Als die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster fielen, wurden Polly und Isabella von einem Klingeln geweckt. Diesmal war es aber nicht der Alarmzahn, sondern die Türglocke.

Verschlafen purzelten die Freundinnen aus den Federn und schlurften die Treppe hinab. Papa eilte bereits durch den Flur und riss die Haustür auf.

Auf der Fußmatte stand: Frau Rottlaus. Und sie sah ziemlich wütend aus!

Verwundert rieb Papa sich die Augen. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Und ob Sie das können!« Frau Rottlaus stemmte schnaubend die Hände in die Hüften, da drängte sich plötzlich ein Mädchen an ihr vorbei. Das musste die kleine Emmi sein! Sie hatte ihre langen dunklen Haare zu Zöpfen geflochten und deutete glucksend auf Papas rote Pocken. »Du siehst ja aus wie ein Tuschkasten!«

Im nächsten Moment griff eine Hand nach der Kleinen und zog sie wieder zurück.

Justus! Polly hatte ihn gar nicht bemerkt, jetzt aber sah sie, wie er verlegen auf seine Turnschuhe hinabblickte.

Papa blinzelte die kichernde Emmi sprachlos an, da wedelte Frau Rottlaus mit der Hand vor seiner Nase herum. »Wenn Sie noch ein Mal in meinen Schuppen einbrechen, dann rufe ich die Polizei!«

Erschrocken blickte Polly zu Isabella.

Papa schnappte nach Luft. »Waaaaas?!«

»Man sagt wie bitte, wie bitte, wie bitte! Hat dir das noch keiner beigebracht?« Die kleine Emmi tanzte fröhlich über die Fußmatte und grinste frech.

Cornelius Schlottermotz aber lachte kein bisschen. Von einer Sekunde auf die nächste glühten nicht nur seine Windpocken, nein: Sein ganzes Gesicht leuchtete, als hätte er eine Herdplatte verschluckt! Aufgebracht kratzte er sich am Arm. »Ich darf doch sehr bitten! Diese Vorwürfe sind unverschämt!«

»Jetzt tun Sie bloß nicht so unschuldig!« Justus’ Mutter verschränkte die Arme vor der Brust. »Mein Sohn hat genau gesehen, wie die Einbrecher heute Nacht auf Ihren Hof zurückgeschlichen sind! Den Schaden für die kaputte Tür stelle ich Ihnen natürlich in Rechnung!«

Papa blickte Frau Rottlaus sprachlos an und presste dann die Lippen aufeinander. »Was fällt Ihnen ein, uns zu beschuldigen? Kümmern Sie sich lieber darum, dass Ihre tollwütigen Hühner nicht länger auf unseren Hof einfallen. Gestern wurde ich von Ihrer feuerroten Teufelshenne attackiert!«

Justus’ Mutter blies sich eine goldbraune Locke aus der Stirn. »Erstens sind unsere Hühner längst eingesperrt, Herr Schlottermotz! Und zweitens ist keins unserer Tiere feuerrot! Vielleicht sind Ihre Brillengläser ja auch von diesem Ausschlag betroffen?«

»Rot, rot, rot«, sang die kleine Emmi und hüpfte an Justus’ Seite auf und ab. »Der Brillenmann sieht rot!«

Papa vergaß vor lauter Empörung fast zu atmen. »Das … das … das ist ja … ungeheuerlich! Ich bezahle diese Tür auf gar keinen Fall! Ich bin nämlich noch nie irgendwo eingebrochen!!!«

Emmis und Justus’ Mutter zuckte mit den Schultern und deutete auf Polly und Isabella, die noch immer am Treppenabsatz standen. »Dann waren es vielleicht Ihre Kinder? Die haben sich gestern schon bei uns rumgetrieben!«

»Meine Kinder? Nein, unmöglich! Meine Kinder tun so etwas nicht!« Papa schüttelte entschlossen den Kopf und zog Polly an die Tür heran. »Komm schon. Sag dieser vorlauten Dame, dass du nichts damit zu tun hast!«

Erwartungsvoll richteten sich alle Augen auf Polly. Isabella verzog das Gesicht und konnte gerade noch sehen, wie Justus sich draußen vor der Tür ein Bonbon in den Mund schob.

Polly schluckte. »Ick knollte bur …« Potzblitz! Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund.

Frau Rottlaus blinzelte Papa irritiert an. »Welche Sprache spricht das Kind …?«

Isabella eilte in Richtung Küche. »Der Saft! Polly braucht ihren Saft!«

Justus’ Mutter stöhnte. »Ich hab keine Zeit für so was! Die Kinder müssen in die Schule. Aber wenn Sie sich noch ein Mal meinem Grundstück nähern, dann … dann ist Schluss mit lustig!« Verärgert machte sie auf dem Absatz kehrt und schnappte sich Emmis Hand. Justus aber stand wie angewurzelt vor der Fußmatte und blickte gebannt auf Polly, die in großen Schlucken den Blutorangensaft trank, den Isabella ihr gebracht hatte. Erst als seine Mutter wütend nach ihm rief, rührte er sich und folgte den beiden über den Hof.

Nachdem der Zungenschwindel vertrieben war, verlangte Papa nach einer Erklärung. Als er erfuhr, dass sich die beiden Mädchen tatsächlich im Schuppen der Familie Rottlaus herumgetrieben hatten, ging er vor Empörung fast an die Decke! Er rang gerade nach Luft, um zu einer Standpauke anzusetzen, als plötzlich Fridolin Ringelröschen den Kopf zur Tür hineinsteckte.

»Ist hier jemand bereit für eine kleine Runde Hühnerjagd?« Draußen im Hof winkte Lavinia Ringelröschen mit einer Rolle Maschendrahtzaun.

Papa atmete tief durch und blinzelte Polly und Isabella an. »Diese Sache ist noch nicht vom Tisch, verstanden? Sie wird nur vertagt! Jawohl, vertagt!« Dann drehte er sich verärgert um und knallte mit dem Schienbein gegen den Garderobenschrank.

Herr Ringelröschen klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. »Herr Schlottermotz! Sie haben ja eine ganze Menge Energie heute Morgen. Das können wir gut gebrauchen für die wilden Hühner da draußen!«

Obwohl sein Bein schmerzte, lächelte Papa tapfer und folgte dem kleinen dicken Theatermann hinaus in den Hof.

Geknickt ließen Polly und Isabella die Köpfe hängen …

Auf dem morgendlichen Rückweg vom Kindergarten drehten die Mädchen eine Extrarunde auf Suppes Rücken.

Isabella saß hinter Polly im Sattel und wunderte sich. »Frau Rottlaus war ganz schön wütend. Dabei war die Tür, die du rausgebrochen hast, schon ziemlich alt und morsch. Deine Mama kann ihr doch im Handumdrehen eine neue zimmern …«

Polly nickte betroffen. Isabella beugte sich verschwörerisch zu ihr vor. »Und hast du gesehen, wie Justus geguckt hat, als du den Saft getrunken hast?«

Finster kniff Polly die Augen zusammen. »Fang jetzt bloß nicht damit an, dass er in mich verknallt ist!«

»Nein.« Isabella kicherte. »Aber auffällig war es trotzdem. Und er hat auch wieder seine komischen Bonbons gelutscht!«

Polly seufzte. »Wir haben wirklich andere Probleme als Bonbons, Isabella. Gulasch ist weg! Und Tante Winnie hat sich auch noch nicht gemeldet …«

Letzteres schien Isabella nicht zu beunruhigen. »Mach dir keine Sorgen um Winifred. Sie tummelt sich sicher schon irgendwo in der Gegend herum und trällert ihr schreckliches Wanderlied. Außerdem hat sie doch Adlerauge dabei. Vielleicht gönnen sich die beiden ja eine kleine Auszeit am Meer?«

Nachdenklich vergrub Polly ihre Hände in Suppes Mähne. Konnte es sein, dass Isabella recht hatte? Musste sie sich um Winnie wirklich keine Sorgen machen …?

Als die Mädchen zurück auf den Hof ritten, hörten sie plötzlich ein Geräusch. Erschrocken klammerte sich Isabella von hinten an Polly. »Was ist das?«

Polly runzelte die Stirn. Da war das Geräusch schon wieder! Und es klang wie …! Potzblitz, ja!

»Da kläfft ein Hund!« Hastig sprang Polly von Suppes Rücken. Tatsächlich! Das laute Gebell hallte ein weiteres Mal über den Hof. Das war ein Hund, eindeutig.

Unsicher rutschte auch Isabella von Suppe hinab.

»Aber ihr habt doch gar keinen Hund. Und bei Familie Rottlaus hab ich auch keinen gesehen …«

Das stimmte. Selbst Polly konnte sich nicht erklären, wo jetzt auf einmal ein Hund herkommen sollte. Noch mehr beunruhigte sie allerdings, dass das Kläffen potzblitzbedrohlich klang – und immer näher kam! Verunsichert griff Polly nach Isabellas Hand.

Doch gerade als sie in einem Gebüsch in Deckung gehen wollten, hörte Polly eine Stimme. Und die kam ihr sehr bekannt vor …