Justus starrte Polly ungläubig hinterher. »Hey, warte! Du sprichst mit einer Fledermaus?«
Polly aber dachte gar nicht daran zu warten, um Erklärungen abzuliefern! Sie lief, so schnell sie ihre Beine trugen! Wenn Adlerauge die Wahrheit sagte, dann war Papa in Gefahr, in potzblitzgroßer Riesengefahr!
Ohne nach rechts oder links zu blicken, rannte sie quer über den Hof, sprang durch eine Hecke und trat einen Blecheimer zur Seite. Potzblitz! Wo war Papa nur? Und wo steckte dieser Feuerfalke?
Adlerauge hatte große Mühe, sich an Polly zu heften. Japsend krallte er sich an ihrer Schulter fest. »Im Stall! Sie sind im Stall!«
Genau in diesem Moment stieß Papa einen Schrei aus. Tatsächlich! Er war im Stall!
Auch Mama hatte den Lärm gehört und eilte aus ihrer Werkstatt. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«
Polly hatte keine Zeit zu antworten. Mit großen Schritten rannte sie auf die Stalltür zu – und dann sah sie die beiden: Papa und … Aber das war doch …! Potzblitz, ja! Erleichtert stützte Polly sich auf den Knien ab und begann zu lachen.
Adlerauge hüpfte verwundert auf ihrer Schulter auf und ab. »Was ist denn hier so lustig? Willst du deinen Vater nicht retten?«
Polly schüttelte sich vor Lachen. »Das ist kein Feuervogel, Adlerauge. Das ist nur ein Huhn!« In der Tat! Dort vor Papas Brust flatterte die rote Henne und krächzte. Und es sah nicht so aus, als müsste Polly Papa vor ihr retten, nein, im Gegenteil!
Cornelius Schlottermotz hatte das kreischende Tier gerade aus der Falle gehoben und hielt es nun fest umklammert in seinen Händen. »Ich hab sie! Ich hab sie erwischt!« Ausgelassen tanzte er durchs Stroh. Polly hatte ihren Vater selten so strahlen sehen.
Auch Mama, die neben Polly in der Stalltür stand, runzelte verwundert die Stirn. »Dein Vater ist wirklich ein wundersamer Mann …«
Polly musste grinsen – doch im nächsten Augenblick verging ihr das Lachen. Fridolin Ringelröschen schoss feixend durch die Tür und stürmte auf Papa zu. In den Händen trug er eine Axt. »Sehr gut, Herr Schlottermotz! Ich wusste doch: Sie sind der geborene Jäger!« Mit einem teuflischen Lächeln auf den Lippen hielt er Papa das bedrohlich glänzende Beil hin. »Und jetzt bringen Sie diese Sache zu Ende!«
»Zu Ende bringen?« Polly traute ihren Ohren kaum und Adlerauge plumpste vor Schreck von ihrer Schulter. Auch Mama riss überrascht die Augen auf und Papa begann zu stottern. Auf einmal war er blass wie ein Wintermorgen.
»Aber … aber wir wollen doch nicht … wir hatten doch gesagt, dass …«
»Sie müssen einen Schlussstrich ziehen, Herr Schlottermotz!«, fiel der dicke Fridolin ihm ins Wort. »Sonst tanzt Ihnen dieses Vieh immer wieder auf der Nase herum!« Auffordernd drückte er Papa die Axt an die Brust.
Das reichte! Polly würde auf keinen Fall zulassen, dass dem Tier etwas geschah.
»Hier wird kein Huhn geschlachtet! Dafür müssen Sie erst an mir vorbei!« Mutig stürmte sie auf die Henne zu. Doch auf halber Strecke stolperte Polly über einen Eimer und fiel bäuchlings auf den Boden. Aua!
Herr Ringelröschen lachte. »Dann mach ich es eben selbst!« Entschlossen entriss er Papa die kreischende Henne und klemmte ihren Kopf auf einen alten Holzhocker.
Mama, Papa und Adlerauge zuckten zusammen und Polly hob am Boden den Kopf. Als ihr Blick den der panischen Henne streifte, durchfuhr sie ein Schreck. Warum kamen ihr diese Augen so bekannt vor? Das rot gefiederte Huhn starrte Polly verängstigt an – und dann plötzlich begann die Henne eine Melodie zu krächzen. Polly schluckte. Sie kannte diese Melodie, ja: Das war Winnies Wanderlied! Mit einem Mal ging Polly ein Licht auf. Das rote Gefieder! Die Augen! Der Hilferuf im Kies!
Panisch sprang sie auf die Beine. »Das ist kein Huhn! DAS IST TANTE WINNIE!«
»Tante Winnie?!« Mama, Papa und Adlerauge konnten es nicht glauben. Fridolin Ringelröschen aber schien kein bisschen überrascht. Mit einem bösartigen Grinsen hob er die Axt in die Luft.
Polly, ihre Eltern und Adlerauge kreischten und sprangen auf die schrill krächzende Henne zu. Tränen schossen in Pollys Augen. Warum hatte sie das nicht früher bemerkt? Sollte das etwa Tante Winnies Ende sein?
Aber halt! Kurz bevor die messerscharfe Klinge den Hals der Henne berührte, warf sich plötzlich jemand vom Heuboden auf den gemeinen Fridolin.
Justus! Offenbar war er von außen durch das obere Stallfenster geklettert. Jetzt biss er seinen Kiefer fest zusammen und schloss die Hände um den Griff der gefährlichen Axt. Im nächsten Moment war das Beil … verschwunden.
Ungläubig blinzelte Herr Ringelröschen auf seine leeren Hände hinab. Was war hier gerade geschehen? Und wo war seine Axt?
Polly nutzte seine Irritation und riss ihm das rote Huhn aus der Hand. »Tante Winnie!« Überglücklich drückte sie das Tier an sich. Die Henne gurrte erleichtert und Polly blickte ihr in die Augen. »Du bist es, oder? Ich hab dein Lied erkannt. So schief kann nur eine krächzen!« Das Huhn gluckste und wippte eifrig mit dem Kopf. Das war Winifred, oh ja, daran gab es keinen Zweifel!
Auch Papa und Adlerauge drängten sich neugierig um das gefiederte Tier. Mama blickte zu Justus. »Wie … wie hast du die Axt verschwinden lassen?«
Justus schluckte verlegen. »Na ja, also … wenn ich meine Bonbons zerbeiße und dabei etwas berühre, dann … dann wird es winzig klein.«
»Was?« Papa blinzelte den Nachbarsjungen verständnislos an.
»Es heißt wie bitte«, korrigierte Mama ihn nüchtern und betrachtete Justus. »Bedeutet das etwa, du bist …?«
»Er ist auch ein Vampirkind …«, ergänzte Polly ungläubig. »Genau wie ich.« Potzblitz! Warum hatte sie das nicht gleich bemerkt? Die Blutorangenbonbons, die Geheimniskrämerei, die Dinge, die auf dem Hof verschwunden waren.
»Deswegen sind all die Sachen verschwunden! Die Treppe, das Handy, der Bohrer – und Gulasch!«
Justus nickte verschämt. »Ich wollte das nicht, wirklich. Am Anfang wusste ich gar nicht, was genau vor sich geht. Und dann hab ich irgendwann gemerkt, dass es immer passiert, wenn ich meine Bonbons zerbeiße. Aber da war es schon zu spät …« Betroffen ließ er den Kopf hängen. »Ich hab alles aufbewahrt.«
Plötzlich breitete sich ein Grinsen auf Pollys Gesicht aus. »In dem Schuhkarton! Deswegen habt ihr ihn weggesperrt. Deswegen hat Rufus die Spur gefunden! Gulasch ist im Schuhkarton!«
Justus verzog seufzend das Gesicht. »In der Nacht hab ich Emmis Kuscheltiger gesucht. Sie war ja ausgebüxt und hatte ihn verloren. Im Stall hab ich dann dein Pony gestreichelt. Und nun ist es winzig klein …«
Die rote Henne pickte energisch an Pollys Schulter. Polly sah sie an und nickte. »Du hast recht, Winnie. Wir müssen dich schleunigst zurückverwandeln!«
Justus riss überrascht die Augen auf. »Zurückverwandeln? Geht das denn?«
»Klar!« Polly nickte eifrig. »Jeder Zauber, der von einem Vampir ausgelöst wurde, kann rückgängig gemacht werden. Entweder durch den Vampir selbst oder durch …« Potzblitz! Das war die Lösung! »Der Zahn der Zeit!« Hastig drückte sie Papa die Henne in die Hände und wühlte in ihrer Hosentasche. Wo war er nur? Sie hatte ihn doch … Ha! Da steckte er ja! Strahlend zog Polly den Eckzahn, den Adlerauge ihr ausgeschlagen hatte, aus der Tasche.
Justus verzog das Gesicht. »Ist das etwa …?«
»Einer meiner Milchzähne, ja! Und Tante Winnie muss ihn jetzt schlucken!«
Die Henne zog angewidert den Schnabel zur Seite. Polly sah sie eindringlich an. »Jetzt komm schon, Winnie. Stell dich nicht so an! Oder willst du dein Leben lang Frühstückseier legen?«
Winifred schien zu zögern. Dann klappte sie den Schnabel auf und schluckte Pollys Zahn hinunter.
Einen Moment lang war alles still, doch plötzlich zuckte ein Blitz durch den Stall und hüllte alles in einen dichten Nebel! Papa stieß einen Schrei aus. Als sich der Nebel lichtete, konnte Polly erkennen, warum er geschrien hatte: Winifred lag in seinen Armen und hatte ihn unter ihrem Gewicht zu Fall gebracht.
»Winnie!« Polly sprang auf ihre Tante zu und fiel ihr um den Hals. Winnie war wieder da – und sie war unversehrt! Polly war überglücklich! »Ich hatte solche Angst, dass die Finsterfürsten dich erwischt haben!« Tränen der Erleichterung schossen aus ihren Augen.
Winifred verzog missmutig das Gesicht. »Genau genommen haben sie das ja auch.« Nervös blickte sie sich im Stall nach Fridolin Ringelröschen um. »Wo ist der Schuft hin?« Auch Polly bemerkte verwundert, dass der kleine Theatermann weg war. Hatte er nicht eben noch am Hocker gestanden? Mist! Der Schurke war klammheimlich verschwunden. In diesem Moment zischte auch schon ein dicker Glühwicht in den Stall. Mit einem geschickten Griff schnappte Winnie sich den dicken Brummer. Doch das, was der Wicht ankündigte, bedeutete nichts Gutes, oh nein. Die Gefahr war noch nicht vorbei …