Eine halbe Stunde später standen die Mädchen noch immer am Straßenrand. Isabella hatte versucht, Polly wütend zu machen, aber es klappte einfach nicht. Im Gegenteil! Ihre niedlichen Beleidigungen hatten Polly einen handfesten Lachanfall verpasst und jetzt musste Polly potzblitzdringend aufs Klo. Papas Wagen musste also warten.
Hand in Hand stürmten Polly und Isabella ins Rapsfeld hinein. Als die Freundinnen den Hof der Familie Schlottermotz erreichten, stand Papa vor Mamas Werkstatt und wedelte aufgebracht mit einem Büschel Grünzeug herum.
»Hüh-ner-kot, Antonia! Das ist ganz eindeutig HÜHNERKOT!« Aus dem Inneren der Scheune ertönte das Kreischen des neuen Bohrers. Papa verzog empört das Gesicht und rüttelte an der Tür. Mama hatte sich eingeschlossen! Zornig ließ Papa den Blick über den Hof schweifen – da entdeckte er die Mädchen. »Polly! Isabella!« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Doch als Polly losstürmte, um ihrem Vater um den Hals zu fallen, verschwand seine Begeisterung wieder. Hektisch wedelte Cornelius Schlottermotz mit den Händen. »Nein! Bloß nicht umarmen, Polly-Schatz!«
Irritiert blieb Polly stehen. »Aber ich kann mich nicht anstecken, Papa. Winnie hat gesagt, Vampire kriegen keine Windpocken.«
»Es geht doch nicht ums Anstecken.« Nervös kratzte Papa sich unterm Auge. »Es geht um den verflixten Hühnerkot!« Trotzig deutete er auf die vielen weißen Sprenkel, die auf seinem Pullover leuchteten. »Das waren die Hühner von den neuen Nachbarn. Die haben mir mein ganzes Kräuterbeet vollgekotet!« Papa presste die Lippen aufeinander und hielt den Mädchen das Grasbüschel hin. Tatsächlich! Auch die Blätter waren weiß gepunktet.
Isabella und Polly mussten kichern. Papa gab wirklich ein komisches Bild ab. Überall auf seiner Haut glühten rote Pocken, aber er schien sich mehr an den weißen Klecksen zu stören.
Empört blinzelte er die Freundinnen an. »Witzig ist das nun wirklich nicht! Vor allem, weil deine Mutter denkt, ich spinne! Und jetzt, wo ich ihr die Beweise zeigen will, hat sie sich in der Werkstatt verschanzt!« Entschlossen griff er in seine Hosentasche und fischte sein Handy heraus. »Aber so einfach lässt sich ein Cornelius Schlottermotz nicht abschütteln, oh nein!« Er wählte eine Nummer und im nächsten Moment verstummte der Bohrer in der Scheune. Stattdessen ertönte Mamas Klingelton.
Mama allerdings schien gar nicht daran zu denken, ans Telefon zu gehen, nein! Sie stieß das kleine Werkstattfenster auf und ließ das Handy vor Papas Füße plumpsen. Sprachlos blickte Cornelius Schlottermotz vom Telefon am Boden zu seiner Frau, die wütend durch das schmale Klappfenster spähte.
»Bist du jetzt zufrieden, Cornelius?«
»Aber … aber du kannst doch nicht …«, stammelte Papa verstört.
»Ich kann sehr wohl! Und beim nächsten Mal landet das Handy nicht vor deinen Füßen, sondern an deinem Kopf! Haben wir uns verstanden?«
Papa schnappte entrüstet nach Luft. »Ich wollte dir doch nur zeigen, was diese Hühner wieder angestellt haben!«
Mama ließ ihren Blick an Papa hinabgleiten. »Wer sagt denn, dass das die Hühner waren? Vielleicht hast du nur wieder mit deiner Salbe gekleckert?«
Isabella und Polly prusteten los.
Papa aber plusterte entrüstet die Nasenlöcher auf. »Erstens kleckere ich niemals mit irgendwas, liebe Antonia! Und zweitens kann ich ja wohl Hühnermist von Windpockensalbe unterscheiden! Ich bin nämlich weder blind noch blöd!«
Mama rollte mit den Augen. »Meinetwegen. Aber ein bisschen Hühnerkacke hat noch niemanden umgebracht …«
»Hühnerkot, Antonia! Es heißt Hühnerkot! Denk bitte an deine Vorbildfunktion!« Mit bedeutsamem Blick nickte er in Richtung der Kinder.
Mama grinste. »Meine Vorbildfunktion würde sich jetzt gerne mit meinem Bohrer an die Arbeit machen, sonst kann ich diesen Auftrag nämlich vergessen!« Mit einem Knall klappte das Fenster zu und Mama verschwand wieder in der Scheune.
Papa ließ seufzend den Kopf hängen und kratzte sich an der glühenden Nasenspitze.
Polly betrachtete ihren Vater mitfühlend. Ein bisschen leid tat er ihr schon …
»Ich würde dich wirklich gerne trösten, Papa, aber erst muss ich aufs Klo. Ich mach mir nämlich gleich in die Hosen …«
Als Polly von der Toilette zurückkehrte, fand sie ihren Vater und Isabella in Papas Kräuterbeet.
Isabella nickte gequält. »Ich fürchte, dein Vater hat recht. Hier haben überall Hühner hingemacht.«
Papa streckte dankbar die Hände in die Höhe. »Endlich glaubt mir mal jemand! Und kannst du mir vielleicht auch erklären, wie ich daraus noch Tee kochen soll? Ein heilender und beruhigender Kräutertee sollte es sein – UND KEIN TEE AUS HÜHNERKOT!«
Beruhigend wirkten diese Kräuter wirklich nicht auf Cornelius Schlottermotz, so viel stand fest. Er war furchtbar aufgebracht und kratzte hektisch mit den Fingernägeln über seine roten Windpocken. Armer Papa!
Polly wollte gerade etwas Aufmunterndes sagen, da wurde sie von einem Räuspern aufgeschreckt. Am Rande des Kräuterbeetes stand ein Junge und schob sich ein Bonbon in den Mund. Er hatte lange goldbraune Locken, die ihm seitlich in die Stirn hingen, und steckte lässig die Hände in die Hosentaschen. Als ihm dabei das Bonbonpapier auf den Boden fiel, wurde Papas Gesicht noch ein bisschen röter als zuvor.
»Unser Hof ist weder ein Hühnerklo noch ein Müllplatz! Das hebst du sofort wieder auf!«
Der Junge scharrte verlegen mit den Turnschuhen im Kies und pflückte das Papier vom Boden. »’tschuldigung …«
Polly betrachtete ihn fasziniert. Er war groß und schlank und höchstens zwei Jahre älter als sie selbst.
Unsicher lutschte er auf seinem Bonbon herum und räusperte sich ein zweites Mal. »Habt ihr meine Schwester gesehen?«
Papa kniff verärgert die Augen zusammen. »Eine Schwester habe ich nirgendwo entdeckt, dafür aber eine ganze Menge Hühnerkot!« Entschlossen richtete er seine Finger auf die weiß gesprenkelten Kräuter. Der Junge zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Tut mir leid. Ich war grad dabei, einen Käfig für die Hühner zu bauen, da ist Emmi verschwunden.«
»Emmi?« Isabella blickte ihn verständnislos an.
»Na, meine Schwester. Sie ist mal wieder ausgebüxt …«
Papa gab sich mit dieser Entschuldigung nicht zufrieden. »Junger Mann! Kannst du mir bitte erläutern, wie ich aus Hühnerkot einen gesunden Tee kochen soll?«
Lässig schob sich der Junge die Haare aus der Stirn und Polly konnte seine Augen sehen. Sie waren grün. Grün wie die Edelsteine aus einem Bergsee.
»Na ja …«, der Junge lutschte verlegen auf seinem Bonbon rum, »Sie können doch einfach Tee kaufen. Im Supermarkt zum Beispiel.«
»Supermarkt?« Papa hob entrüstet die Augenbrauen und kratzte sich am Ellenbogen. »Das ist alles nur Chemie! Ich will Natur, verstehst du? Natur pur!«
Polly musste kichern. »Genau genommen gehört Hühnerkacke ja auch zur Natur …«
Isabella prustete los und selbst auf dem Gesicht des Jungen zeichnete sich ein Lächeln ab.
Papa blickte Polly sprachlos an. Dann straffte er die Schultern und schaute zum Nachbarsjungen. »Ich hole jetzt den Gartenschlauch und sprüh das Beet ab! Aber wenn eure Hühner noch ein Mal auf meine Kräuter machen, dann … dann …«
»Willst du dann vielleicht mit ihnen reden, Papa?« Polly grinste frech. Cornelius Schlottermotz war nämlich Psü-cho-tee-ra-päut und schwer davon überzeugt, dass man jedes Problem lösen konnte, wenn man nur in Ruhe darüber sprach. Dass ihn das bei den Hühnern keinen Schritt weiterbringen würde, sah er selbst ein. Schnaubend stampfte er davon.
Der braun gelockte Junge sah Polly an und lächelte zaghaft. »Ich bin Justus.«
»Ich bin Knolly.« Polly zuckte zusammen. »Äh … P…Polly!«
Justus grinste und schob sich ein weiteres Bonbon in den Mund. »Du bist echt witzig.«
Polly schoss das Blut in den Kopf. Plötzlich war ihr Gesicht fast so rot wie das von Papa. Isabella blinzelte sie verwundert an.
Justus scharrte noch einmal mit der Schuhspitze im Kies. »Habt ihr Emmi nun gesehen, oder nicht?«
Polly zögerte. »Nie fiept lie kenn auf?« Potzblitz! Erschrocken schlug sie sich die Hände vor den Mund. Eigentlich hatte sie fragen wollen, wie Emmi denn aussah, und jetzt klang sie, als hätte sie einen Außerirdischen verschluckt. Der Blutorangensaft! Sie hatte vergessen, ihren potzblitzblöden Saft zu trinken. Dabei hatten sie am Bahnhof doch extra noch einen großen Vorrat gekauft! Auch Isabella hatte verstanden, was ihrer Freundin fehlte. Noch während Justus verwundert die Stirn kräuselte, zog sie Polly in Richtung Rapsfeld.
»Wir können dir leider nicht helfen mit deiner Schwester. Aber schau dich ruhig um auf dem Hof!« Dann verschwanden die Mädchen zwischen den gelb glühenden Pflanzen …