für den Moment, aber die Drohung einer Auszeit reicht nicht, um den nächsten Wutanfall zu verhindern. Mache ich etwas falsch?
Wenn Sie beschließen, dass Ihr Kind eine Auszeit braucht, weisen Sie ihm einen Raum zu, in dem es Sie und die übrige Familie nicht stören kann. Machen Sie ihm klar, dass das Privileg, zu Ihnen oder zu den anderen zurückzudürfen, davon abhängt, dass es sich wieder beruhigt. Schreien Sie es nicht an und drohen Sie nicht mit Strafen. Versuchen Sie nach dem Wutanfall mit ihm darüber zu reden, was passiert ist. Lassen Sie auch Ihr Kind zu Wort kommen und hören Sie aufmerksam zu, sprechen Sie nicht nur von Ihrem Standpunkt aus. Finden Sie heraus, wo das Problem lag, und nutzen Sie die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, wie Sie sich fühlen, wenn es sich so benimmt. Schlagen Sie ihm eine für Sie annehmbare Reaktion für den Fall vor, dass es wieder einmal frustriert oder wütend ist. Zum Beispiel könnten Sie ihm erlauben, in sein Kissen zu schreien, wenn es wütend ist, oder – wenn das Wetter es erlaubt – seine Frustration im Garten »hinaus«zutrampeln.
Wie jede andere Strafe verlieren auch Auszeiten ihre Wirkung, wenn sie zu oft angewandt werden. Sollten Auszeiten nicht mehr wirken, versuchen Sie es mit dem zeitweiligen Entzug eines Privilegs oder eines Gegenstands – nehmen Sie dem Kind aber nichts weg, was Trost bieten könnte, wie zum Beispiel ein Kuscheltier.
Kinder quengeln, sobald sie herausgefunden haben, dass ihre Eltern oder Betreuer klein beigeben, wenn sie diese über längere Zeit hinweg, aber nicht allzu lautstark nerven. Kinder sind sehr gut darin, hartnäckig immer wieder Dasselbe einzufordern. Es sind die Eltern, die damit Probleme haben. Wie also können Sie reagieren?
Bei Kleinigkeiten, die nicht wirklich wichtig sind: Wenn Sie wissen, dass Sie irgendwann nachgeben werden, sollte Ihr Kind immer weiter bitten und jammern, sagen Sie am besten gleich Ja und die Sache ist erledigt. So ersparen Sie sich und der ganzen Familie die Jammerei und den Stress.
Bei wichtigen Sachen, die nicht verhandelbar sind: Bleiben Sie stark. Bei allem, was Ihr Kind grundsätzlich nicht bekommen oder tun soll, sagen Sie jedes Mal gleich entschieden Nein – ob das nun Snacks vor dem Abendessen sind, das Herumspielen mit Ihrem Tablet oder die Kletterei auf den Gartenstühlen. In allen anderen Fällen versuchen Sie, nicht auf jede Bitte automatisch mit Nein zu antworten. Wägen Sie in Ruhe das Für und Wider ab und geben Sie dem Kind anschließend eine klare, begründete Antwort. Bleiben Sie konsequent und lassen Sie sich gar nicht erst auf weitere Verhandlungen ein. Wenn Sie Ihrem Kind helfen können, für das Gewünschte eine bessere Alternative zu finden, tun Sie das. Können Sie das nicht, muss Ihr Kind damit klarkommen, dass ihm Ihre Entscheidung nicht gefällt. Kinder kommen schnell über eine Enttäuschung hinweg und entdecken bald darauf etwas anderes, das sie interessiert.
Aggressives Verhalten bei Kindern kann verschiedene Ursachen haben. Manchmal wird kopiert, was die Kinder im Elternhaus sehen, manchmal liegt es daran, dass sich ein Kind in einer Gruppensituation außerhalb des Elternhauses, zum Beispiel im Kindergarten oder in der Schule, als Opfer fühlt. Bei älteren Kindern kann aggressives Verhalten auch aus Frustration heraus entstehen, wenn sie zum Beispiel mit den Anforderungen der Schule nicht zurechtkommen. Reden Sie in jedem Fall zunächst einmal mit dem Kind, bevor Sie eine disziplinarische Maßnahme ergreifen. Versuchen Sie herauszufinden, was es für Probleme hat. Sogar Kleinkinder können das oft schon benennen. Viele Kinder haben Angst, über die Gefühle zu sprechen, die sie aggressiv werden lassen, oder sie verstehen selbst nicht richtig, warum sie eigentlich so wütend sind. Aber indem Sie einfühlsam mit dem Kind reden, werden Sie wahrscheinlich eher zur Wurzel des Problems vordringen als durch Drohungen und Strafen. Durch eine derartige Reaktion Ihrerseits fühlt sich das Kind oft in eine Ecke gedrängt, was dazu führen kann, dass es noch aggressiver wird und sich das Problem verstärkt. Wenn Sie die Quelle des aggressiven Verhaltens nicht relativ schnell selbst herausfinden und beseitigen können, reden Sie mit Ihrem Kinderarzt. Er wird Ihnen unter Umständen vorschlagen, sich von einem Kinderpsychologen beraten zu lassen.
Es gibt keine Strategie, die zu jeder Situation passen würde. Auch Kinder, die ihre Grenzen eigentlich kennen, werden diese manchmal austesten, bis Sie herausgefunden haben, wie Sie das unterbinden. Manchmal können Sie Ihr Kind so lange höflich um etwas bitten, bis Sie heiser sind – es ändert sich einfach nichts. In diesen Fällen müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen. So ergeht es auch Kinderärztinnen. Als ich in der Ausbildung war, führte das Verhalten meines ältesten Sohnes dazu, dass ich mehrere Tage nacheinander zu spät in meine Kurse kam. Er spielte morgens, anstatt sich wie seine Geschwister anzuziehen, sodass die Kinder ihren Bus verpassten und ich sie selbst zu ihrer jeweiligen Schule fahren musste und zu spät in meinen Kurs kam. Mein Sohn war damals sechs Jahre alt, und unsere morgendliche Routine war seit einiger Zeit immer dieselbe gewesen. Er wusste also genau, dass wir durch sein Verhalten den Bus verpassten und ihn seine Mama deshalb zur Schule fahren würde. Schließlich sagte ich ihm, dass ich ihn in Zukunft pünktlich zum Bus bringen würde, egal wie er gerade angezogen war. Als ich am nächsten Tag meine Schlüssel nahm, um aufzubrechen, war er wieder nicht fertig, obwohl ich ihn an meinen Entschluss erinnert hatte. Ich bestand darauf, dass er ins Auto stieg, und brachte ihn zum Schulbus. Zu seinem Entsetzen – und dem des Busfahrers – brachte ich ihn in seinem Schlafanzug bis hinein in den Bus. Die anderen Kinder dort fanden das ziemlich lustig. Ich fuhr dem Bus hinterher, und als er vor der Schule hielt, blieb ich dahinter stehen, stieg aus dem Wagen und überreichte meinem Sohn seine Anziehsachen. Mit dieser Aktion hatte ich ihn erreicht, und von da an verhielt er sich morgens entsprechend, sodass ich nicht herumschreien oder ihn mit dem Auto bringen musste. Er stellte mich auch nicht wieder auf die Probe – jedenfalls nicht bei diesem Thema.
Wenn Ihr Kind Ihrer Aufforderung beim ersten Mal nicht nachkommt, bleiben Sie ruhig und wiederholen Sie sie. Normalerweise helfen Kinder gerne mit, lassen sich aber leicht ablenken. Es kann gut sein, dass Ihr Kind tun wollte, worum Sie es gebeten hatten und es danach lediglich vergessen hat. Beim zweiten oder dritten Mal wäre es verständlich, wenn Sie ungeduldig würden, aber bewahren Sie Ruhe. Anstatt verärgert zu reagieren, unterbrechen Sie mit aller Gemütsruhe die Beschäftigung ihres Kindes. Schalten Sie den Fernseher aus, nehmen Sie ihm sein iPad oder seine Legosteine weg. Sagen Sie ihm, dass Sie enttäuscht sind und dass Sie etwas anderes erwartet hätten.
Wird das Verhalten Ihres Kindes zum echten Problem – kommen Sie deswegen zum Beispiel zu spät zur Arbeit oder das Kind zu spät ins Bett, entziehen Sie ihm entweder den Gegenstand der Ablenkung oder planen Sie mehr Zeit ein. Viele Familien haben die Woche über eine »Keine-Bildschirme«-Regel. Lassen Sie Ihre Kinder schon am Abend die Kleidung für den nächsten Tag bereitlegen. Ich habe von Familien gehört, die ihre Kinder abends mit den sauberen Sachen für den nächsten Tag ins Bett gehen lassen; so müssen die Kinder morgens nur noch frühstücken, sich die Zähne putzen und ihre Schuhe anziehen. Mir gefällt diese Idee nicht besonders, weil ich denke, dass Kinder den Tag vielleicht erfrischter beginnen, wenn sie sich waschen und in andere Kleidung schlüpfen. Andererseits: Warum nicht eine neue Methode ausprobieren? Vielleicht funktioniert Sie bei Ihnen ja. Seien Sie kreativ! Tun Sie alles, was nötig ist, um Ihr Leben leichter zu machen. Es darf ruhig etwas Ungewöhnliches sein, Hauptsache, es geht nicht zulasten des Wohlbefindens einer anderen Person.
Manche Eltern reagieren auf die Herausforderungen mit einem Kleinkind, indem sie sich von der Welt zurückziehen. Sie haben solche Angst davor, dass ihre Kinder sich an öffentlichen Orten für Erwachsene nicht benehmen können, dass sie sie entweder zu Hause lassen, wenn sie nicht gerade in kinderfreundliche Cafés oder Restaurants gehen, oder ihnen ein iPad in die Hand drücken, damit sie leise sind. Doch keine dieser Strategien zeigt Kindern, wie sie sich angemessen verhalten. Es müssten sich viel mehr Eltern mit ihren Kleinen an öffentliche Orte wagen, an denen sich sonst nur Erwachsene aufhalten. Wir dürfen unsere Kinder nicht verstecken, wir müssen ihnen mehr Freiheiten zugestehen und sollten nicht gleich böse werden, wenn sie sich danebenbenehmen. In diesem Alter sind die Folgen eines unangemessenen Verhaltens minimal. Ja, es kann anfangs etwas mühselig sein, wenn Sie mit einem Glas Wein in der Hand entspannen und sich mit Freunden unterhalten wollen und stattdessen ständig darauf achten müssen, dass Ihre Kinder nicht zu laut sind oder irgendetwas anstellen. Legen Sie sich für diese Situationen eine Strategie zurecht, die Sie dann auch konsequent verfolgen, und teilen Sie sich die Mühe – falls möglich – mit Ihrem Partner. Kinder lernen schnell, was von ihnen erwartet wird, und sie lieben es, Teil Ihres Lebens zu sein. Je mehr Chancen Sie ihnen dazu geben und je mehr positive Verstärkung sie von anderen Erwachsenen und Ihnen bekommen, weil sie ach so reizend, interessant und wohlerzogen sind, desto leichter werden Sie sie bald überallhin mitnehmen können.
Noch ein Tipp für einen stressfreien Abend: Wenn Sie planen, Ihre Kinder zu einer Erwachsenenveranstaltung mitzunehmen, sorgen Sie dafür, dass sie sich vorher austoben können. Es ist erstaunlich, wie entspannt Kinder sein können, nachdem sie spielend Energie freigesetzt haben. Und wenn Sie zwei Kinder haben, die altersmäßig dicht beieinander liegen, setzen Sie sie am Tisch möglichst weit auseinander, zum Beispiel eins zu Ihnen oder Ihrem Partner, das andere zu einem viel älteren Kind oder einem Baby; so können sich die beiden nicht gegenseitig ärgern oder zu Dummheiten anstacheln.
Wir müssen unsere Vorstellung von Disziplin überdenken. Es darf dabei nicht darum gehen, den Kindern Einschränkungen aufzuerlegen und schlechtes Benehmen zu bestrafen, sondern darum, ihnen Freundlichkeit, Respekt, gutes Benehmen und Mitgefühl beizubringen und vorzuleben. Es sollte darum gehen, wie man Kindern helfen kann, ihre Individualität auszuleben, ohne dabei gegen allgemein anerkannte Normen zu verstoßen. Ganz sicher geht es dabei nicht um Befehle und Kontrollen. Es ist kraftraubend und letztlich doch vergeblich, ein anderes menschliches Wesen kontrollieren zu wollen, und sei dieses menschliche Wesen auch noch so klein.
Um etwas mehr Ruhe ins Familienleben zu bringen, kann es sehr hilfreich sein, die Prioritäten anders zu setzen. Entscheiden Sie, was für Sie und Ihre Lieben am wichtigsten ist, und verwenden Sie Ihre Energie darauf. Ihr Zuhause muss nicht tipptopp aussehen; Ihre Kinder können ruhig in einem von ihnen selbst gewählten, ausgefallenen Outfit beim Kinderarzttermin erscheinen. Wir könnten uns eine Menge Stress sparen, wenn wir nicht so viel Zeit auf Dinge verwenden würden, die eigentlich unwichtig sind. Stellen Sie eine Liste mit den Dingen zusammen, die wirklich erledigt werden müssen (meist fällt diese sehr kurz aus), und werfen Sie all das über Bord, von dem Sie nur dachten, dass es gemacht werden muss. Sie werden feststellen, dass Sie fortan weniger Zeit damit verbringen, Ihre Kinder zu disziplinieren, und stattdessen viel mehr Spaß mit ihnen haben, als Sie es je für möglich gehalten hätten.
Und bitte machen Sie sich keine Sorgen darum, was andere Leute denken. Viele Eltern werden Ihnen berichten, wie großartig ihre eigenen Kinder sind, wie verantwortungsbewusst und perfekt. Da ich mehrere Jahrzehnte mit Eltern und Kindern gearbeitet habe, weiß ich jedoch genau, dass die meisten dieser Leute die gleichen Kämpfe mit ihren Kindern austragen wie Sie, sie erzählen nur nichts davon. Damit unsere Kinder ihr volles Potenzial entfalten können, ist es sehr wichtig, dass sie in einem liebevollen, harmonischen Zuhause aufwachsen, in dem Mama und Papa sich noch mögen und die Kinder sich angenommen fühlen, weil die Eltern ihre Fähigkeiten und Stärken verstehen, anerkennen und entsprechend fördern. Umgekehrt können Kinder ihr Potenzial nicht entfalten, wenn sie in einem Zuhause aufwachsen, in dem das unrealistische Ideal der perfekten Familie angestrebt wird, aber jeder täglich daran erinnert wird, dass er daran scheitert.