Während Isabella in Lottis Zimmer verschwand, sattelte Polly Suppe und ritt mit ihm den Strand entlang. Die frische Ostseeluft tat gut, und außer Polly tummelte sich niemand am Wasser. So hatte sie die Möglichkeit, in Ruhe nachzudenken. Was waren das nur für verrückte Ferien? Polly hätte nie gedacht, dass ihr so was mal in den Sinn kommen würde, aber: Sie wünschte sich in die Schule zurück! Selbst wenn Tante Winnies Hausboot reichlich chaotisch war, hatte in Hamburg alles seine Ordnung. Polly vermisste ihr verrücktes Zauberzimmer und sie vermisste ihre Freunde Paul und Greta. Am meisten aber vermisste sie Winifred und Adlerauge. Warum meldeten sich die beiden nicht endlich? Ob es ihnen wohl gut ging …?
Polly war derart in Gedanken versunken, dass sie das Rascheln im Schilf nicht hörte. Erst als Suppe stehen blieb und laut schnaubte, sah sie, dass sich die langen Grashalme auseinanderbogen. War das nicht …? Potzblitz, ja! Polly kniff die Augen zusammen.
»Komm raus da, ich hab dich gesehen!«
Und tatsächlich! Es dauerte einen Moment, dann aber bogen sich die Schilfbüschel zur Seite und Justus trat aus seinem Versteck. Unsicher schob er sich die Hände in die Taschen. Polly konnte genau erkennen, dass er wieder auf einem Bonbon herumlutschte. Kriegte dieser Kerl denn nie genug davon? Verärgert blinzelte sie ihn an. »Verfolgst du mich etwa?«
Justus zögerte. »Soweit ich weiß, gehört dieser Strand nicht dir. Ich kann hingehen, wo ich will.«
Polly presste die Lippen aufeinander. »Du kannst dir aber nicht einfach nehmen, was du willst! Wo hast du Gulasch versteckt?«
Justus stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich hab dein Pony nicht gestohlen, okay? Aber …« Verlegen fuhr er mit der Fußspitze im Sand herum. »Vielleicht kann ich dir helfen, ihn wiederzufinden …«
Polly riss überrascht die Augen auf. »Heißt das etwa, du weißt, wo er ist?«
Justus zuckte mit den Schultern. »Könnte schon sein. Aber erst musst du mir ein paar Fragen beantworten.«
Fragen beantworten? Pah! So weit kam es noch! Wenn dieser Schuft wusste, wo Gulasch war, dann sollte er es gefälligst ausspucken – und zwar sofort! Wütend kniff Polly die Augen zusammen. Sie könnte diesen Wicht ohne Probleme bis nach Schönberg werfen, keine Frage. Aber würde er ihr dann verraten, wo ihr Pony war? Vermutlich eher nicht. Nachdenklich hielt Polly die Luft an. Sollte sie etwa …? Was hatte sie schon zu verlieren? Zögerlich funkelte sie Justus an und nickte. »Also gut. Ich beantworte deine blöden Fragen.«
Justus hob überrascht die Augenbrauen. Dann räusperte er sich. »Dieser Saft heute Morgen … als du so komisch geredet hast. War das Blutorangensaft?«
Polly stieß ein Schnauben aus. »Ja. Ist das etwa verboten?«
»Verboten nicht, aber …« Unsicher grub Justus seine Schuhe in den Sand. »Ich hab mir nur gedacht, dass … Also ich hab mich gefragt, ob …«
»Komm zum Punkt!« Langsam verlor Polly die Geduld. Vielleicht sollte sie ihn doch einfach in die Luft werfen?
Justus schluckte und blinzelte Polly an. »Ich hab mich gefragt, ob du ein Vampir bist.«
»Ein Vampir?« Polly durchfuhr ein solcher Schreck, dass sie beinahe von Suppes Rücken rutschte. Von einem Augenblick auf den anderen war sie so bleich wie Winnies weltallerbeste Kalksteinpaste. Warum kannte dieser Junge ihr Geheimnis? Und woher wusste er überhaupt, dass es Vampire gab? Lag Isabella etwa richtig mit ihrer Vermutung? Verbarg Justus ein dunkles Geheimnis?
Unsicher begann Polly zu lachen. »Spinnst du? Wie kommst du denn auf so was?«
»Na ja. Du hast so merkwürdig gesprochen und dann den Saft getrunken und …« Langsam trat Justus an sie heran.
Suppe wich zurück und Polly fauchte: »Keinen Schritt näher! Wehe, du krümmst meinem Pony auch nur ein Haar!«
Erschrocken schüttelte Justus den Kopf. »Aber ich wollte doch nicht …«
Weiter kam er leider nicht, denn im nächsten Moment bog sich das Schilf ein weiteres Mal auseinander und Isabella stolperte auf den Strand hinaus.
»Polly!« Atemlos ließ sie sich in den Sand fallen.
Besorgt sprang Polly von Suppes Rücken und half ihrer Freundin auf. »Ist was passiert?«
Isabella nickte heftig, während sie nach Luft rang. »Du musst mitkommen, Polly! Schnell!«
Hoffnungsvoll riss Polly die Augen auf. »Hast du Gulasch gefunden?«
Isabella schüttelte den Kopf. »Gulasch nicht, aber jemand anderen!« Ohne noch länger zu warten, kämpfte sie sich zurück durchs Schilf.
Polly sprang in den Sattel und ritt los. Im letzten Moment drehte sie sich noch einmal zu Justus um und blickte ihm entschlossen in die Augen.
»Nur dass du’s weißt: Vampire gibt es nicht!« Dann verschwand sie in Richtung Hof. Justus blinzelte ihr ungläubig hinterher …
Polly traute ihren Augen kaum, als sie hinter Isabella den Dachboden ihres Elternhauses erreichte. »Adlerauge?!«
Tatsächlich! Der kleine Flatterwicht hatte sich in einem mächtigen Spinnennetz unter den Dachbalken verfangen. Er zappelte, als würde er um sein Leben kämpfen.
»Polly, Polly, Polly! Rette mich vor dem Ungeheuer!« Fiepend schlug der Fledermäuserich um sich, dabei war weit und breit kein Ungeheuer zu sehen. Nicht mal eine winzig kleine Spinne tummelte sich im Netz …
Polly musste kichern und rückte sich einen alten Stuhl zurecht. »Keine Panik! Das ist doch nur ein kleines Spinnennetz.« Geschickt streckte sie sich nach oben und befreite ihren flatternden Freund.
Erschöpft ließ Adlerauge sich in Pollys Handfläche sinken. Irgendwas war anders an dem kleinen Wicht, aber was …? Polly zuckte mit den Schultern. Jetzt zählte nur, dass Adlerauge wieder da war!
Isabella entstaubte ihn behutsam mit einem Taschentuch und kicherte.
»Eigentlich wollte ich ja schlafen. Aber dann hab ich dieses Fiepen auf dem Dachboden gehört. Und das kam mir sehr bekannt vor …«
Adlerauge richtete sich seufzend auf und entknitterte seine Flügel. »Ich hatte schon Angst, dass ich den Weg nach Kalifornien niemals finde …« Er blinzelte hilflos mit den Augen – und in diesem Moment erkannte Polly plötzlich, was anders war an ihrem kleinen Freund. Seine Brille! Er trug die Brille nicht mehr, die Paul ihm geschenkt hatte. Kein Wunder, dass er auf dem Dachboden gelandet war und nicht in Pollys Zimmer.
»Wo hast du denn deine Brille gelassen?«
Geknickt ließ Adlerauge das Köpfchen hängen. »Die hab ich im Kampf verloren …«
»Im Kampf?!« Polly blickte den Fledermäuserich erschrocken an. Auch Isabella zuckte zusammen, als sie das Wort aus Pollys Mund hörte.
»Na ja …«, fuhr Adlerauge kleinlaut fort. »Im Grunde habe nicht ich gekämpft, sondern Winifred …«
»Winnie hat gekämpft?« Polly biss sich auf die Lippe. »Mit wem?«
Auch Isabella war plötzlich ganz blass.
Adlerauge straffte vorsichtig die Schultern. »Ich weiß es nicht genau. Wir waren nachts in dieser Grotte. Winnie hat in den Spiegelsee geblickt und nach Isabellas Eltern gefragt und dann …« Er stieß ein wehleidiges Stöhnen aus.
»Was dann?« Polly schluckte und griff nach Isabellas Hand. Isabella konnte zwar nicht verstehen, was Adlerauge sagte, aber sie spürte, dass etwas Schlimmes passiert war.
Adlerauge schniefte. »Dann ist plötzlich das Licht ausgegangen. Alle Kerzen aus, von einer Sekunde auf die andere. Es war stockfinster da drinnen, Polly, finsterer als der finsterste Albtraum!« Der kleine Fledermäuserich schüttelte sich. »Und dann hab ich Winnie schreien hören. Es gab einen furchtbaren Lärm und ein Blitz zuckte durch die Grotte! Und als das Licht wieder anging …« Geknickt hielt Adlerauge inne.
Polly stockte der Atem. »Was war, als das Licht wieder anging?«
Der kleine Flatterich seufzte. Das hier fiel ihm nicht leicht, oh nein.
Unglücklich blinzelte er Polly an. »Als das Licht anging, war Winifred … verschwunden.«