Als Polly am nächsten Morgen die Augen aufschlug, griff sie zuallererst nach Papas Handy, das auf dem Nachttisch lag. Irritiert runzelte sie die Stirn. »Merkwürdig. Winnie hat gar nicht angerufen. Dabei wollte sie sich doch melden, sobald sie aus der Grotte raus ist …«

Isabella, die bereits aufgestanden war und sich vor dem Spiegel einen Zopf band, grinste. »Vielleicht hat sie’s ja noch mal bei deiner Mama probiert. Du weißt doch, wie ungern sie mit deinem Vater telefoniert …«

Kaum hatte sie das Wort »Vater« ausgesprochen, platzte wie auf Knopfdruck Pollys Papa ins Zimmer. Obwohl es noch nicht mal acht war, war Cornelius Schlottermotz bereits mächtig aufgebracht. Mit den unzähligen roten Windpocken, die überall auf seiner Haut glühten, sah er beinahe aus wie ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum. Nur seine Laune war von Weihnachten meilenweit entfernt. Wütend kniff er die Augenbrauen zusammen.

»Polly Schlottermotz! Ich habe ein Hühnchen mit dir zu rupfen!«

Lustlos blinzelte Polly zwischen ihren schweren Augenlidern hindurch. »Sag bloß, die Hühner vom Nachbarhof haben schon wieder in dein Kräuterbeet gemacht?«

»Oh nein! Nein, nein, nein und nochmals nein!« Papa schüttelte energisch den Kopf. »Das, was ich meine, haben sicher nicht die Hühner verzapft!« Entschlossen griff er sich Pollys Hand und zog sie hinter sich her auf den Hof hinaus. Noch immer dröhnte und hämmerte es dumpf aus Mamas Werkstatt. Die Arme! Hatte sie etwa wirklich die ganze Nacht durchgearbeitet?

Obwohl Isabella viel mehr geschlafen hatte als Polly, fiel es auch ihr schwer, den schnellen Schritten von Papa Schlottermotz zu folgen.

Als sie endlich die Rückseite des Hauses erreicht hatten, erkannten die Mädchen, was Pollys Vater derart wurmte: Ein prächtiger Birnbaum links neben dem Kartoffelkeller war bis auf die Wurzeln hinab gespalten.

Papa schnaubte und kratzte sich am Kinn. »Könnt ihr mir das erklären?«

Isabella runzelte die Stirn. »Sieht ganz so aus, als hätte ein Siebenschläferblitz hier eingeschlagen …«

»Richtig!« Papa streckte den Finger in die Höhe und blickte Polly vorwurfsvoll an. »Also. Spuck’s aus: Was hast du angestellt?«

»Ich?« Polly traute ihren Ohren kaum. »Wie kommst du darauf, dass ich etwas angestellt habe?«

»Das ist doch klar!« Wütend fuhr Papa sich über die juckenden Pocken auf dem Arm. »Die Siebenschläfer schicken nur einen ihrer Blitze, wenn ein Vampir seine Kraft missbraucht. Und der einzige Vampir weit und breit bist du!«

Polly schnappte nach Luft. »Das stimmt nicht! Isabella ist auch ein Vampir!«

Papa kniff die Augen zusammen. »Sie hat aber keine Zauberkraft! Also kann sie sie auch nicht missbraucht haben!«

Zum Glück sprang Isabella Polly zur Seite. »Ich war aber die ganze Nacht bei Polly. Ehrenwort! Sie hat wirklich nichts gemacht.«

»Nichts?« Unsicher schob Papa sich seine Brille zurecht. »Aber … wer hat denn dann meinen schönen Birnbaum gespalten?«

»Keine Ahnung! Aber ich war es sicher nicht!« Trotzig kratzte Polly sich an der Nase – da schrillte plötzlich ein fürchterlicher Alarm los.

Papa schmiss sich vor Schreck auf den Boden und Isabella presste sich die Hände auf die Ohren. Potzblitz! Was für ein Lärm!

»WO KOMMT DAS HER?« Papa schrie verzweifelt gegen das furchtbare Klingeln an. Polly schüttelte hilflos den Kopf. Sie hatte keinen blassen Schimmer, woher dieser Höllenlärm kam. Sie wusste ja nicht mal, was es genau war! Hatte Mama dem Hof vielleicht eine Alarmanlage verpasst, um den gemeinen Dieb zu verjagen? Bevor Polly der Sache auf den Grund gehen konnte, näherte sich schon die nächste Katastrophe: Hühner! Ein ganzer Schwarm wild gewordener Hennen flatterte kreischend vom Nachbarhof herüber und steuerte zielstrebig auf Polly, Papa und Isabella zu. Gackernd schlugen sie mit den Flügeln und wirbelten mächtig viel Staub auf.

Papa rollte sich auf dem Boden ein und versuchte, die aufgebrachte Hühnerschar abzuwehren. Aber vergeblich! Der schreckliche Alarmton in der Luft schien die Federviecher nicht nur magisch anzulocken, nein, er machte sie auch potzblitzwütend! Aber woher kam das schrille Klingeln bloß? Und vor allem: Wie ließ es sich wieder abstellen?

Hilflos blickte Polly zu Isabella, da huschte plötzlich ein Lächeln über das Gesicht ihrer Freundin.

Isabella musste schreien, damit Polly sie verstand: »DEIN ZAHN! DU HAST DEINEN NEUEN ZAHN BEKOMMEN!«

Verunsichert riss Polly die Augen auf und tastete ihren Unterkiefer ab. Tatsächlich! Da, wo gestern noch die kleine Lücke gewesen war, saß nun ein neuer, spitzer Eckzahn.

Isabella grinste und formte die Hände zu einem Lautsprecher. »DEIN ZAHN MACHT DEN LÄRM! DU MUSST NACHDENKEN: WOMIT HAST DU DEN ALARM AUSGELÖST?«

Ausgelöst? Polly hatte keine Ahnung! Konzentriert kniff sie die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Bei dem Lärm konnte ja kein Mensch nachdenken! Nach dem Aufstehen hatte Papa sie auf den Hof gezerrt, ja, und dann hatten sie den Birnbaum betrachtet und … Die Nase! Polly hatte sich an der Nase gekratzt! Konnte es etwa sein, dass …? Ohne lange zu zögern, fuhr Polly mit ihrem Finger ein weiteres Mal über den Nasenflügel – und siehe da: Der Lärm verstummte.

Erschöpft ließ Polly die Schultern hängen. Auch die Hühner beruhigten sich schnell und pickten gurrend im Kies herum, als wäre nichts gewesen. Papa allerdings sah schauerlich aus. Seine Haare waren zerrupft wie ein Vogelnest, sein Hemd war übersät mit Hühnermist und die Windpocken in seinem Gesicht glühten wie der Polarstern persönlich.

Ungläubig blinzelte Papa in die Runde. »Was … was war denn das?«

Polly half ihrem Vater auf die Beine. Isabella versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. »Das war Pollys neuer Zahn.«

Papa schob sich irritiert die Brille zurecht. »Du hast schon wieder einen Vampirzahn bekommen?«

Isabella nickte für Polly. »Ja, es ist offenbar ein Alarmzahn. Und er wird ausgelöst, wenn Polly an ihrer Nase rumkratzt.«

»Ein Alarmzahn?« Polly sah ihre Freundin verwundert an. »Woher weißt du das?«

Isabella musste grinsen. »Mein Onkel Theodor hatte auch so einen. Aber der wurde immer ausgelöst, wenn er pupsen musste.« Sie gluckste vor Lachen. »Der arme Theo konnte niemals heimlich pupsen. Sobald der Alarm ertönte, wussten alle Bescheid …«

Bei dieser Vorstellung musste auch Polly lachen.

»Ich weiß wirklich nicht, was daran lustig ist!« Papa klopfte sich den Staub von der Hose und deutete auf das Chaos aus Hühnerdreck und Birnbaumsplittern. »Seht euch nur diesen Schlamassel an! Wer soll denn das wieder sauber machen?«

»Na, du!« Polly lächelte und gab ihrem sprachlosen Vater einen Kuss. »Isabella und ich bringen jetzt nämlich Lotti weg.«

Papa war von dieser Idee natürlich kein bisschen begeistert, aber es ging nicht anders. Lotti musste schließlich in den Kindergarten und Papa durfte sich den anderen Kindern nicht nähern. Immerhin war er nicht nur ansteckend, nein, mit seinen vielen roten Punkten sah er einfach zum Fürchten aus!

Während sich Cornelius Schlottermotz die nötigen Werkzeuge zur Hofreinigung zusammensuchte, zogen Polly und Isabella die kleine Lotti an und machten ihr ein dick bestrichenes Marmeladenbrot.

Glucksend steckte Lotti ihre kleinen Finger in das Marmeladenglas und malte mit dem süßen Fruchtaufstrich ein Bild von Papa an den Küchenschrank. »Papa mag Marmela-de-de!«, trällerte sie fröhlich, während sie dem Bild dicke Erdbeerkleckse verpasste.

Als Isabella durchs Küchenfenster sah, wie Pollys Vater mit dem Gartenschlauch kämpfte, tat er ihr schon ein bisschen leid.

»Es dauert mindestens zwei Stunden, bis alles wieder sauber ist …«

»Wunderbar!«, freute sich Polly und wischte Lotti die Finger ab. »Dann ist er wenigstens beschäftigt und lässt Mama in Ruhe arbeiten.«

In der Tat fand Polly diese Vorstellung beruhigend. Der Tag war zwar turbulent gestartet, aber vielleicht entwickelte er sich jetzt doch noch ganz gut? Polly jedenfalls war zuversichtlich. Die Hühner hatten sich freiwillig auf den Nachbarhof zurückgezogen und die Sonne strahlte am blauen Himmel. Die Bedingungen waren perfekt, um Lotti auf den Ponys in den Kindergarten zu bringen.

Doch als die drei Mädchen den Stall betraten, verflog Pollys gute Laune schlagartig wieder.

»Wo ist denn Gulasch?« Unsicher ließ sie ihren Blick durch den Raum gleiten. Suppe stand wie gewohnt vorne am Gatter und kaute auf einem Büschel Stroh herum. Aber von Gulasch fehlte jede Spur. Lotti wühlte vergnügt im Heu. Isabella jedoch konnte gut verstehen, dass Polly sich Sorgen machte.

»Vielleicht ist er auf der Koppel?«

Hastig eilten die Freundinnen nach draußen. Aber nein. Auch hier war weit und breit kein Pony zu sehen. Potzblitz! Plötzlich beschlich Polly ein ungutes Gefühl. War Gulasch etwa ausgebüxt? Oder schlimmer noch: Konnte es sein, dass ihn jemand gestohlen hatte …?