Nachdem Polly den Theaterleuten den richtigen Weg zum Hof beschrieben hatte und sie hastig zu ihrem Wagen geeilt waren, führten die Mädchen Cornelius Schlottermotz über die Wiese zurück.
Mama war kein bisschen begeistert, als sie die drei zerzausten Gestalten in ihrer Werkstatttür stehen sah. Zum einen bereitete es ihr Magenschmerzen, dass die Ringelröschens nicht erst in zwei Tagen, sondern bereits in wenigen Minuten auf dem Hof eintreffen würden. Der Leuchtturm, den die beiden für ihr Wandertheater in Auftrag gegeben hatten, war noch immer nicht fertig. Den beiden Fremden jetzt gleich halbe Sachen präsentieren zu müssen, setzte Antonia Schlottermotz unter Druck.
Zum anderen konnte Mama einfach nicht glauben, dass Papa schon wieder Unfug angestellt hatte. Hektisch kramte sie in einem Bretterhaufen. »Es wird Zeit, dass du wieder arbeiten gehst, Cornelius! Sonst bin ich bald hauptberuflich damit beschäftigt zu reparieren, was du kaputt machst!«
Papa schnappte empört nach Luft und kratzte sich am Unterschenkel. »Ich darf doch sehr bitten, Antonia! Ich verlange ein kleines bisschen Mitgefühl!« Schnaubend stieg er in den Trainingsanzug, den Isabella ihm aus dem Wäschekeller gebracht hatte. »Immerhin haben da unten in der Tiefe ein paar eiskalte Monsterhände nach mir gegriffen. Jawohl, Monsterhände!«
Pollys Mutter stieß einen Seufzer aus und verdrehte die Augen. »Natürlich, Cornelius. Da unten in diesem alten Brunnen haust ein Haufen schrecklicher Monster. Und die warten nur darauf, dass ihnen ein Leckerbissen wie du in die Hände fällt.« Sie grinste Papa frech an. »Aber ganz offensichtlich hast du ihnen nicht geschmeckt, mein Lieber. Sonst hätten sie dich doch mit Haut und Haaren verspeist, oder?«
Polly und Isabella mussten lachen.
Papa aber fand das alles kein bisschen witzig. »Ich schwöre euch bei meinen Brillengläsern: Da unten waren Hände! Und sie haben nach mir gegriffen!«
»Ist ja schon gut …« Mama schnappte sich einen großen Hammer und klemmte sich drei lange Bretter unter den Arm. »Dann lauf ich jetzt mal schnell in den Wald und nagel den Brunnen zu. Ich will nämlich nicht, dass gleich wieder jemand in die Tiefe plumpst. Oder schlimmer noch: dass die Monster hochkommen und in dein Kräuterbeet machen.« Mit einem müden Zwinkern verschwand sie zur Werkstatttür hinaus. Ganz offensichtlich glaubte sie Papa kein Wort …
Cornelius Schlottermotz blickte ihr sprachlos hinterher. Dann blinzelte er Polly und Isabella an. »Aber ihr … ihr glaubt mir doch, oder? Da unten waren Hände, das hab ich genau gespürt!«
Polly runzelte die Stirn und seufzte. Doch bevor sie noch etwas Aufmunterndes sagen konnte, knirschte draußen der Kies in der Einfahrt.
Als Papa, Polly und Isabella in den Hof hinaustraten, sprangen Herr und Frau Ringelröschen gerade aus ihrem Wagen. Das Fahrzeug der beiden Überraschungsgäste war groß, keine Frage, riesengroß sogar! Aber wie ein Theaterwagen sah es eigentlich nicht aus … Polly fand, es hatte eher Ähnlichkeit mit einem Baustellencontainer auf Rädern. Auf dem Dach des gelben Blechkastens baumelte ein rostiger Kran und an den Seitenwänden hingen unzählige Antennen und Blitzableiter. Im hinteren Teil des Wagens gab es nicht ein einziges Fenster. Polly war sich sicher, dass es im Inneren potzblitzfinster sein musste. Wer lebte denn freiwillig in so einer Blechkiste?
Isabellas Augen aber leuchteten auf beim Anblick des ungewöhnlichen Fahrzeugs. »Ein Wandertheater! Ein echtes Wandertheater! Das ist so aufregend, findest du nicht, Polly?« Neugierig hüpfte sie um den Wagen herum.
Polly konnte ihre Begeisterung nicht teilen. Was war schon so besonders an einem alten, rostigen Container, selbst wenn er ein Theater durch die Gegend fuhr?
Papa räusperte sich. Offenbar war ihm sein Auftritt am Brunnenschacht nun ein kleines bisschen peinlich. Mit einem schüchternen Lächeln nahm er die beiden Ringelröschens auf dem Hof in Empfang.
»Meine Frau musste schnell noch mal weg, aber … sie ist gleich wieder da! In ein paar Minuten schon. Und dann können Sie gemeinsam das Bühnenbild begutachten.«
Fridolin Ringelröschen winkte freundlich ab. »Aber nicht doch, wir haben es gar nicht eilig.« Neugierig ließ er seinen Blick über den Hof schweifen. »Sie haben es wirklich schön hier. Sehr, sehr schön.«
Auch seine Frau spähte aufmerksam in der Gegend herum. »Das stimmt. Es sieht zauberhaft aus!«
Papa kratzte sich verlegen an der Hand. »Na ja, meine Frau ist handwerklich sehr geschickt und …«
»Aber es ist mehr als nur das Handwerk!«, fiel ihm Fridolin Ringelröschen ins Wort. »Man merkt doch sofort, dass Sie, Herr Schlottermotz, diesem Ort hier eine Seele geben!«
Eine Seele? Polly schüttelte ungläubig den Kopf. Was war denn das für ein potzblitzbescheuerter Blödsinn? Diese beiden Theaterleute versuchten ganz eindeutig, Papa Honig um den Bart zu schmieren – dabei hatte er gar keinen Bart! Ihre Schmeicheleien schienen trotzdem zu fruchten.
Cornelius Schlottermotz lief rosarot an wie ein Dornröschen, das gerade von einem Prinzen wach geküsst worden war. Ein schüchternes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Wenn Sie wollen … also … kann ich Sie gerne auf dem Hof herumführen. Bis meine Frau wieder zurück ist …«
»Das wäre ganz wunderbar!« Lavinia Ringelröschen klatschte in die Hände und ihr Mann nickte begeistert.
Als Papa mit den beiden Gästen über den Hof davondackelte, eilten Polly und Isabella in die Küche und tranken ein großes Glas Blutorangensaft. Isabella wusste, dass Polly den Saft nicht ausstehen konnte, aber heute verzog sie das Gesicht besonders unglücklich.
»Machst du dir Sorgen um Gulasch?«
»Natürlich.« Polly nickte. »Ich mach mir potzblitzgroße Sorgen. Aber da ist auch noch was anderes …«
»Was anderes?« Isabella sah sie verwundert an.
Polly wusste nicht genau, wie sie es sagen sollte. »Ich … ich hab das Gefühl, dass mit denen was faul ist. Mit diesen Theaterleuten …«
Isabella hielt einen Moment die Luft an und prustete dann los vor Lachen.
Polly kniff verunsichert die Augen zusammen. »Was ist denn daran so lustig?«
Isabella kicherte. »Ich glaube, du siehst auch schon Gespenster, wie dein Papa. Ist das etwa ansteckend?«
»Ich sehe keine Gespenster!« Verärgert stemmte Polly die Hände in die Hüften. »Und ich find das alles auch kein bisschen witzig!«
Isabella lächelte versöhnlich. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber glaub mir: Mit den Ringelröschens ist alles in Ordnung. Das sind nette Leute.« Aufmunternd hielt sie Polly die Saftflasche hin. »Trink lieber noch was, vielleicht fühlst du dich hinterher besser.«
Polly zögerte. Dann ergriff sie seufzend die Flasche und trank einen weiteren großen Schluck Blutorangensaft. Sie atmete tief durch und dachte nach. Hoffentlich stimmte, was Isabella sagte. Hoffentlich waren diese Leute wirklich okay …