Während Papa Lottis Pizzareste vom Boden kratzte, verzogen sich Polly, Leni und Isabella in den Stall und striegelten die Ponys.
Leni reichte Gulasch eine Möhre durchs Gatter. »Hoffentlich findet deine Mama ihr Handy wieder …«
Auch Polly ging das verschwundene Telefon nicht aus dem Kopf. Es konnte doch nicht einfach vom Boden verschluckt worden sein! Oder …? Und wo um Himmels willen waren Mamas Leuchtturmtreppe und die Bohrmaschine gelandet?
Trieb sich etwa wirklich ein Dieb auf dem Hof herum? Potzblitz, nein! Polly verscheuchte den Gedanken wie eine lästige Stechmücke.
Isabella fuhr vorsichtig mit dem Kamm durch Suppes Mähne. »Ich sag es nur ungern, aber … vielleicht war es wirklich dieser Justus vom Nachbarhof. Er ist doch vorhin hier herumgeschlichen, um seine Schwester zu suchen.«
Leni riss überrascht die Augen auf. »Justus war hier?«
Verwundert blickte Polly ihre Freundin an. »Du kennst ihn?«
»Klar«, nickte Leni. »Er geht in unsere Klasse. Eigentlich ist er schon älter, aber seine Familie ist so oft umgezogen, dass er ein Jahr wiederholen musste. Trotzdem fehlt er oft. Auch heute hat er sich krankgemeldet …«
Isabella runzelte die Stirn. »Also krank sah der nicht aus. Meint ihr, er hat was mit den Diebstählen auf dem Hof zu tun?«
»Unsinn!« Polly schüttelte den Kopf. »Erstens ist es nicht fair, fremde Leute einfach so zu verdächtigen!« Energisch legte sie ihre Bürste zurück in den Korb. »Und zweitens: Wie sollte dieser Justus denn bitte eine riesige Treppe stehlen? Dafür ist er viel zu klein, selbst wenn er älter ist als wir!«
Damit hatte Polly natürlich recht. Und Isabella schämte sich auch ein bisschen für ihren bösen Verdacht.
Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. »Es war ja nur so ein Gedanke …«
Dummerweise ließ der Gedanke Polly einfach nicht mehr los. Selbst als sie spätabends in ihrem Bett lag, kreiste er durch ihren Kopf wie ein hungriger Schwarm Möwen über der Ostsee. Konnte es vielleicht sein, dass Isabella mit ihrer Vermutung doch richtiglag? Und wenn ja: Warum wehrte sich Polly so sehr gegen den Gedanken, dass Justus etwas im Schilde führte? Das alles war sehr merkwürdig, so merkwürdig sogar, dass Polly kein Auge zutat.
Und dann war da ja auch noch ihr Eckzahn! Weder Mama noch Papa hatten bemerkt, dass Polly ein Zahn fehlte. Beide waren zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen. Unsicher tastete Polly ihre Zahnlücke ab. Wann wohl der neue Vampirzahn durchkommen würde? Und was für eine Zauberkraft er mit sich brachte?
Seufzend ließ sich Polly in ihr Kissen sinken. Da hörte sie plötzlich ein Knirschen. Potzblitz! Was war das? Das klang wie … ja! Es klang, als würde jemand über den Flur schleichen. War das etwa der gemeine Dieb, der auf dem Hof sein Unwesen trieb?
Leise schwang Polly die Beine aus dem Bett. Diesem Schuft würde sie jetzt das Handwerk legen, oh ja! Er würde es noch bereuen, dass er seine langen Finger auf dem Hof der Familie Schlottermotz ausgestreckt hatte!
Doch bevor Polly auch nur einen Schritt machen konnte, öffnete sich bereits ihre Zimmertür. Erschrocken hielt sie die Luft an. Dann aber erkannte sie, wer in ihrem Türrahmen stand, und musste lachen.
»Isabella? Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!«
»Tut mir leid.« Zögerlich trat Isabella über die Türschwelle. »Ich konnte einfach nicht schlafen. Meinst du, ich könnte vielleicht …?«
»Klar!« Polly grinste. Ohne zu zögern, klappte sie ihre Bettdecke zur Seite und klopfte auf die Matratze. »Hüpf rein. Hier ist genug Platz für uns beide!« Erleichtert kletterte Isabella zu Polly ins Bett. Antonia Schlottermotz hatte ihr eigentlich Lottis Zimmer gegeben. Lotti wiederum sollte bei Papa übernachten, während Mama vorhatte, überhaupt nicht zu schlafen. Immerhin wartete noch eine ganze Menge Arbeit auf sie. Auch jetzt noch, mitten in der tiefsten Nacht, hörte Polly die dumpfen Schläge ihres Hammers in der Werkstatt.
Isabella kuschelte sich in Pollys warme Decke. »Ich war so viele Jahre allein in meinem Rahmen. Aber seit du mich befreit hast, mag ich einfach nicht mehr ohne Gesellschaft einschlafen.«
Behutsam griff Polly nach Isabellas Hand. »Das kann ich gut verstehen. Von jetzt an wirst du nie wieder einsam sein. Du hast ja mich! Und ganz bald finden wir auch deine Familie. Versprochen!«
»Meinst du?« Isabella sah sie mit großen Augen an.
»Natürlich! Wahrscheinlich tänzelt Tante Winnie in diesem Augenblick in die Grotte hinein und findet heraus, wo deine Familie ist. Und wenn wir das wissen, fahren wir los, um sie zu retten!«
Isabella lächelte Polly dankbar an. Dann aber senkte sie betroffen den Blick. »Es ist wirklich zu dumm, dass ich mich an nichts erinnere. Ich weiß nur noch, dass ich das Bewusstsein verloren habe, als meine Familie versteinert wurde. Und als ich wieder aufgewacht bin, waren sie weg …« Dicke Tränen glitzerten in Isabellas Augenwinkeln.
Polly strich ihr behutsam über das seidenglatte Haar. »Mach dir keine Vorwürfe. Im Buch vom Fluch steht doch, dass der Dingsdabums deine Familie an einen sicheren Ort gebracht hat.«
Isabella schniefte. »Aber warum hat er mich nicht mitgenommen?«
Polly zögerte einen Moment und blickte ihrer Freundin in die glänzenden Augen. »Weil du mich dann nicht gefunden hättest! Du hast doch selbst gesagt, dass du etwas Besonderes gespürt hast, als Winnie deinen Rahmen auf dem Markt entdeckt hat. Deshalb bist auf dem Hausboot gelandet. Deshalb sind wir jetzt hier zusammen!« Zuversichtlich strich sie Isabella eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Glaub mir, Isabella. Alles hat einen Sinn. Wir verstehen ihn nur noch nicht …«
Isabella wischte sich die Augen am Nachthemd trocken und nickte tapfer. »Du hast recht. Ich hab großes Glück, dass ich dich gefunden habe.« Müde ließ sie ihren Kopf in Pollys Kissen sinken und gähnte. »Und wahrscheinlich hab ich mich vorhin auch geirrt …«
Polly blickte ihre Freundin irritiert an. »Womit geirrt?«
»Na, mit diesem Justus. Vermutlich hat er wirklich nichts mit den Diebstählen zu tun.« Verschlafen drehte sie sich auf die andere Seite und schloss die Augen. Kurz danach hörte Polly ihren ruhigen, gleichmäßigen Atem. Isabella war eingeschlafen. Und Polly hätte es ihr nur zu gern gleichgetan.
Doch als sie sich zum Fenster drehte und durch die Wimpern blinzelte, prallte von draußen plötzlich ein rotes Licht gegen die Scheibe! Ein Glühwicht? Mitten in der Nacht? Potzblitz! Polly konnte gerade noch sehen, wie der Wicht in die Regenwassertonne unter ihrem Fenster stürzte und mit einem Zischen erlosch. Was um alles in der Welt hatte das kleine Fluglicht nur gewollt? Unruhig blickte Polly zur Zimmertür und lauschte. Aber nein. Nichts. Nicht mal das kleinste Geräusch drang vom Flur herein. Vielleicht hatte sich der Glühwicht nur verirrt? Vielleicht war es ein Fehlalarm?
Polly wollte sich gerade ins Kissen zurücklehnen, als draußen ein krachender Blitz vom Himmel herabfuhr. Was war hier nur los?!
Isabella hob im Halbschlaf ein Augenlid. »Gibt es ein Gewitter?«
Polly spähte aus dem Fenster. Ein Gewitter? Nein, der Himmel war sternenklar. Merkwürdig …
Dann aber bemerkte Polly draußen auf dem Hof etwas noch Merkwürdigeres: Die Stalltür von Gulasch und Suppe öffnete sich und eine dunkle Gestalt huschte hinaus. Aber das war doch …! Nein, unmöglich! Polly rieb sich die müden Augen. Die Locken, die im Mondlicht schimmerten, die Hände, die sich tief in die Hosentaschen gruben – ja, es gab keinen Zweifel: Der Schatten, der sich dort aus dem Stall der Familie Schlottermotz schlich, war Justus! Was hatte er hier zu suchen? Und warum trieb er sich mitten in der Nacht auf einem fremden Hof herum? Potzblitz! Polly kniff die Augen zusammen. Sollte sie hinausschleichen und ihn zur Rede stellen? Aber nein, sicher hatte der Nachbarsjunge nichts Schlimmes angestellt. Polly kuschelte sich in ihr Kissen. Und dennoch ließ der sorgenvolle Gedanke sie nicht los. Was, wenn Isabella recht hatte? Was, wenn Justus tatsächlich etwas im Schilde führte …?