Eine gute Seite hatte der Besuch der Theaterleute jedenfalls: Solange Papa die Gäste auf dem Hof herumführte, konnte er keinen Unsinn anstellen – und Polly und Isabella hatten Zeit, nach Gulasch zu suchen.
Frisch gestärkt zogen sich die Mädchen in den Stall zurück. Hier, an Suppes Seite, hatten sie das braune Pony zuletzt gesehen. Aber wohin war Gulasch nur verschwunden? Ein buntes Bonbonpapier war die einzige Spur, die sie hatten. Und auch wenn sich Frau Rottlaus sehr verdächtig benommen hatte, konnte Polly sich noch immer nicht so recht vorstellen, dass Justus ihr Pony gestohlen hatte. Irgendetwas an ihm kam ihr seltsam vertraut vor …
Auch Leni war schwer erschüttert, als sie erfuhr, dass Gulasch weg war. Sobald die Schulglocke geklingelt hatte, war sie auf den Hof der Familie Schlottermotz geeilt. Nun blickte sie sich ungläubig im Stall um.
»Vielleicht hat er sich unter einem Heuhaufen versteckt?«
Polly schüttelte geknickt den Kopf. »Wir haben schon überall gesucht, glaub mir. Er ist nicht da!«
Leni wühlte sich trotzdem hartnäckig durch die Heuberge. »Aber ein Pony kann doch nicht einfach so verschwinden!«
Isabella zögerte einen Moment und räusperte sich dann. »Ich bin mir sicher, dass dieser Justus etwas damit zu tun hat.« Sie wusste, dass Polly es nicht gut fand, diesen Verdacht so offen auszusprechen, aber sie musste es tun. Immerhin gehörte Gulasch nicht nur Polly allein, sondern auch Leni.
Leni war irritiert. »Justus? Wie kommst du darauf?«
Obwohl Polly ihr einen bösen Blick zuwarf, fuhr Isabella eifrig fort. »Polly hat ihn heute Nacht aus dem Stall schleichen sehen. Und heute Morgen habe ich das hier im Heu gefunden.« Entschlossen hielt sie Leni das Bonbonpapier unter die Nase. Aufmerksam betrachtete Leni das bunte Papier.
»Die lutscht Justus in der Schule auch immer …«
»Na und?« Verärgert schnappte sich Polly das Beweisstück und schloss die Finger darum. »Das heißt noch gar nichts!«
Leni sah ihre Freundin nachdenklich an und nickte dann.
»Polly hat recht. Justus fehlt zwar oft in der Schule und er spricht auch nicht viel. Aber dass er ein Pony klaut, kann ich mir trotzdem nicht vorstellen. Warum sollte er denn so was tun?«
Polly lächelte Leni dankbar an.
Isabella jedoch schien noch immer nicht von Justus’ Unschuld überzeugt. »Vielleicht meint er, die Ponys gehören eigentlich ihm. Immerhin ist dieser Horst Rottlaus sein Großonkel …«
Potzblitz! Daran hatte Polly noch gar nicht gedacht. Konnte es etwa sein, dass Justus seinen Onkel rächen wollte? Aber das wäre ja … Nein! Entschieden schüttelte Polly den Kopf. Horst Rottlaus war ein mieser Schurke. Justus aber hatte kein bisschen Ähnlichkeit mit ihm. Polly kannte den Nachbarsjungen zwar kaum, aber in seinen grünen Augen hatte sie etwas Freundliches entdeckt – und etwas Verletzliches. Doch bevor sie Justus weiter verteidigen konnte, wurden die Mädchen von einem Scharren aufgeschreckt.
Als Polly den Kopf zur Stalltür drehte, musste sie lachen. »Das ist die Henne, die Papa attackiert hat.«
Tatsächlich! Es gab keinen Zweifel: Das hier war das wilde rot gefiederte Huhn. Aber hatte es nicht vorhin im Wald die Flucht ergriffen? Warum war es bloß auf den Hof der Familie Schlottermotz zurückgekehrt?
Isabella kicherte. »Jetzt sieht das Tier ja ganz harmlos aus …«
Besonders aufgebracht war das Huhn tatsächlich nicht mehr, im Gegenteil. Es stand gurrend in der Stalltür und starrte die Mädchen derart eindringlich an, als wollte es einen Plausch mit ihnen halten. Dann begann es, konzentriert mit dem Schnabel im Kies herumzufahren.
Leni lachte auf. »Sieht fast so aus, als würde es ein Bild malen.«
Auch Polly musste grinsen. Vorsichtig stand sie auf und näherte sich dem Tier. Vielleicht konnte sie es ja behutsam packen und in den Stall von Familie Rottlaus zurückbringen? Dann könnte die Henne Papa wenigstens nicht mehr auf der Nase rumtanzen.
Doch als Polly das malende Huhn fast erreicht hatte, sprang plötzlich jemand von der Seite vor die Tür und stürzte sich mit einem Schrei auf die rote Henne. Das Hühnchen krächzte erschrocken auf und flatterte mit kräftigen Flügelschlägen ein paar Zentimeter in die Höhe. Polly staunte nicht schlecht, als sie erkannte, wer sich hier gerade mit vollem Körpereinsatz auf die Henne geworfen hatte. »Frau Ringelröschen?«
Obwohl sie die Theaterdame nicht sonderlich gut leiden konnte, half sie ihr wieder auf die Beine.
Lavinia Ringelröschen klopfte sich verärgert den Staub von den Knien. »Mist! Ich hätte sie fast gehabt!« Missmutig beobachtete sie, wie das feuerrote Huhn kreischend im Rapsfeld verschwand.
Auch Isabella und Leni eilten heran. Fürsorglich zupfte Isabella Frau Ringelröschen ein paar trockene Grashalme von der Bluse.
»Was machen Sie denn hier? Wollten Sie sich nicht von Pollys Papa über den Hof führen lassen?«
Potzblitz! Polly fand, dass das eine berechtigte Frage war. Wieso schlich diese Dame hier so heimlich herum? Und vor allem: Warum war sie so wild darauf, ein Hühnchen zu fangen …?
Skeptisch blickte Polly Frau Ringelröschen an und wartete auf eine Antwort.
Lavinia Ringelröschen fuhr sich unruhig durch die Haare. »Na ja, ich … ich musste mal für kleine dicke Damen! Jawohl! Könntet ihr mir freundlicherweise verraten, wo die Toilette ist?«
Leni kicherte. »Jedenfalls nicht hier im Stall! Auch wenn es bei Familie Schlottermotz manchmal drunter und drüber geht – die Toilette ist trotzdem im Haus!«
Isabella musste lachen. Frau Ringelröschen stimmte verlegen mit ein. »Ach, ich bin ja so ein Dummchen! Die Toilette ist natürlich im Haus, wo denn sonst?« Unsicher zupfte sie sich ihre Strumpfhose zurecht. »Vielleicht führt ihr mich eine kleine Runde im Haus herum? Damit ich am Ende nicht in einen Busch machen muss …?« Mit einem freundlichen Lächeln blinzelte sie die Mädchen an.
Polly verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Dafür haben wir leider keine Zeit.«
Isabella und Leni sahen Polly irritiert an. Wieso war sie nur so unfreundlich zu der Dame?
Seufzend hielt Isabella Frau Ringelröschen die Hand hin. »Natürlich zeigen wir Ihnen die Toilette.«
Leni nickte bekräftigend. »Und wenn Sie wollen, auch den Rest des Hauses.«
Sprachlos blickte Polly ihre Freundinnen an. »Aber … wir wollten doch Gulasch suchen!«
»Gulasch?« Lavinia Ringelröschen hob interessiert die Augenbrauen.
Isabella schluckte. »Gulasch ist Pollys Pony. Es ist heute Nacht aus dem Stall verschwunden …«
Polly traute ihren Ohren kaum! Warum erzählte Isabella dieser fremden Frau davon? Sie kannte sie doch gar nicht!
Frau Ringelröschen schlug theatralisch die Hände überm Kopf zusammen. »Ein Pony verschwindet! Das klingt nach einem echten Abenteuer. Vielleicht kann ich euch ja bei der Suche helfen, nachdem ihr mir das Haus gezeigt habt?«
Leni strahlte. »Das wäre toll! Was meinst du, Polly?«
Was Polly meinte? War das ihr Ernst? Potzblitz! Polly meinte, dass sie dieser Theaterdame kein bisschen über den Weg trauen sollten, jawohl! Und sie ließ sich auch von einem freundlichen Wimpernklimpern nicht blenden. Entschlossen presste sie die Lippen aufeinander.
»Also ich muss jetzt Lotti aus dem Kindergarten abholen!«
Leni blickte verwundert auf ihre Armbanduhr. »Dafür ist es doch viel zu früh.«
Trotzig verzog Polly den Mund. »Ich vermisse meine Schwester eben! Aber geht ruhig, wenn ihr unbedingt wollt. Ich hab nichts dagegen!«
Obwohl Isabella und Leni merkten, dass Polly sehr wohl etwas dagegen hatte, nickten sie einander zu und verschwanden mit der grinsenden Lavinia auf den Hof hinaus.
Polly schnaubte verärgert. Wie konnten ihre beiden Freundinnen nur so kurzsichtig sein? Wie konnten sie nicht spüren, dass mit dieser Dame etwas faul war? Stattdessen verdächtigte Isabella Justus! Pah! Polly öffnete ihre Hand mit dem Bonbonpapier. Der Nachbarsjunge war vielleicht etwas geheimnisvoll, aber ein Ponydieb war er nicht! Oder etwa doch …?
Seufzend ließ Polly das Papier in den Mülleimer fallen und trat hinaus ins Sonnenlicht. Doch als ihr Blick auf den Kies zu ihren Füßen fiel, gefror ihr das Blut in den Adern. Ungläubig schnappte sie nach Luft. War das etwa …? Nein, das konnte nicht sein! Polly beugte sich tief nach unten, um es besser erkennen zu können – aber ja! Tatsächlich! Da, wo eben noch die rote Henne ihren Schnabel durch den Kies gezogen hatte, waren nun fünf große, krumme Buchstaben zu lesen:
Potzblitz! Sprachlos rieb Polly sich die Augen. Hatte die Henne etwa …? Unsinn! Hühner konnten weder lesen noch schreiben. Mit Sicherheit war das alles nur ein großer, dummer Zufall. Entschlossen fuhr Polly mit den Füßen über den Kies und verwischte den vermeintlichen Hilferuf. Papa mochte vielleicht an Gespenster glauben, die in alten Brunnen nach ihm griffen, aber Polly glaubte ganz sicher nicht an solche Dinge. Warum sollte ein Hühnchen schon um Hilfe bitten …?