Als Papa alle zum Abendbrot rief, war Pollys Laune noch immer nicht besser. Sie hatte Lotti auf Suppe aus dem Kindergarten geholt und mit ihr gemeinsam nach weiteren Ponyspuren gesucht. Vergebens!

Auch Leni und Isabella hatten bei ihrer Hausführung mit Frau Ringelröschen nichts gefunden. Nicht mal den weltallerkleinsten Hinweis. Mittlerweile hatte sich Leni schweren Herzens verabschiedet und war nach Hause geradelt.

Herr und Frau Ringelröschen hingegen dachten gar nicht daran, endlich zu verschwinden. Im Gegenteil!

Als Mama vom Brunnen zurückgekehrt war und den beiden Theaterleuten einräumen musste, dass das Bühnenbild noch nicht fertig war, hatten die beiden kleinen Herrschaften furchtbar freundlich gelächelt und Mamas Arm getätschelt.

»Machen Sie sich bitte keinen Stress, Frau Schlottermotz! Wir haben es überhaupt nicht eilig. Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt!«

Mama hatte ihr Glück kaum fassen können. Plötzlich war eine elefantengroße Last von ihren Schultern gefallen. Merkwürdig fand sie nur, dass sie mit den Namen »Fridolin« und »Lavinia« so gar nichts anfangen konnte. Hatten die Ringelröschens in ihren E-Mails nicht ganz andere Vornamen genannt? Aber egal! Das Handy, in dem sie alle Nachrichten gespeichert hatte, war noch immer verschwunden – und jetzt zählte ohnehin nur eins: Die Auftraggeber waren nicht verärgert, nein, sie waren nicht mal enttäuscht! Antonia Schlottermotz war derart erleichtert, dass sie Herrn und Frau Ringelröschen einlud, so lange auf dem Hof zu bleiben, bis der Leuchtturm fertig war. Potzblitz! Polly hatte ihr Gesicht in den Händen vergraben. Zwar bestanden die Ringelröschens darauf, in ihrem eigenen Wagen zu schlafen, aber Polly würde trotzdem ein paar Tage mit ihnen auskommen müssen, und das gefiel ihr gar nicht. Nicht mal ein klitzekleines bisschen …

Zum Abendessen hatten sich die Gäste wie selbstverständlich an den Tisch der Familie Schlottermotz gesetzt und fielen nun gierig über Papas Essen her.

»So ein Theaterleben macht ganz schön hungrig«, witzelte Herr Ringelröschen, während er sich das fünfte Käsebrot in den Mund schob.

Isabellas Augen leuchteten neugierig auf. »Wie heißt denn eigentlich Ihr Theaterstück?« Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie vom Wanderleben der Bühnenkünstler fasziniert war.

Herr Ringelröschen verschluckte sich an einem Käsehappen. Hustend fuhr er sich in den Hemdkragen und blickte seine Frau an. »Unser Theaterstück? Ja also … das … das heißt …«

»Fernweh auf hoher See«, eilte ihm Mama zu Hilfe und klopfte dem erschrockenen Gast auf den Rücken. »Das haben Sie mir zumindest bei der Bestellung des Leuchtturmes gesagt.«

»Richtig!« Fridolin Ringelröschen nickte erleichtert und wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. »Fernweh auf hoher See, so heißt das Stück. Es handelt nämlich von Fernweh.«

»Auf hoher See!«, pflichtete ihm seine Frau bei.

Polly kniff misstrauisch die Augen zusammen. Warum waren die beiden Theaterleute denn plötzlich so nervös?

»Und wo wird es aufgeführt?«

Diesmal war es Frau Ringelröschen, der ein Bissen im Halse stecken blieb. »Das Stück wird aufgeführt … in … in …«

»Flurpsenbusch!«, schoss es aus dem Mund ihres Mannes. »Das Stück wird aufgeführt im schönen Flurpsenbusch, jawohl!«

»Flurpsenbusch …?« Papa kratzte sich verwundert am juckenden Ohrläppchen. »Davon hab ich noch nie gehört …« Auch Mama schien mit diesem Ort nichts anfangen zu können.

»Na ja«, räusperte sich Herr Ringelröschen. »So ist das eben manchmal. Es hat ja auch kaum jemand davon gehört, dass Kalifornien an der Ostsee liegt.« Er stieß ein heiseres Lachen aus und sofort stimmten alle mit ein. Alle außer Polly. Die Ringelröschens hatten zwar recht, ja: Die meisten Leute waren verwundert, wenn sie das erste Mal vom schönen Örtchen Kalifornien an der Ostseeküste hörten. Und dennoch ließ Polly sich nicht so einfach ablenken. Mit diesen beiden Theaterleuten war irgendwas faul! Warum kannten sie sich nicht besser aus mit ihrer Arbeit?

Als Frau Ringelröschen Pollys skeptischen Blick bemerkte, verstummte ihr Lachen. Schnell wandte sie sich an Pollys Vater. »Wir haben mitbekommen, dass Sie ein … nun ja … wie soll ich es sagen …?«

»Dass Sie ein Problem haben!«, fuhr ihr Herr Ringelröschen ins Wort und blickte Papa eindringlich an. Cornelius Schlottermotz lächelte verlegen und kratzte sich am Handrücken.

Mama lachte laut auf. »Mein Mann hat viele Probleme! Die Windpocken sind nur eins davon …«

Papa funkelte sie böse an und kratzte sich gleich noch viel hektischer.

Frau Ringelröschen beruhigte ihn. »Aber wir meinen doch nicht die Pocken, Herr Schlottermotz. Gegen die sind wir geimpft!« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wir reden von dem Huhn!«

Dem Huhn? Polly traute ihren Ohren kaum. So, wie Frau Ringelröschen das Wort aussprach, klang es, als meinte sie ein Monster mit drei Köpfen. Warum machten diese Leute nur so viel Theater um eine Henne?

Papa stieß ein erleichtertes Seufzen aus. »Es ist ja nicht nur ein Huhn, nein! Es ist eine ganze Geflügelschar! Und das Schlimmste ist: Die Tiere halten sich einfach nicht an die Grundstücksgrenzen!«

Während Mama aufstöhnte, nickten Herr und Frau Ringelröschen äußerst verständnisvoll. »Das ist ja schrecklich!«, bestätigte die dicke Lavinia und sah Papa tief in die Augen. »Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, etwas dagegen zu tun?«

Papa runzelte irritiert die Stirn. »Na ja, ich hab natürlich versucht, mit den Tieren zu reden, aber …«

»Nein, nein, nein!« Fridolin Ringelröschen schüttelte energisch den Kopf. »Gegen diese Biester muss man echte Maßnahmen ergreifen!«

Frau Ringelröschen nickte und beugte sich über den Tisch. »Mein Mann ist ein hervorragender Jäger!«

»Ein Jäger?« Jetzt konnte Polly sich nicht mehr zurückhalten. Zornig sprang sie von ihrem Stuhl auf. »Hier wird nichts und niemand gejagt! Und erst recht keine harmlose Henne!«

Alle Augenpaare am Tisch starrten Polly überrascht an.

Papa schob sich die Brille auf der Nase zurecht. »Als harmlos würde ich das Tier nicht gerade bezeichnen. Immerhin hat mich dieses verrückte Huhn bösartig attackiert!«

Auch Isabella versuchte, Polly zu beschwichtigen. »Es sagt ja niemand, dass dem Huhn was passieren muss. Man kann es doch sicher auch einfach nur einfangen, oder?«

Herr Ringelröschen nickte. »Natürlich! Wir bauen eine Falle, dann wird dem Hühnchen nicht eine Feder gerupft.«

»Eine Hühnerfalle …« Papa wackelte nachdenklich mit der Nasenspitze. »Das ist keine schlechte Idee. Und Sie würden mir dabei helfen?«

Herr und Frau Ringelröschen grinsten. »Es wäre uns ein Vergnügen, Herr Schlottermotz. Wir haben ja ohnehin nichts zu tun, solange wir auf das Bühnenbild Ihrer Frau warten.«

Papa dachte einen Moment lang nach. Vor Aufregung vergaß er glatt, sich zu kratzen. Dann begannen seine Augen zu leuchten und er hob heiter sein Glas. »Darauf müssen wir anstoßen!«

Auch Isabella und die beiden Gäste, ja, sogar Mama und Lotti hoben ihre Gläser. »Auf die Hühnerfalle!«

Erwartungsvoll blickten alle zu Polly. Wollte sie etwa nicht mit anstoßen?

Vorsichtig beugte sich Isabella zu ihr rüber. »Komm schon, Polly. Mach deinem Vater doch die Freude! Wenn er diese Falle baut, ist er wenigstens abgelenkt, und wir haben Zeit für Gulasch.«

Potzblitz! Isabella hatte recht, ja. Zähneknirschend hob Polly ihr Glas.

»Auf die blöde Hühnerfalle …«

Während alle anderen lachend ihre Gläser leerten, biss Polly sich auf die Lippe. Sie würde schon noch herausfinden, was hier nicht stimmte …