Die Finsterfürsten schimpften um ihr Leben, als Justus sie in ein leeres Marmeladenglas purzeln ließ, das über den Boden des Wagens kullerte.

Polly aber interessierte sich nicht dafür, nein. Das Einzige, was jetzt zählte, war Isabella. Blitzschnell kratzte sie an ihrer Nase und ließ den Alarm verstummen. Aber wo steckte Isabella nur? »Isabella? Isabella?!« Besorgt wühlte sich Polly durch das Chaos im Blechwagen, doch von ihrer Freundin war keine Spur. Selbst als Justus endlich einen Lichtschalter fand, konnte Polly sie nicht entdecken. Potzblitz! Was hatten diese Schurken nur mit ihr angestellt? Polly mochte gar nicht daran denken … Unsicher hüpfte sie aus dem Wagen.

In diesem Moment erreichten auch Papa, Mama, Winifred und Adlerauge die Blechkiste. Papa zuckte kurz zusammen, als er die Hühner erblickte, die nun friedlich im feuchten Waldboden herumpickten. Dann aber glitt sein Blick zu einer anderen Unglaublichkeit in Justus’ Hand.

»Sind das … sind das etwa …?«

Justus grinste. »Ja, das sind die fiesen Schurken!« Mit hochroten Köpfen traten und schlugen Lavinia und Fridolin im Inneren an die Wände des Marmeladenglases.

Winifred aber hatte schon etwas ganz anderes entdeckt. »Und das ist … Familie Zappenduster!« Ehrfürchtig trat sie an die versteinerte Familie heran, die an der Rückseite des Wagens am Kran baumelte.

Papa begann ungläubig zu stottern. »Das … das sind die Hände, die nach mir gegriffen haben. Sie müssen sie aus dem Brunnen gehoben haben.«

Ja, es gab keinen Zweifel. Das hier waren Friedebald von Zappenduster, seine Frau Konstanze und ihre Tochter Charlotte. Die Ähnlichkeit zu Isabella war erschreckend. Auch Charlotte hatte zwei Vampirzähne, allerdings saßen beide auf der rechten Seite und nicht wie bei Isabella auf der linken. Ansonsten aber ähnelten sich die beiden Mädchen wie ein Ei dem anderen. Während Graf Zappenduster abwehrend die Hände vor den Körper hielt, hatte Konstanze ihren Arm schützend um ihre Tochter gelegt. Charlotte selbst streckte verzweifelt ihre Hand aus, gerade so, als wollte sie eine andere Hand ergreifen.

Polly seufzte. »Isabella ist nicht im Wagen …«

»Was?« Tante Winnie riss erschrocken die Augen auf und Adlerauge stieß einen erschütterten Klagelaut aus.

Papa sprang in den Wagen hinein. »Das kann nicht sein! Sie muss doch hier irgendwo stecken!«

Polly und Justus wechselten einen traurigen Blick. Sie hatten schon den ganzen Wagen auf den Kopf gestellt. Isabella war nicht da …

Obwohl sie Familie Zappenduster gefunden und vor den Schurken gerettet hatten, konnten sich Polly, Justus, Winnie, Mama, Papa und Adlerauge nicht richtig freuen. Während Mama den Wagen von Lavinia und Fridolin auf den Hof zurückfuhr, schlugen die anderen den Heimweg durch den Wald ein. Keiner von ihnen wagte zu sprechen. Als sie am alten Brunnen vorbeikamen, rief Polly noch einmal nach Isabella. Aber nein. Auch hier war sie nicht. Wo steckte sie bloß? Die winzigen Schurken im Marmeladenglas hüllten sich in Schweigen. Wie zwei beleidigte Leberwürste pressten sie ihre geschrumpften Lippen aufeinander. Kein Wort wollten sie über Isabellas Verbleib verlieren!

Mit hängenden Köpfen schlurften Polly und ihre Liebsten zurück auf den Hof.

Justus bemerkte, wie sehr Polly litt. »Wenn du willst … kann ich dir jetzt dein Pony zeigen.«

Gulasch! Den hatte Polly in all der Aufregung um die rote Henne, die falschen Ringelröschens und Familie Zappenduster beinahe vergessen. Seufzend nickte sie – da hörte sie plötzlich ein Rascheln aus dem Rapsfeld! Gebannt hielt Polly die Luft an und starrte auf das leuchtende Feld. Und dann sah sie sie! Durch die gelben Pflanzen bahnte sich jemand seinen Weg auf den Hof: Isabella!

Polly strahlte sie ungläubig an. Dann stieß sie einen Freudenschrei aus und stürmte auf ihre Freundin zu. Isabella war hier, und sie war unversehrt! Polly hätte nicht glücklicher sein können. Aufgeregt warf sie die überraschte Isabella zu Boden.

Isabella hatte keinen Schimmer, was dieser Empfang zu bedeuten hatte. »Was … was ist denn los?«

Polly lachte und küsste sie wild. »Du bist hier! Die Schurken haben dich nicht erwischt!«

Isabella blickte sie verständnislos an. »Welche Schurken?«

Polly aber war viel zu aufgeregt, um zu antworten. »Du warst nicht in deinem Bett. Und in meinem auch nicht!«

»Ja, ich konnte nicht schlafen nach unserem Streit«, erklärte Isabella. »Deswegen bin ich am Strand spazieren gegangen. Und als ich wiederkam, waren alle weg. Ich bin zur Straße vorgelaufen, um zu sehen, ob ich euch irgendwo finde.«

Polly presste Isabella fest an sich. Sie würde sie nie mehr loslassen, nein, nie mehr!

Isabella aber hatte schon etwas anderes entdeckt. »Winnie? Winnie ist wieder da!«

Polly grinste und winkte ihrer Großtante zu. »Sie ist zurück, ja! Aber das ist eine lange Geschichte …«

In diesem Moment bog Mama mit dem großen Blechwagen in die Einfahrt. Als sie Isabella am Rande des Rapsfeldes in Pollys Armen sah, trat sie auf die Bremse und sprang aus dem Auto. Stürmisch hob sie die Mädchen vom Boden auf und drückte sie erleichtert an ihre Brust. »Ein Glück! Dir ist nichts passiert!«

Isabella kicherte, doch dann gefror ihr Lachen. Dort am Kran baumelte …! Nein, das konnte nicht sein! Atemlos machte sie sich aus der Umarmung von Antonia Schlottermotz frei und taumelte auf den Wagen zu.

»Das … das ist meine Familie! Ihr habt meine Familie gefunden?«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie Isabella erzählt hatten, was alles passiert war. Isabella konnte es nicht glauben! Die rote Henne war Winifred gewesen? Lavinia und Fridolin keine Geringeren als die Finsterfürsten? Und Justus ein Vampirjunge, der nicht nur Gulasch, sondern auch die Schurken geschrumpft hatte? Das war einfach zu viel des Guten.

Isabella musste sich in Papas großen weichen Sessel fallen lassen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Und meine Eltern und Charlotte …«

Polly lächelte. »Sie waren all die Jahre in dem alten Brunnen versteckt.«

»Die Grotte hat mir verraten, dass sie hier in Kalifornien sind«, ergänzte Winnie. »Aber bevor ich mehr erfahren konnte, haben die Schurken mir ein Federkleid verpasst.«

Stolz lächelte Polly ihren Vater an. »Aber Papa hat deine Familie gefunden!«

Cornelius Schlottermotz kicherte verlegen. »Winifred hat mich ja auch ganz schön über den Hof gejagt …«

Tante Winnie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich wollte ich mich nur zu erkennen geben. Wer hackt sonst so viel auf dir rum wie ich?« Sie gluckste heiser. »Aber du bist ja gleich wie eine tollwütige Knallerbse auf mich losgegangen!«

»Zum Glück!«, bekräftigte Mama und gab Papa einen dicken Kuss. »Sonst wärst du niemals in diesen alten Schacht gefallen, Cornelius! Und wir hätten womöglich noch lange im Dunkeln herumgestochert.«

Papa seufzte glücklich. So viel Lob auf einmal kannte er gar nicht!

Isabella blinzelte Polly dankbar an. »Du hattest recht, Polly! Auch wenn wir es vorher nicht gesehen haben: Alles ergibt jetzt auf einmal einen Sinn! Deswegen habe ich damals im Rahmen gespürt, dass ich bei dir an der richtigen Stelle gelandet bin. Nicht nur, weil du mich befreien konntest, sondern auch weil meine Familie hier in Kalifornien war. All die vielen Jahre …«

Dicke Tränen stiegen in ihre Augenwinkel, als ihr Blick durchs Fenster auf ihre versteinerte Familie fiel. Sie hatte ihre Eltern und ihre geliebte Zwillingsschwester endlich gefunden! Schluchzend schlang sie ihre Arme um Polly. »Wir müssen sie irgendwie zurückverwandeln. Hast du noch den Zahn der Zeit?«

Polly verzog das Gesicht. »Leider nein, den hat Winnie geschluckt …«

Isabella wischte sich tapfer die Tränen aus dem Gesicht. »Dann warten wir eben, bis der nächste Zahn ausfällt!«

»Ich fürchte, das wird uns nicht weiterhelfen …«, mischte sich Tante Winnie geknickt ein. Isabella und Polly sahen sie mit großen Augen an. Winnie seufzte. »Der Zahn muss geschluckt werden, um den Zauber wieder rückgängig zu machen, schon vergessen?«

Polly erkannte, worauf ihre Großtante hinauswollte. »Und Isabellas Familie ist versteinert. Sie können nichts schlucken …«

Winifred nickte. »Genau. Außerdem bräuchten wir mindestens drei Zähne, es sind ja auch drei Personen.«

Potzblitz! Das war richtig. So einfach würden sie dieses Problem nicht lösen können.

Isabella schniefte verunsichert. »Aber … wie können wir meine Familie dann retten?«

Tante Winnie zögerte einen Moment und stieß dann ein Stöhnen aus. »Wir müssen uns Hilfe holen.«

Polly ahnte, von wem ihre Tante sprach. »Die Siebenschläfer?«

Winifred nickte. »Ich würde gerne auf die Spaßbremsen verzichten, aber ich fürchte, wir kommen ohne sie nicht weiter. Auch wegen dieser Winzlinge da …« Sie deutete auf die kleinen Finsterfürsten, die im Marmeladenglas vor sich hinschmollten.

Polly ließ unglücklich die Schultern hängen. Winnie hatte recht: Sie brauchten die Hilfe der Siebenschläfer …