Blitzschnell rannten die Mädchen zurück auf den Hof der Familie Schlottermotz. Schon von Weitem entdeckten sie Pollys Vater. Er hatte sich vom Balkon abgeseilt und rannte nun wie von der Tarantel gestochen ums Haus herum. Das Klopapier, das Isabella und Polly um seinen Körper gewickelt hatten, hing ihm in Fetzen vom Leib und gab den Blick frei auf seine bunt geblümte Unterhose. »Lass mich in Ruhe, du … du … DU DUMMES HUHN!«

Dummes Huhn? Tatsächlich! Jetzt erst bemerkte Polly, dass ihr Vater nicht alleine war. Eine wild gewordene Henne flatterte um Papa herum. Ihr Gefieder leuchtete feuerrot und sie krächzte, als ginge es um ihr Leben. Merkwürdig. Hatte Frau Rottlaus nicht gerade eben das letzte entflohene Huhn zurück in den Käfig gesperrt? Hatte sie dabei vielleicht ein Tier übersehen …?

Polly und Isabella sahen einander verwundert an.

Cornelius Schlottermotz schlug wie von Sinnen um sich. Das Federvieh ließ sich davon allerdings nicht abschrecken, nein. Im Gegenteil! Mit hartnäckigen Flügelschlägen trieb es Pollys Vater kreuz und quer über den Hof. In seiner Uniform aus Unterwäsche und Klopapierfetzen taumelte Papa über die Wiese hinter der Koppel und stolperte schließlich in den kleinen Eichenwald hinein, der das Grundstück der Familie Schlottermotz begrenzte.

Isabella und Polly kamen kaum hinterher. »Potzblitz! Bleib doch mal stehen, Papa!«

Cornelius Schlottermotz aber war viel zu beschäftigt damit, das wilde Huhn abzuwehren. Immer tiefer drang er dabei zwischen den Baumstämmen hindurch in den Wald hinein. Als gar nichts mehr half, versuchte er schließlich, die rote Henne mit seiner »Geheimwaffe« zu bezwingen: dem Reden.

»Hey, lass das! Wir können über alles sprechen, so lange du deine Flügel einpackst. Ich bin nämlich kein Teppich, den man einfach so ausklopfen kann!«

Das wütige Federvieh aber schien sich von Papas Gesprächsangebot nicht sonderlich beeindrucken zu lassen. Immer weiter hackte und pickte es auf seinem rot glühenden Kopf herum. Erst als er völlig erschöpft auf eine kleine Lichtung purzelte, ließ das Huhn von ihm ab und flatterte keuchend in ein Gebüsch. Offenbar brauchte es selbst eine kleine Verschnaufpause.

Polly und Isabella stützten sich an einem Baumstamm ab und schnappten nach Luft. Auch Papa war völlig außer Atem. Zum Glück war dieser Spuk vorbei! Ermattet ließ Cornelius Schlottermotz sich auf den feuchten Waldboden fallen. Doch gerade als er seinen Kopf im weichen Gras ablegen wollte, gab der Boden plötzlich nach – und Pollys Papa verschwand mit einem Schrei in der Tiefe!

Sofort stürmten Polly und Isabella vor und beugten sich über das Loch im Gras. »Papa? Ist alles in Ordnung bei dir?«

Isabella tastete den Rand des Lochs ab. »Ich glaub, das ist ein Brunnenschacht.« Ja, Pollys Vater war offensichtlich in einen alten Brunnen eingebrochen.

Mit gespitzten Ohren hörten die Mädchen, wie sich Cornelius Schlottermotz ächzend in der Dunkelheit aufrappelte.

»Nichts passiert.« Papa versuchte, besonders tapfer zu klingen. »Ehrlich, ich fühl mich super! So super wie schon lang nicht …« Dann verstummte er plötzlich und stieß einen fürchterlichen Schrei aus!

Polly und Isabella zuckten zusammen. »Was ist los, Papa?«

»MONSTER!« Papa schrie, als ginge es um sein Leben. »HILFE! HIER UNTEN SIND GESPENSTER!!!«

Polly hörte, wie er mit Händen und Füßen an den Brunnenwänden kratzte, um sich hinaufzuretten.

»Gespenster …?«

Isabella zuckte hilflos mit den Schultern und versuchte, Pollys Vater zu beruhigen. »Das sind bestimmt nur ein paar Spinnweben!«

Papa aber schien das wenig zu besänftigen. »IHR MÜSST MICH HIER RAUSHOLEN! SCHNELL!!!« Seine Stimme überschlug sich vor Angst.

Polly seufzte. »Ist gut. Wir laufen zum Hof zurück und holen ein Seil. Und dann ziehen wir dich …«

»Nicht nötig!« Eine fremde Stimme fuhr von hinten dazwischen und schnitt Polly das Wort ab. Potzblitz!

Erschrocken drehten sich die Mädchen um und entdeckten einen kleinen dicken Mann, der auf den Brunnenschacht zustolperte. Ein paar Schritte hinter ihm folgte eine ebenso kleine rundliche Frau mit glühenden Bäckchen. Gemeinsam trugen die beiden eine alte Strickleiter, die sie im nächsten Moment über den Rand des Brunnens rollten.

Der kleine Mann nickte freundlich und lächelte. »Ich denke, damit sollten wir ihn hochbekommen.«

Aus dem Gebüsch, in dem eben die rote Henne verschwunden war, erklang auf einmal ein aufgeregtes Krächzen. Die beiden fremden Herrschaften kniffen alarmiert die Augen zusammen. Doch als die kleine Frau mit flinken Schritten auf den Busch zueilte, hörten Polly und Isabella, wie das Huhn mit kräftigen Flügelschlägen das Weite suchte. Merkwürdig. Warum ließ es sich von Papas Tritten und Schlägen kein bisschen beeindrucken, ergriff aber die Flucht, sobald es zwei kleine dicke Herrschaften erblickte …?

Polly kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn im nächsten Augenblick patschte Papas Hand über den Rand des Brunnens.

Der Strickleitermann ergriff sein zitterndes Handgelenk und zog Cornelius Schlottermotz mit aller Kraft an die Oberfläche. Auf allen vieren ließ Pollys Papa sich ins rettende Gras sinken. Er rang nach Atem und seine roten Windpocken leuchteten so stark, als hätte er eine Lichterkette verschluckt.

»Das … das war wirklich … also … danke!« Ächzend schloss Papa die Augen.

Die kleine dicke Frau musste lächeln. »Sieht so aus, als wären wir gerade zur rechten Zeit aufgetaucht.«

Polly betrachtete die beiden Fremden unsicher. Sie hatten geholfen, ihren Vater zu retten, ja, aber trotzdem störte Polly etwas an den beiden.

»Und Sie sind zufällig hier im Wald, weil … Sie einen Platz zum Zelten suchen?«

Die Frau blinzelte nervös. »Na ja, nicht ganz, nein. Wir haben uns verfahren und dann …«

»Haben wir einen Schrei gehört!«, pflichtete ihr der Mann bei. »Jawohl, einen Schrei!« Mitleidig blickten sie Pollys Vater an.

Er gab ein jämmerliches Bild ab in seinem Kostüm aus Unterwäsche, Klopapierfetzen und roten Punkten. Immerhin schaffte er es nun, sich aufzusetzen und die Brille auf seiner Nase zurechtzurücken. Noch immer atemlos blinzelte er seine beiden Retter an.

»Ich bin … C…Cornelius Schlottermotz. Und ich m…möchte mich herzlich …«

»Schlottermotz?« Der kleine Mann schnitt Papa das Wort ab und blickte seine Frau überrascht an.

Papa kniff verunsichert die Augen zusammen und lächelte dann. »Sind Sie etwa … diese Theaterleute?«

»Theaterleute?« Die Frau runzelte die Stirn.

Papa kämpfte sich auf die wackligen Beine. »Meine Frau hat erst in zwei Tagen mit Ihnen gerechnet …« Lächelnd hielt er den Herrschaften seine Hand hin. »Ringelröschen, richtig? Herr und Frau Ringelröschen?«

Der kleine Mann zögerte einen Moment, dann aber schüttelte er kräftig Papas Hand. »Richtig! Rin-gel-rös-chen. Das sind wir. Ich bin Fridolin. Und das ist meine Frau: Lavinia. Lavinia Ringelröschen

»Hocherfreut, Herr Schlottermotz!« Mit einem eifrigen Lächeln auf den Lippen ergriff auch die kleine Frau Papas Hand. Dann schweifte ihr Blick zu Polly und Isabella, die noch immer am Rand des Brunnenschachtes hockten. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie glücklich wir sind, dass wir Sie gefunden haben!«

Irgendetwas an der Art, wie diese Dame glücklich sagte, gefiel Polly nicht, nein, nicht mal ein klitzekleines bisschen. Mit diesen beiden Fremden stimmte etwas nicht – Polly konnte nur nicht sagen, was …