»Willst du etwa sagen, die Ringelröschens sind … die Finsterfürsten?« Papa konnte es nicht fassen. Gemeinsam stürmten alle hinaus in den Hof. Mama eilte sofort weiter, um Isabella aus dem Haus zu holen.

Winifred nickte betroffen. »Sie haben mir in der Grotte des Vergessens aufgelauert. Als mir der Spiegelsee verraten hat, wo Isabellas Familie steckt, haben sie mich aus dem Hinterhalt angegriffen.«

Polly traute ihren Ohren kaum. »Du weißt, wo Familie Zappenduster steckt?«

Winnie seufzte. »Ja. Und genau deshalb bin ich so besorgt.« Unglücklich blickte sie Polly an. »Isabellas Familie ist hier in Kalifornien.«

Polly war sprachlos. Die Finsterfürsten waren ein kleines dickes Ehepaar, das in einer Blechkiste herumfuhr? Und Familie Zappenduster sollte hier an der Ostsee sein?

Potzblitz! Langsam ging Polly ein Licht auf. Deswegen war Isabella bei Polly gelandet! Deswegen hatte sie damals das Gefühl gehabt, dass Polly ihr würde helfen können. Es ging gar nicht nur darum, sie aus dem Rahmen zu retten, nein: Der heldenhafte Dingsdabums hatte ihre versteinerte Familie vor zweihundert Jahren irgendwo hier in Kalifornien versteckt. Darum also hatten Lavinia und Fridolin so ein Interesse daran gehabt, hierzubleiben und rumzuschnüffeln. Sie suchten Isabellas Familie! Polly schüttelte ungläubig den Kopf.

»Und wo sind die Zappendusters genau?«

Winnie ließ die Schultern hängen. »Ich weiß es nicht. Die Schurken haben mich in ein Huhn verwandelt, bevor die Grotte es mir verraten konnte.«

Justus runzelte die Stirn. »Aber warum ausgerechnet in ein Huhn?«

Winifred schnaubte. »Ganz einfach: Sie wollten mir das Blut aussaugen! Wenn sie das bei einem Menschen tun, gibt es viel zu viel Ärger und Aufregung. Wenn ein Huhn ausgesaugt wird, kräht kein Hahn danach …«

Wie gemein! Polly hatte also recht gehabt: Die beiden Überraschungsgäste hatten von Anfang an etwas Böses im Schilde geführt. Wütend verengte sie die Augen zu Schlitzen. »Wir müssen uns die Schurken schnappen!« Doch als ihr Blick in die Einfahrt fiel, zuckte sie zusammen: Der große rostige Blechwagen war weg! Oh nein! Hatten Fridolin und Lavinia etwa eine Spur zu Familie Zappenduster gefunden?

Im nächsten Moment purzelte Mama aus dem Haus. »Isabella ist verschwunden!«

Polly hielt die Luft an. »Sie wollte sich hinlegen!«

Mama schüttelte hektisch den Kopf. »Sie ist aber nicht da! Nirgendwo im Haus!«

Vor Angst und Schrecken wurde Polly ganz schwindelig. Isabella war verschwunden! Hieß das etwa … die Finsterfürsten hatten sie mitgenommen? Nein, das durfte nicht sein! Polly musste sie finden!

»Wir müssen nachdenken. Wenn wir ein Dingsdabums wären, wo würden wir dann eine versteinerte Familie verstecken?«

Winnie wickelte sich eine Locke um den Finger. »Irgendwo, wo nicht besonders oft Leute vorbeikommen.«

Mama nickte zustimmend. »Da, wo es dunkel ist. Und einsam!«

Plötzlich flackerte Papas Blick auf. »Der Brunnen! Da waren diese Hände unten im Brunnen!«

Potzblitz! Konnte es sein, dass Papa recht hatte? Waren die eiskalten Hände etwa gar kein Hirngespinst, sondern Familie Zappenduster? Aber … oh nein! Polly verzog das Gesicht. Isabella hatte Frau Ringelröschen im Keller von den Händen erzählt! Und kurz danach war Lavinia mit der Strickleiter davongelaufen. War sie bereits auf dem Weg zum Brunnen? Und hatten die finsteren Schurken Isabella bei sich?

Pollys Herz pochte heftig. Würden die Finsterfürsten Isabella und ihre Familie vernichten und damit die Macht über alle Vampire zurückgewinnen? Nein, das durfte nicht geschehen! Polly musste etwas tun.

»Auf zum Brunnen!« Ohne zu zögern, rannte Polly los. Tante Winnie hüpfte besorgt hinterher und Adlerauge schwang sich in die Luft. Mama nahm Papas Hand. Gemeinsam eilten sie über die Wiese hinter der Koppel in Richtung Eichenwald.

Nur Justus blieb verwundert auf dem Hof zurück. Was war das bloß für ein Chaos? Wo war er hier hineingeraten …?

Polly konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals so schnell gelaufen war. Sie zischte über die Wiese und in den Wald hinein. Doch als sie völlig atemlos auf die Lichtung stolperte, war es bereits zu spät. Die Bretter, mit denen Mama den alten Brunnen zugenagelt hatte, waren aufgebrochen. Auf dem Waldweg hinter der Lichtung hörte Polly den Wagen der Schurken aufheulen. Potzblitz! Sie waren also noch nicht weg!

Mit großen Schritten sprang Polly über den Schacht und kämpfte sich durchs Gebüsch. In den Baumwipfeln über sich hörte sie Adlerauge fiepen und aus dem Wald drangen die Rufe von Mama, Papa und Winnie. Doch Polly hatte keine Zeit, auf sie zu warten. Wenn diese Fieslinge Isabella und ihre Familie hatten, musste sie sie aufhalten! Keuchend rannte sie zwischen zwei Baumstämmen auf den Weg hinaus – und tatsächlich! Da war der Blechriese der Finsterfürsten! Lavinia saß am Steuer und schimpfte, während sie auf das stotternde Gaspedal trat.

»Wieso geht das nicht schneller? Verdammt!« Ihr Mann hockte mit rotem Kopf auf dem Dach des Wagens und drehte an einer Kurbel.

Und dann sah Polly sie: Isabellas versteinerte Familie! Die Zappendusters baumelten am Kran, der auf dem Dach des Wagens befestigt war. Bedrohlich schwangen sie zu allen Seiten. Ihr steinernes Gewicht war offenbar so schwer, dass der Wagen nicht richtig in Fahrt kam.

»ANHALTEN! SOFORT ANHALTEN!« Polly schrie, so laut sie konnte. Als die Ringelröschens sie sahen, schlich sich ein Grinsen auf ihre Gesichter.

»Du kommst zu spät! Wir haben sie schon!« Lavinia trat erneut aufs Gaspedal und der Wagen ruckelte über den Schotterweg. Fridolin musste sich am Kran festklammern, um nicht vom Dach zu purzeln.

Polly gab alles. Sie rannte und rannte, bis sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu kriegen. Sie durfte jetzt nicht aufgeben, nein!

Obwohl Adlerauge ohne seine Brille kaum etwas sah und sich immer wieder in ein paar Zweigen verfing, feuerte er sie aus der Luft an. »Du schaffst es, Polly! Los! Schneller!«

Aber Polly konnte nicht schneller laufen, es ging einfach nicht! Und schlimmer noch: So langsam verließ sie die Kraft. Mit jedem Schritt wurde der Abstand zum Wagen größer, mit jedem Meter lachten die Finsterfürsten mehr. Polly war verzweifelt. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, wäre Familie Zappenduster für immer verloren!

Aber was war das? Plötzlich hörte Polly etwas hinter sich auf dem Weg. Es klang wie … Ja, das war Suppe! Und auf seinem Rücken saß: Justus! Eilig trieb er das Pony voran. Suppe war schnell wie nie!

Als er an Polly vorbeisauste, hielt Justus ihr seine Hand hin und zog sie zu sich auf Suppes Rücken. »Ich hab mir schon gedacht, dass wir mit dem Pferdchen schneller sind.« Frech grinste er Polly an.

Polly hätte ihn am liebsten abgeknutscht vor Dankbarkeit, aber jetzt hatten sie ja etwas anderes vor. Gemeinsam schossen sie dem Wagen hinterher. Leider war die Blechkiste mittlerweile ziemlich schnell.

Justus schüttelte sich die Haare aus der Stirn. »Wir müssen sie irgendwie dazu bewegen, langsamer zu fahren. Sonst entwischen sie uns!«

Polly verzog das Gesicht. Langsamer …? Wie sollten sie das anstellen? Unsicher kräuselte sie die Nasenspitze und … Die Nase! Das könnte die Lösung sein – immerhin waren sie noch nah genug an den Höfen.

Polly grinste Justus an. »Ich hoffe, du hast keine empfindlichen Ohren!«

Justus blinzelte irritiert zurück, da kratzte Polly sich an der Nase.

Im nächsten Moment schrillte ihr Alarmzahn los!

Justus zuckte zusammen. »WAS TUST DU DA?«

Hoffnungsvoll blickte sich Polly zu allen Seiten um. »ICH BRINGE SIE DAZU, ANZUHALTEN!« Verdammt! Wo waren sie bloß? Reichte der Alarm etwa doch nicht aus, um … Doch! Da kamen sie!

Justus konnte nicht glauben, was er sah. »SIND DAS ETWA …?«

Polly grinste. Ja, das waren sie! Eine wilde, aufgebrachte Schar Hühner – angelockt von Pollys Alarm! Wie die Furien stürmten sie auf den Wagen zu, hinter dem Polly und Justus ritten. Sie schlugen mit den Flügeln und krächzten, als ginge es um ihr Leben.

Fridolin Finsterfürst schlug irritiert um sich. Dabei verlor er das Gleichgewicht und plumpste vom Wagen in den Dreck. Lavinia griff schreiend mit den Händen nach den Tieren, die um ihren Kopf flatterten, und trat auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam die Blechkiste zum Stehen.

Polly und Justus sprangen von Suppes Rücken und kämpften sich zwischen den Hühnern hindurch. Noch immer schrillte Pollys Alarmzahn. Besorgt eilte sie auf den Wagen zu, dessen Tür Justus vorhin geschrumpft hatte. Wenn Isabella in dem Wagen steckte, musste sie sie retten.

»ISABELLA! ICH BIN’S!« Mit einem großen Satz hüpfte Polly ins Wageninnere. Durch die offene Tür fiel genug Licht, um sich umzusehen – aber Isabella war nicht da! Plötzlich hörte Polly Schritte hinter sich. Lavinia und Fridolin flohen vor den wilden Hühnern in den Wagen und funkelten Polly zerzaust an.

»DENKST DU WIRKLICH, DU KANNST UNS AUFHALTEN?« Mit einem teuflischen Grinsen näherten sie sich Polly. Ängstlich taumelte sie zurück. Was hatten diese Schurken mit Isabella gemacht? Und was würden sie nun mit ihr anstellen?

»SIE KANN EUCH VIELLEICHT NICHT AUFHALTEN!« Justus! Das war Justus. Er war hinter den beiden Fieslingen in den Wagen gestiegen. Jetzt schob er sich ein Bonbon in den Mund. »ABER ICH KANN ES!« Genüsslich zerbiss er das Bonbon und griff nach Lavinia und Fridolin – und mit einem quiekenden Schrei schrumpften die beiden auf die Größe von zwei Rosinen …