Betroffen drängten sich die Mädchen schließlich zu dritt auf Suppes Rücken.
Als sie Lotti wohlbehalten am Kindergarten abgesetzt hatten und zurückritten, erzählte Polly Isabella, was sie in der letzten Nacht vor dem Stall beobachtet hatte.
Isabella konnte es nicht glauben. »Warum hast du mich nicht geweckt? Wir hätten diesen Justus sofort aufhalten sollen!«
Polly seufzte. »Wer sagt denn, dass er etwas mit Gulaschs Verschwinden zu tun hat?«
Isabella blickte ihre Freundin ungläubig an. »Er ist aus dem Stall geschlichen! Mitten in der Nacht! Das ist ja wohl mehr als verdächtig.«
Polly schüttelte den Kopf. »Aber er hatte kein Pony dabei. Das hätte ich doch gesehen.« Unsicher ließ sie die Schultern sinken. Obwohl sie Justus nicht besonders gut kannte, wollte sie einfach nicht daran glauben, dass er Gulasch gestohlen hatte. Isabella aber blieb bei ihrem Verdacht.
»Ich spüre das, Polly. Mit diesem Kerl ist irgendwas faul …«
Zurück auf dem Hof schlossen die beiden Freundinnen zuallererst Suppe in seiner Box im Stall ein. Als sie hinaus in die Einfahrt traten, war Mama in heller Aufregung. Hektisch kramte sie in Papas Kofferraum nach dem Erste-Hilfe-Kasten.
»Ich dachte, ihr kümmert euch um deinen Vater, Polly! Er treibt mich schon wieder in den Wahnsinn!« Antonia Schlottermotz sah schrecklich aus. Sie hatte tatsächlich die ganze Nacht an der neuen Leuchtturmtreppe gearbeitet und keine Minute geschlafen. Die Schatten unter ihren Augen reichten fast bis in die Mundwinkel hinab. Besorgt beobachtete Polly, wie sie nun mit dem Verbandskasten über den Hof stolperte.
»Was ist denn passiert, Mama?« Polly und Isabella hatten Mühe, ihren flinken Schritten zu folgen.
»Dein Vater wollte einen Zaun um sein Beet ziehen, um es vor den Hühnern zu schützen«, erklärte Mama und verdrehte seufzend die Augen. »Dabei hat er sich den Hammer auf die Hand gehauen. Jetzt sitzt er zwischen seinen Kräutern und heult wie ein mutterloses Seehundbaby.«
Isabella stellte sich Antonia Schlottermotz in den Weg und nahm ihr den Erste-Hilfe-Kasten ab. »Keine Sorge. Wir kümmern uns um Pollys Papa, versprochen! Du solltest jetzt lieber ein bisschen schlafen gehen.«
Erschöpft schüttelte Mama den Kopf. »Für Schlaf bleibt heute keine Zeit. Ich hab immer noch alle Hände voll zu tun mit diesem Bühnenbild. In zwei Tagen kreuzen die Theaterleute hier auf …« Hilfe suchend blickte sie in die Augen ihrer Tochter. »Bitte, Polly. Sorg dafür, dass Papa mich heute nicht mehr stört.«
Und noch bevor Polly etwas erwidern konnte, war ihre Mutter bereits in Richtung Werkstatt verschwunden. Die beiden Mädchen sahen ihr nachdenklich hinterher.
Isabella stupste Polly vorsichtig an. »Meinst du, wir hätten ihr sagen sollen, dass Gulasch verschwunden ist?«
Polly schüttelte den Kopf. »Nein, Mama hat schon genug Probleme. Und Papa sollten wir besser auch nichts erzählen, er kratzt sich sonst noch die Haare vom Kopf.«
Isabella nickte. Ja, sie würden schon eine Lösung finden. Mit Sicherheit tauchte Gulasch von allein wieder auf, er konnte schließlich nicht vom Erdboden verschluckt sein. Oder etwa doch …?
Während Isabella im Kräuterbeet Cornelius Schlottermotz verarztete, holte Polly das Handy, das noch immer auf ihrem Nachttisch lag.
Besorgt hielt sie Isabella das Telefon hin. »Winnie hat immer noch nicht angerufen. Da stimmt irgendwas nicht …«
Gekonnt wickelte Isabella einen Verband aus Kräutern um Papas schmerzende Hand und lächelte Polly aufmunternd an. »Mach dir keine Sorgen. Du kennst doch Winnie. Sie hat sicher nur vergessen anzurufen.«
»Vergessen …?« Polly biss sich verunsichert auf die Lippe.
Isabella nickte. »Oder sie hat keine Münzen mehr fürs Telefon. Ich bin mir jedenfalls ganz sicher, dass alles gut ist. Du wirst schon sehen: Vielleicht spaziert sie schon heute Nachmittag auf den Hof. Und dann erfahren wir endlich, wo meine Familie steckt!«
Potzblitz, ja! Wahrscheinlich waren Pollys Befürchtungen unbegründet. Tante Winnie war immerhin mit allen Wassern gewaschen. Außerdem hatte sie ja Adlerauge dabei – und im Zweifelsfall konnte sie jeden Schurken mit ihrem grausigen Wanderlied verjagen. Polly seufzte. Nein, um Tante Winnie musste sie sich vermutlich keine Gedanken machen. Die Probleme auf dem Hof hier bereiteten ihr allerdings Magenschmerzen.
Missmutig reichte sie Papa sein Handy. Der aber hatte für das Telefon gar keinen Blick. Beeindruckt betrachtete er den Verband, den Isabella um seine verletzte Hand gewickelt hatte.
»Es tut überhaupt nicht mehr weh. Das ist Magie! Besser als jeder Vampirzauber!« Er strahlte wie ein frischgebackener Lotteriegewinner.
Isabella lächelte stolz. »Das hat mir meine Mama damals beigebracht. Vor zweihundert Jahren gab es noch nicht so viele Medikamente, also haben wir die Heilkräfte der Natur genutzt.« Grinsend tippte sie auf Papas Verband. »Aber das Beste ist: Da, wo das Verbandszeug deine Hand bedeckt, kannst du dich nicht mehr kratzen.« Sie kicherte.
Auch Polly musste lachen. Und mit einem Mal hatte sie eine potzblitzgute Idee …
Eine Stunde später schob Polly ihren Vater vor den großen Spiegel im Schlafzimmer. Cornelius Schlottermotz blinzelte sein Spiegelbild ungläubig an und stieß dann einen fürchterlichen Schrei aus.
»Ich … ich … ich seh ja aus wie eine Mumie!«
Isabella versuchte, ernst zu bleiben, aber Polly konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Es hatte zwar etwas gedauert, bis sie Papa von Kopf bis Fuß mit Salbe eingerieben und in Klopapier eingewickelt hatten, aber potzblitz! Das Ergebnis stimmte sie sehr zufrieden.
»Sieh’s doch mal positiv, Papa. Jetzt kannst du dich wenigstens nicht mehr kratzen und die Windpocken heilen schneller.«
Obwohl der Verband nur Papas Augen frei ließ, konnte Polly erkennen, dass ihr Vater unter seinem Mumienkleid raketenböllerrot anlief.
»Windpocken hin oder her! So kann ich mich doch nirgendwo sehen lassen!«
»Das sollst du ja auch gar nicht«, erwiderte Polly frech und schob ihren verdutzten Vater hinaus auf den Balkon. »Du legst dich jetzt einfach ein paar Stunden auf die Liege und genießt die Ruhe. Mumien machen nämlich Mittagsschläfchen!«
»Mittagsschläfchen?« Cornelius Schlottermotz sprang hektisch von der Sonnenliege auf. »Aber ich wollte doch die Hühner …« Weiter kam er leider nicht, denn Polly hatte bereits die Balkontür von innen geschlossen und ihren Vater ausgesperrt.
Isabella sah sie überrascht an. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«
Polly zuckte mit den Schultern und grinste. »Wir lassen ihn ja nur für ein Weilchen da draußen. So kann er nicht schon wieder Chaos stiften. Und wir beide haben Zeit, um Gulasch zu suchen.«
Ein flüchtiger Blick zu Suppe in den Stall bestätigte Pollys Befürchtung: Gulasch war nicht wie von Zauberhand wieder aufgetaucht. Aber wo steckte er bloß? Hoch konzentriert suchten die Mädchen die Koppel nach Spuren ab. Polly rüttelte am Gatter: fest verschlossen! Gulasch konnte also nicht einfach ausgebüxt sein. Trotzdem liefen die Freundinnen kreuz und quer durch das Rapsfeld und über die umliegenden Wiesen und riefen nach dem Pony. Doch es half nichts. Gulasch blieb verschwunden …
Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit in den Stall zurückkehrten, ließ Polly sich verzweifelt in den großen Heuhaufen fallen. Traurig vergrub sie das Gesicht in den Händen.
Isabella merkte, dass Polly mit den Tränen rang, und legte tröstend den Arm um sie. »Wir finden Gulasch. Versprochen!«
»Aber wir haben doch schon überall nach ihm gesucht«, schniefte Polly. Betroffen wischte sie sich eine dicke, salzige Träne aus dem Augenwinkel. »Er ist nicht im Stall und nicht auf der Koppel! Und rund um den Hof ist er auch nicht. Es gibt keine Spur von ihm, nicht mal die weltallerkleinste.« Geknickt zog sie die Knie an ihren Körper und schob dabei etwas Stroh zur Seite.
Und da entdeckte Isabella es! Es war klein, rechteckig und bunt – und es war eindeutig eine Spur. Aber Isabella war sich sicher, dass Polly diese Spur kein bisschen gefallen würde …