Als die Sonne endlich hinter dem Rapsfeld untergegangen war und die Nacht den Hof in eine tintenschwarze Finsternis hüllte, klopfte Polly an Isabellas Zimmertür. Isabella hatte bereits mit Pollys Besuch gerechnet. In Windeseile schlüpfte sie in ihre Gummistiefel und ließ sich von Polly mit einer Taschenlampe ausrüsten. Gemeinsam schlichen die Freundinnen hinaus in den Hof. Isabellas Blick glitt sehnsuchtsvoll zum Wagen der Ringelröschens, der in der Einfahrt stand.

»Wenn ich groß bin, möchte ich auch in einem Wandertheater arbeiten. Stell dir das doch mal vor, Polly. Diese Leute reisen um die ganze weite Welt!«

Polly verdrehte die Augen und zog ihre Freundin hastig weiter.

»Wenn du mich fragst, spinnen diese Herrschaften eine ganze Menge Seemannsgarn.«

»Seemannswas …?« Isabella verstand nicht, was Polly meinte.

»Märchen! Lügengeschichten! Die Erzählungen der beiden stinken jedenfalls gewaltig zum Himmel. Sie wussten ja nicht mal, wie ihr Theaterstück heißt!«

Mit einem Ruck befreite sich Isabella aus Pollys Griff. Vorwurfsvoll blickte sie ihre Freundin an. »Du bist ganz schön ungerecht. Und ziemlich unhöflich! Lavinia und Fridolin sind furchtbar nett zu allen! Sie helfen deinem Papa bei dieser Hühnersache. Und deiner Mama machen sie auch keine Vorwürfe wegen der Bühne!«

»Das ist es ja! Hast du mal darüber nachgedacht, warum die so nett sind?« Entschlossen marschierte Polly weiter, immerhin hatte sie ein klares Ziel vor Augen: den Traktorschuppen von Horst Rottlaus. »Mich würde es jedenfalls nicht wundern, wenn diese Ringelröschens etwas mit dem Verschwinden von Gulasch zu tun hätten …«

Isabella schnappte fassungslos nach Luft und stampfte hinter Polly her. »Du spinnst, Polly! Die beiden waren ja noch nicht mal da, als Gulasch verschwunden ist!«

Polly grummelte missmutig. »Aber in ihrer komischen Blechkiste hätten sie genug Platz, um ein Pony zu verstecken!«

Im nächsten Augenblick erreichten die Mädchen den alten Schuppen und Polly griff nach der Klinke. Mist! Die Tür war noch immer fest verschlossen.

Isabella stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich weiß schon, wo der Hase langläuft.«

Irritiert blickte Polly ihre Freundin an. »Was denn für ein Hase? Ich seh hier keinen Hasen!«

Isabella grinste frech. »Du willst den Verdacht auf die Ringelröschens lenken, weil du nicht wahrhaben willst, dass dieser Justus dein Pony gestohlen hat! Du bist nämlich doch verknallt in ihn!«

Potzblitz! Das war ja wohl … eine Frechheit! Wütend kniff Polly die Augen zusammen.

»Ich bin nicht verknallt, verstanden? Nie und nimmer nicht! Weil ich diesen Justus nämlich potzblitzblöd finde!« Zornig holte Polly aus und trat gegen die Schuppentür. Mit einem lauten Knacken brach die alte Tür aus dem Rahmen und landete ächzend auf dem staubigen Boden. Polly schluckte. Hoffentlich hatte Familie Rottlaus im Haus drüben nichts gehört …

Im nächsten Moment schlug ein kleiner Siebenschläferblitz in einen Holunderbusch neben dem Schuppen ein. Polly rollte schuldbewusst mit den Augen und sah hinauf in den Himmel. »Schon gut, schon gut. Ich hab das ja nicht extra gemacht! Ich war nur ein bisschen wütend …«

Isabella musste sich ein Lachen verkneifen.

Unsicher richtete Polly ihre Taschenlampe auf sie. »Hast du das schon wieder absichtlich gemacht?«

Kichernd schüttelte Isabella den Kopf. »Nein. Aber wenn wir jetzt schon mal Zugang zum Schuppen haben, sollten wir ihn auch nutzen, oder nicht?« Entschlossen schnappte sie sich Pollys Hand und zog sie in die alte Bretterbude hinein. Doch kaum hatten die Mädchen die Türschwelle übertreten, wartete bereits die nächste Überraschung auf sie: Der Schuppen war leer. Nicht fast leer, oder ein bisschen leer, nein: vollkommen leer!

Irritiert runzelte Polly die Stirn. »Warum schließt man einen Schuppen ab, in dem sich gar nichts befindet …?«

Isabella kniff angestrengt die Augen zusammen und ließ das Licht ihrer Taschenlampe durch die Dunkelheit gleiten. Dann hielt sie plötzlich inne. »Ganz leer ist der Schuppen nicht …«

Tatsächlich! Als Pollys Blick dem Lichtstrahl folgte, sah sie es auch. Weit hinten, in der dunkelsten Ecke des Schuppens, stand ein kleiner Kasten. Vorsichtig schlichen Isabella und Polly näher heran.

Ungläubig betrachtete Isabella das Fundstück. »Ist das …?«

Polly nickte. »Ja, das ist ein Schuhkarton. Aber Gulasch passt da ganz sicher nicht rein …« Merkwürdig. Warum sperrte man eine alte Pappkiste weg, als wäre sie ein kostbarer Schatz? Polly war derart in Gedanken versunken, dass sie nicht merkte, wie sie sich an der Nase kratzte.

Isabella riss erschrocken die Augen auf. »Nein! Polly! NICHT!«

Doch es war schon zu spät! Mit einem ohrenbetäubenden Lärm schrillte Pollys Alarmzahn los! Potzblitz! Polly hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie sich nicht mehr gedankenlos kratzen konnte. Blitzschnell schob sie ihren Finger ein weiteres Mal über den Nasenflügel. Der Alarm verstummte wieder, aber das kurze, schrille Klingeln hatte gereicht, um die Hühner draußen im Käfig aufzuscheuchen. Polly und Isabella hörten, wie sie mit ihren Flügeln gegen den Maschendraht schlugen und wild kreischten. Die Mädchen mussten so schnell wie möglich weg von hier! Selbst wenn Frau Rottlaus und ihre Kinder Pollys Alarm nicht gehört haben sollten, so mussten sie jetzt doch zumindest durch das aufgeregte Gekrächze der Tiere aufwachen.

Polly spitzte besorgt die Ohren. Waren da nicht schon Schritte, die sich von draußen näherten? Potzblitz! Hastig griff Polly nach Isabellas Hand und huschte mit ihr zur Tür hinaus. In Windeseile tauchten die Mädchen in einem Busch ab. Isabella stolperte sofort weiter nach Hause. Polly aber drehte sich kurz um – und da sah sie ihn: Justus! Mit hängenden Schultern stand er vor der aufgebrochenen Schuppentür und spähte unsicher in die Dunkelheit. Polly verzog das Gesicht. Mist. So ein potzblitzblöder Mist! Warum hatte sie nur den Alarmzahn ausgelöst? Jetzt würde sie sicher nicht mehr die Gelegenheit kriegen, einen Blick in den alten Schuhkarton zu werfen. Zu gerne hätte sie gewusst, was Familie Rottlaus darin versteckte. Es musste auf jeden Fall etwas sehr, sehr Wertvolles sein …

Als Polly und Isabella endlich ins Bett fielen, war Polly viel zu aufgeregt, um zu schlafen. Isabella hatte darauf bestanden, wieder bei Polly zu übernachten, und war innerhalb weniger Sekunden weggenickt. Polly aber tat kein Auge zu. Viel zu viele Gedanken kreisten durch ihren Kopf. Was war das nur für ein potzblitzverrückter Tag? Erst war der Alarmzahn aufgetaucht, dann war Gulasch verschwunden – und zu allem Überfluss hatten sich auch noch diese Ringelröschens auf dem Hof eingenistet. Nachdenklich ließ Polly ihren Blick aus dem Fenster gleiten.

Vorne im Fahrerhäuschen des Theaterwagens brannte noch immer ein schwaches Licht. Zu gerne hätte Polly Mäuschen gespielt und herausgefunden, was Lavinia und Fridolin Ringelröschen mitten in der Nacht noch ausheckten. Daran, dass die beiden Überraschungsgäste etwas im Schilde führten, bestand kein Zweifel. Warum redeten sie so wenig vom Theater? Und weshalb waren sie so wild darauf, Hühner zu fangen? Ja, Polly musste, musste, musste herauskriegen, was die beiden vorhatten. Selbst wenn sie die Einzige war, die einen Verdacht gegen sie hegte. Zuerst musste sie allerdings Gulasch finden. Ihr geliebtes Pony war jetzt schon einen ganzen Tag verschwunden. Polly musste schlucken. Was, wenn ihm etwas passiert war? Was, wenn Gulasch in ernsthafter Gefahr steckte? Ein dicker Kloß bildete sich in Pollys Hals. Sie merkte, wie ihr erste, dicke Tränen in die Augen stiegen. Potzblitz! Das war alles so gemein! Musste es denn immer gleich ein großer Sack voller Probleme sein, der auf Pollys Schultern lastete? Reichte es nicht, dass Papa Windpocken hatte und sie ihre Reisepläne hatten ändern müssen? Die Reisepläne! Oje, das hatte Polly vollkommen vergessen. In der ganzen Aufregung hatte sie gar nicht mehr nachgesehen, ob Tante Winnie sich gemeldet hatte!

Unsicher schwang Polly die Beine aus dem Bett und schlich ins Schlafzimmer ihrer Eltern. Mama hatte sich diese Nacht tatsächlich ein bisschen Schlaf gegönnt und schlummerte wie ein Baby. Lotti kuschelte sich verträumt an ihren Rücken und auch Papa lächelte im Schlaf. Die drei sahen wirklich friedlich aus. Ganz offensichtlich war Polly die Einzige hier, die etwas bedrückte …

Vorsichtig griff sie sich Papas Handy vom Nachttisch. Merkwürdig. Noch immer keine Nachricht von Winifred, nicht mal das weltallerkleinste Lebenszeichen. Warum hatte sie nicht angerufen? Und hätte sie nicht schon längst auf dem Hof eintreffen müssen?

Besorgt biss Polly sich auf die Lippe.

Wo waren Winnie und Adlerauge nur? Und was war mit ihnen geschehen …?