»Rufus, aus! Jetzt bell doch nicht so laut!« Leni! Das war ganz eindeutig Lenis Stimme. Und tatsächlich! Als Polly ihren Kopf um die Hausecke steckte, entdeckte sie ihre weltallerbeste Freundin. Doch Leni war nicht allein, nein: Um sie herum tobte an einer Leine ein gigantisches Zotteltier mit schlackernden Schlappohren. »Platz, Rufus! Ich habe Platz gesagt!« Leni zog kräftig am Halsband und der haarige Riesenhund ließ sich auf sein Hinterteil sinken. Dann entdeckte Leni ihre beiden Freundinnen. »Da seid ihr ja! Ich hab schon den ganzen Hof nach euch abgesucht.«
Ungläubig näherten sich Isabella und Polly dem Zottelriesen.
Leni grinste. »Ihr könnt ihn ruhig streicheln. Rufus sieht zwar aus wie ein fleischfressendes Wollknäuel, aber er ist so zahm wie eine Butterblume.«
Vorsichtig fuhr Polly dem Hund durchs Fell und blinzelte ihre Freundin an. »Musst du nicht in der Schule sein?«
Leni fasste sich leidend an die Stirn. »Ich hab mich heute Morgen krank gefühlt, oh ja, ganz fürchterlich krank!«
Polly musste lachen, aber Isabella brauchte einen Moment, bis sie verstand, was hier vor sich ging. »Du … du schwänzt den Unterricht?«
»Was heißt denn hier schwänzen?« Entrüstet kraulte Leni Rufus hinter den Ohren. »Ich kann mich sowieso nicht konzentrieren, wenn ich weiß, dass Gulasch verschwunden ist. Also hab ich mir gedacht, ich leihe mir Rufus von meiner Nachbarin aus und helfe euch bei der Suche.« Kichernd zwinkerte sie Polly zu. »Rufus war früher nämlich mal ein echter Detektivhund!«
Polly starrte das große Wuscheltier sprachlos an. »Du meinst, er könnte Gulasch erschnüffeln?«
Leni nickte. »Wenn er es schafft, seine Fährte aufzunehmen …«
Potzblitz! Was für eine großartige Idee! Am liebsten wäre Polly ihrer Freundin stürmisch um den Hals gefallen, doch Rufus zerrte bereits an der Leine.
Isabella tätschelte ihm das Köpfchen. »Wir könnten ihn an Gulaschs Bürste schnuppern lassen, dann findet er vielleicht eine Spur.«
Das war genial! Gemeinsam mit dem riesigen Spürhund eilten die Mädchen in den Stall. Und siehe da! Kaum hatte Rufus an der Bürste geschnüffelt, vergrub er seine Nasenspitze im Heu und zog die Freundinnen hinaus auf den Hof. Unbeirrt folgte seine Schnauze einer unsichtbaren Spur.
Polly seufzte unglücklich, als sie erkannte, wohin der Hund sie führte.
Auch Isabella hatte es verstanden. »Er will zum Schuppen von Frau Rottlaus!«
Polly griff sich die Leine und versuchte, den Hund zu stoppen. »Wir dürfen uns dem Hof nicht mehr nähern, schon vergessen?« Rufus aber dachte gar nicht daran, sich so kurz vor dem Ziel noch aufhalten zu lassen. Mit einem kräftigen Ruck riss er Polly von den Beinen und stürmte in den verbotenen Schuppen hinein. Die Mädchen halfen Polly auf und rannten hinter dem Hund her.
Isabella schnappte nach Luft. »Frau Rottlaus ist vorhin weggefahren. Das ist unsere Chance, einen Blick in den Schuhkarton zu werfen.«
»Schuhkarton?« Leni hatte keinen blassen Schimmer, wovon ihre Freundinnen sprachen, aber Polly erklärte ihr kurz und knapp, was in der Nacht geschehen war.
Verwundert runzelte Leni die Stirn. »Aber Gulasch kann doch unmöglich in einer kleinen Schuhschachtel stecken …«
Trotzdem hielt Rufus genau dort inne, wo der Karton stand – oder besser: gestanden hatte. Denn als die Mädchen jetzt die dunkle Ecke erreichten, war von einem Schuhkarton keine Spur mehr.
Isabella grinste siegessicher. »Na also! Das ist der Beweis: Gulasch muss hier gewesen sein! Ich hab doch gleich gesagt, dass Justus seine Finger im Spiel hat.«
Polly biss sich auf die Lippe. Hatte sie sich wirklich in Justus geirrt? War er nichts als ein potzblitzgemeiner Ponydieb? Und wenn ja: Wo hatte er Gulasch dann hingebracht? Langsam begann es in Pollys Magengrube zu grummeln …
Rufus aber ließ den Mädchen keine Zeit zum Ruhen. Er hatte schon wieder eine neue Fährte gefunden und folgte ihr hinaus auf den Hof. Die Freundinnen eilten unsicher hinterher.
Aber was war das? Plötzlich blieb Rufus stehen und begann zu bellen. Polly rieb sich ungläubig die Augen, als sie erkannte, was der Spürhund erschnüffelt hatte.
»Der Briefkasten?«
Tatsächlich! Rufus war vor dem rostigen Postkasten stehen geblieben, der lieblos an einer morschen Holzlatte baumelte. Eifrig schob der Zottelhund seine feuchte Schnauze in den Briefschlitz und kläffte.
Leni zog ihn zurück und kraulte ihn enttäuscht hinter den Schlappohren. »Schade. Ich dachte, er führt uns zu Gulasch. Aber er hat offenbar eine falsche Fährte verfolgt …«
Auch Polly ließ den Kopf hängen. Sie hatten also wieder nichts gefunden. Nichts außer einem alten, windschiefen Briefkasten, der fast platzte vor ungeöffneter Post. Polly seufzte und griff nach Rufus’ Leine. »Wir verschwinden lieber.«
Während Polly und Leni sich umdrehten, beugte sich Isabella vor und spähte in den Briefkasten hinein. Ungläubig schnappte sie nach Luft. »Da … da drinnen ist der Schuhkarton!«
Sprachlos drängte Polly Isabella zur Seite und warf einen Blick in den dunkeln Kasten. Potzblitz! Es stimmte: Tief unten am Boden der Blechbüchse klemmte die geheimnisvolle Schuhschachtel!
»HEY! WAS MACHT IHR DA?!« Mist! Die Mädchen hatten sich so sehr auf Rufus’ Entdeckung konzentriert, dass sie die Schritte nicht gehört hatten. Nun stand jemand direkt hinter ihnen und schob die Freundinnen vom Briefkasten weg: Justus! »Ihr habt hier nichts zu suchen!« Verärgert funkelte er die Mädchen an und steckte sich hastig ein Bonbon in den Mund.
Polly schnupperte und verzog die Nase. Roch sie etwa …? Ja, eindeutig: Justus lutschte Blutorangenbonbons! Igittigitt!
Leni sah ihren Mitschüler irritiert an. »Musst du nicht in der Schule sein?«
Justus strich sich wütend eine Locke hinters Ohr. »Genau wie du!« Dann blickte er zu Polly. »Meine Mama hat gesagt, ihr dürft unseren Hof nicht betreten!«
Plötzlich konnte Polly sich nicht mehr zurückhalten. Was bildete sich dieser Schlaumeier nur ein?! Alle Spuren deuteten darauf hin, dass er Gulasch entführt hatte – und dann wagte er es auch noch, den Mädchen Vorwürfe zu machen? Nein, das war zu viel für Polly! Wütend kniff sie die Augen zusammen und packte Justus am Kragen. »Was hast du mit meinem Pony gemacht?«
Justus wusste nicht, wie ihm geschah. Erschrocken blinzelte er Polly an und schnappte nach Luft. »Ich … ich … hab nichts gemacht!«
»Du hast mein Pony gestohlen! Nennst du das etwa nichts?« Polly griff noch ein bisschen fester zu. Justus zappelte so hilflos wie ein Fisch am Angelhaken.
»Unsinn. Ich kann Ponys ja nicht mal ausstehen!«
Das reichte! Polly wollte, nein, sie konnte sich diesen Mist nicht länger anhören. Mit einem wütenden Schnauben hob sie Justus in die Höhe. Der Nachbarsjunge strampelte fassungslos in der Luft.
Isabella und Leni verzogen die Gesichter. Sie wussten, dass das erst der Anfang war, oh ja, und sie mussten unbedingt verhindern, dass Polly weitermachte.
»Polly! Lass ihn runter!« Isabella klammerte sich an Pollys Ellenbogen, doch Polly schüttelte sie ab. Schnaubend presste sie die Lippen aufeinander und nahm Schwung, um …
Aber potzblitz! Was war das?! Plötzlich stürzte etwas auf Polly herab: die rote Henne! Wie aus dem Nichts fiel sie über Polly her und flatterte wild mit den Federn. Ihr lautes Gekrächze versetzte nicht nur Leni und Isabella in Angst und Schrecken, nein, auch Rufus kauerte sich winselnd in den Kies.
Polly schlug um sich. »Hau ab! Lass mich in Ruhe!«
Justus nutzte die Ablenkung und befreite sich aus Pollys Griff. Panisch riss er den Briefkasten auf, schnappte sich den alten Schuhkarton und rettete sich ins Haus. So ein Mist!
Polly schnaubte. Justus war ihr entwischt. Und daran war nur die rote Henne schuld! Wütend packte Polly das Tier an der Schwanzfeder und schleuderte es mit aller Kraft hoch in die Luft. Begleitet von einem heiseren Schrei verschwand die Henne in den Wolken.
»Das hast du nun davon, du dummes Huhn!« Trotzig klopfte Polly sich die Federn von der Hose und ließ sich auf den Boden plumpsen.
Leni setzte sich zu ihr und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Ärger dich nicht, Polly. Genau genommen hat das Huhn dich grad gerettet.«
»Gerettet?« Polly blickte ihre Freundin verständnislos an.
Isabella nickte. »Das stimmt. Wenn die Henne nicht aufgetaucht wäre, hättest du Justus auf den Mond geworfen. Und das hätte dir mächtig Ärger mit den Siebenschläfern eingebracht!«
Polly seufzte und ließ unglücklich den Kopf hängen. Leni und Isabella hatten es ganz richtig erkannt, ja, sie hätte fast die Kontrolle verloren. »Ich wollte doch … ich will doch nur meinen Gulasch zurück!« Heiße Tränen schossen aus ihren Augen. Polly weinte. Das alles war einfach furchtbar, potzblitzfurchtbar. Würde sie ihr geliebtes Pony jemals wiedersehen …?