»Nein!« Erschrocken schlug Polly sich die Hände vor den Mund.
Adlerauge ließ betroffen die Flügel hängen. »Und es kam noch schlimmer: Ich wurde nämlich von einem Feuervogel angegriffen! Ein riesiger, wilder Falke!« Tapfer versuchte er, die Schultern zu straffen. »Das Monster hat an meinen Flügeln gezerrt und einen bösen Lärm veranstaltet, aber ich hab es in die Flucht geschlagen! Roberta wäre stolz auf mich!« Dann kratzte er sich verlegen an der feuchten Nasenspitze. »Dummerweise hab ich beim Kampf meine Brille verloren. Wenn die Wildgänse mich nicht ein Stückchen mitgenommen hätten, hätte ich euch vermutlich nie gefunden …«
Isabella blickte Polly gebannt an. »Ist es … wurde Winnie etwa …?«
Polly nickte traurig und erzählte ihr, was Adlerauge eben berichtet hatte.
Verzweifelt vergrub Isabella ihr Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. »Das ist alles meine Schuld!«
Polly legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Nein. Du hast doch gar nichts damit zu tun.«
Isabella schüttelte den Kopf. »Doch! Nur meinetwegen ist Winnie in die Grotte gefahren! Ich habe zugestimmt, als sie allein reisen wollte. Ohne mich wäre sie nie in diese Situation gekommen und jetzt … jetzt …« Sie konnte den Satz nicht beenden, es war einfach zu schrecklich.
Auch Polly fühlte sich furchtbar. Sie musste sich stark zusammenreißen, um nicht selbst loszuheulen. Potzblitz! Warum hatte sie ihre Großtante alleine reisen lassen? Waren es etwa die Finsterfürsten gewesen, die Winifred in der Grotte angegriffen hatten? Hatte Winnie sich deshalb nicht mehr gemeldet? Nein, das konnte, das durfte nicht sein! Ein kalter Schauer lief Polly über den Rücken. Trotzdem atmete sie tief durch und nickte tapfer.
»Wir wissen doch gar nicht, was mit Winnie passiert ist. Vielleicht hat sie sich ja auch befreit, genau wie Adlerauge!«
Isabella blickte sie zweifelnd an. »Und warum ist sie dann noch nicht hier?«
Konzentriert suchte Polly nach einer Erklärung. »Vielleicht … hat sie auch ihre Kontaktlinsen verloren und findet den Weg nicht!« Polly versuchte zu lächeln, doch es fiel ihr schwer.
Auch Isabella blieb skeptisch. Vorsichtig wischte sie sich die Tränen aus dem Augenwinkel. »Und was machen wir jetzt?«
Polly zögerte. Dann ließ sie seufzend den Kopf hängen. »Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen Mama um Hilfe bitten …«
Natürlich hatte Polly ein furchtbar schlechtes Gewissen, Mama bei der Arbeit zu stören. Aber das hier war wichtig – immerhin ging es um Tante Winnie!
»Winifred ist verschwunden?« Verwundert legte Antonia Schlottermotz ihren Hammer zur Seite.
Polly nickte traurig und drückte Isabellas Hand. »Das hat Adlerauge erzählt …«
Mama betrachtete den Fledermäuserich, der orientierungslos an Pollys Ellenbogen baumelte. »Und ihr seid euch sicher, dass der kleine Wischmopp nicht wieder nur Gespenster sieht?«
Adlerauge rümpfte empört die Nase. »Ich bin zwar blind, aber nicht blöd!«
Polly sparte sich die Übersetzung. Stattdessen blickte sie ihre Mutter mit flehenden Augen an. »Wir müssen sie suchen, Mama. Wir müssen zu dieser Grotte fahren und Winnie finden!«
Mama sah die beiden Mädchen einen Moment lang an und seufzte dann. »Also gut. Wenn es euch so viel bedeutet, fahren wir morgen los.«
»Morgen erst?« Polly riss überrascht die Augen auf.
»Mit fehlen noch zwei Stufen vom Leuchtturm, Polly. Morgen bin ich fertig und die Ringelröschens können weiterziehen.«
Dass die beiden Theaterleute wieder verschwinden würden, fand Polly gut. Weniger gut fand sie, noch einen ganzen Tag zu warten, bevor sie Winnie zu Hilfe eilen konnten.
Auch Isabella war davon nicht besonders überzeugt. »Und wenn es morgen schon zu spät ist?«
Antonia Schlottermotz kniete sich zu den Mädchen auf den Boden. »Tante Winnie schafft das schon! Mit ein, zwei Schurken nimmt sie es locker auf! Macht euch keine Sorgen.«
Polly aber machte sich Sorgen, oh ja. Potzblitzgroße Obersorgen …
Als die Mädchen gemeinsam in den Hof hinaustraten, eilte Papa mit einem Stoffsäckchen vorbei. Er strahlte, als hätte er soeben das achte Weltwunder entdeckt.
»Die Falle ist fertig! Dieses Hühnchen tanzt mir nie wieder auf der Nase rum! Ich streue nur noch die Körner in die Falle und: ZACK! BUMMS! AUS!« Stolz wedelte er mit dem Säckchen und verschwand glühend hinterm Haus.
Polly war irritiert. Papa hatte Körner geholt? Aber wollte sich Frau Ringelröschen nicht direkt nach dem Zusammenstoß im Keller darum kümmern? Merkwürdig …
Isabella blickte Papa nachdenklich hinterher. »Immerhin scheint er das Jucken vergessen zu haben. Er hat sich kein bisschen gekratzt.«
Polly nickte. »Und einen Babysitter braucht er auch nicht, solange er mit diesem Hühnerding beschäftigt ist.«
»Und was machen wir jetzt?« Neugierig blinzelte Isabella ihre Freundin an.
Polly dachte nach und zupfte Adlerauge aus ihrem Ärmel. »Könntest du mir einen Gefallen tun?«
Adlerauge rieb sich überrascht die Augen und gähnte. »Einen Gefallen? Ich hatte eher an ein Nickerchen gedacht …«
Polly stupste ihn frech an. »Schlafen kannst du auch später noch. Wir brauchen jetzt dringend einen Spion!«
»Einen Spion?« Nicht nur der kleine Flatterich, nein, auch Isabella runzelte die Stirn. »Wen willst du denn ausspionieren?«
Polly zögerte einen Augenblick. Dann blickte sie Adlerauge entschlossen an. »Du heftest dich an Justus!«
»Justus?« Der Flatterwicht war irritiert. »Ich kenne keinen Justus.«
»Das ist der neue Nachbarsjunge. Ich fürchte, er hat was mit Gulaschs Verschwinden zu tun …«
Der Fledermäuserich schlug erschrocken die Flügel überm Kopf zusammen. »Gulasch ist auch verschwunden? Wie fürchterlich!«
Polly nickte und sah geknickt zu Isabella. »Du hattest wohl recht mit deinem Verdacht. Vorhin am Strand hat er angedeutet, dass er weiß, wo Gulasch ist …«
Überrascht riss Isabella die Augen auf. Adlerauge zuckte hilflos mit den Flügeln. »Aber wie soll ich denn jemanden ausspionieren? Ohne meine Brille bin ich blind wie ein Maulwurf.«
Polly lächelte aufmunternd. »Du musst eben ganz, ganz nah rangehen!« Flehend blickte sie Adlerauge an.
Schließlich stieß er ein Stöhnen aus. »Also gut. Ich mach’s …«
»Du bist der weltallerbeste Flatterfreund auf dem ganzen, weiten Erdball!« Dankbar drückte Polly Adlerauge einen saftigen Kuss auf die Nase und warf ihn in die Luft. Mit wilden kleinen Flügelschlägen flog er davon.
Isabella sah ihm hinterher. »Und was machen wir beide in der Zwischenzeit?«
Polly dachte nach. Ihr Blick fiel auf den großen Blechwagen der Ringelröschens, der noch immer in der Einfahrt stand. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie könnten doch … Ja, einen Versuch war es wert. Ein schelmisches Grinsen breitete sich auf Pollys Gesicht aus. »Ich hätte schon eine Idee, was wir jetzt tun könnten …«