Während Tante Winnie mit Adlerauge loszog, um die selbst ernannte Vampirpolizei anzurufen, und Mama und Papa gemeinsam wegfuhren, um Lotti aus dem Kindergarten abzuholen, folgten Polly und Isabella Justus auf den Hof der Familie Rottlaus.
Justus holte den alten Schuhkarton aus seinem Zimmer und die drei Kinder setzten sich in den Schatten eines großen Apfelbaumes.
Als Justus den Deckel hob, huschte ein Strahlen über Pollys Gesicht. »Gulasch!« Tatsächlich! In diesem alten Pappkarton stand ihr geliebtes Pony! Justus hatte Löcher in den Deckel gebohrt und frisches Gras sowie einen Fingerhut mit Wasser hineingestellt, damit es dem kleinen Tier gut ging. Überglücklich nahm Polly Gulasch in die Hand und stupste ihn mit der Nasenspitze an. »Ich hab dich so vermisst!«
Auch Gulasch schien sich zu freuen, Polly zu sehen. Er wieherte aufgeregt und ließ zwei winzig kleine Pferdeäpfel in ihre Handfläche fallen.
Die Kinder lachten.
»Guck mal! Da ist ja auch die Leuchtturmtreppe!« Isabella deutete erstaunt in den Karton. »Und die Bohrmaschine deiner Mama. Und ihr Handy!«
Justus zuckte schuldbewusst mit den Schultern. »Ich hab immer alles eingesammelt, was ich geschrumpft habe. Aber wie hätte ich das denn erklären sollen? Ich hatte wirklich Angst, dass ich Ärger kriege …«
Plötzlich fiel Polly etwas ein. »Haben sich die Siebenschläfer denn gar nicht beschwert?«
»Siebenschläfer?« Justus hatte keinen blassen Schimmer, wovon Polly sprach.
»Sie schicken immer einen kleinen Blitz, wenn ein Vampir seine Zauberkraft missbraucht!«
Justus ging ein Licht auf. »Doch, da waren immer so komische Blitze. Aber ich hab mir nichts dabei gedacht. Ich dachte, das ist das Wetter hier an der Ostsee …«
Isabella runzelte die Stirn. »Und die Siebenschläfer haben dich noch nicht zur Prüfung eingeladen?«
Justus seufzte. »Meine Mama öffnet die Post nicht. Sie denkt, das sind alles unbezahlte Rechnungen von unseren Umzügen …«
Der volle Briefkasten, ja! Polly sprang auf und rannte zum Postkasten.
Sie zog einen Stapel Briefe aus dem Schlitz – und siehe da! Auf der Rückseite prangten die sieben großen Z!
Als sie Justus einen der Briefe brachte und er ihn öffnete, bestätigte sich der Verdacht. Die Siebenschläfer hatten ihn schon ein Dutzend Mal zur Prüfung bestellt!
Justus riss erschrocken die Augen auf. »Hier steht, dass ich bis zur Prüfung bei einem anderen Vampir lernen muss. Heißt das etwa, ich muss schon wieder umziehen?« Dieser Gedanke schien dem Nachbarsjungen gar nicht zu gefallen, und Polly konnte ihn gut verstehen.
Tröstend legte sie ihre Hand auf seine Schulter. »Erzähl uns doch erst mal, wie alles anfing.«
Justus seufzte. »Als mein Eckzahn ausgefallen ist, war da plötzlich dieser spitze neue Zahn. Und auf einmal hab ich so komisch gesprochen, genau wie du!« Er sah Polly hoffnungsvoll in die Augen.
Isabella blickte ihn irritiert an. »Aber du hast keinen Blutorangensaft getrunken, oder?«
Justus schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich hab mich daran erinnert, dass mein Vater früher auch manchmal merkwürdig geredet hat. Und er hat dann immer diese Bonbons gelutscht. Bevor er unsere Familie verlassen hat …« Justus ließ traurig den Kopf hängen.
Plötzlich verstand Polly! Die Bonbons waren aus Blutorangensaft gemacht und sie hatten dieselbe Wirkung wie der Saft: Sie bewahrten Justus vor dem gemeinen Vampirschwindel!
Justus strich sich unglücklich eine goldbraune Locke aus dem Gesicht. »Eine Zeit lang lief alles gut, aber dann hab ich auf einmal Sachen verschwinden lassen … Die Leute haben mich verdächtigt, ich würde klauen. Ich konnte ihnen ja schlecht sagen, dass ich alles nur geschrumpft habe. Deshalb ist meine Mutter mit uns umgezogen. Immer und immer wieder …« Justus seufzte. »Erst hier in Kalifornien hab ich verstanden, dass es genau dann passiert, wenn ich eins meiner Bonbons zerbeiße und runterschlucke. Aber als ich das erkannt habe, war es schon zu spät …«
Polly und Isabella wechselten einen Blick und grinsten. »Dann ist es jetzt wohl an der Zeit, das alles rückgängig zu machen.«
Überrascht hob Justus die Augenbrauen. »Und wie soll das funktionieren?«
»Ganz einfach!« Polly stupste ihn frech an. »Du musst irgendwas mit deinem Bonbon ausprobieren. Vielleicht zerbeißt du noch eins und berührst die winzigen Dinge ein weiteres Mal?«
Justus starrte die Mädchen ungläubig an. Dann kramte er hastig in seiner Hosentasche und holte eine Handvoll Bonbons heraus. Er machte, was Polly ihm vorgeschlagen hatte – aber nichts passierte. Geknickt ließ er die Schultern sinken. »Es klappt nicht …«
Da hatte Isabella plötzlich eine Idee. »Der Zauber wird ausgelöst, wenn du das Bonbon runterschluckst. Vielleicht wird er dann zurückgenommen, wenn du ein Bonbon ausspuckst!« Potzblitz! Das könnte klappen!
Zögerlich schob Justus sich ein weiteres Bonbon in den Mund. Doch anstatt es runterzuschlucken, spuckte er es aus und legte dabei seine Hand auf Gulasch. Ein kleiner Blitz zischte auf das Pony hinab. Als sich der Nebel lichtete, stand dort in der Mitte der Kinder: Gulasch! Und zwar in seiner vollen Größe!
Polly und Isabella stießen einen Freudenschrei aus und fielen dem verdutzten Pony um den Hals.
Justus konnte sein Glück kaum fassen! In Windeseile spuckte er ein Bonbon nach dem anderen aus und ließ all die Dinge, die er geschrumpft hatte, auf ihre ursprüngliche Größe wachsen.
Polly war überglücklich! Was war das nur für ein potzblitzverrückter Tag! Sie hatte nicht nur ihr geliebtes Pony zurück, nein! Auch Winnie und Adlerauge waren wieder da! Und als wäre das noch nicht genug, hatten sie sogar Isabellas Familie gefunden und aus den Händen der Schurken befreit!
Nicht nur Polly und Isabella, auch Winnie, Papa, Mama und Adlerauge fanden, dass dieser Tag nach einem großen Fest verlangte!
Mama schmückte mit Winnie und Adlerauge den Hof. Papa, dessen Windpocken sich vor lauter Schreck in Luft aufgelöst hatten, verzog sich mit Lotti in die Küche und zauberte die allerfeinsten Köstlichkeiten.
Kurz bevor die Mädchen die Lichterketten in der Einfahrt anschalteten, erwartete sie die nächste Überraschung: Paul und Greta fuhren im Auto von Pauls Mama Susanne auf den Hof! Polly hatte ihren Freund angerufen und ihm von all den aufregenden Geschehnissen berichtet. Und sie hatte ihm erzählt, dass Adlerauge seine Brille verloren hatte. Und weil Paul und Greta sich in Hamburg ohne Polly und Isabella ohnehin mächtig gelangweilt hatten, hatten die Freunde kurzerhand Pauls Mama überredet, sie für die letzten Ferientage nach Kalifornien zu fahren! Natürlich freuten Polly und Isabella sich riesig. Die Überraschung war geglückt!
Noch mehr freute sich allerdings Adlerauge, denn Paul hatte selbstverständlich eine neue Brille für ihn im Gepäck. Diese hier sah noch viel heldenhafter aus als die erste. Adlerauge war unfassbar stolz. »Roberta wird Augen machen, wenn sie mich so sieht!« Und weil er seine große Liebe wahnsinnig vermisste, verabschiedete er sich mit klopfendem Herzen von Polly und ihren Freunden und verschwand mit einem Looping in Richtung Hamburg. Polly, Paul, Greta und Isabella sahen ihm lächelnd hinterher.
Am frühen Abend kamen auch noch Leni und Justus mit seiner Mutter und Emmi vorbei. Papa umarmte die neuen Nachbarn übermütig und alle stießen mit einem Glas Blutorangensaft auf eine gute Nachbarschaft an! Lotti und die kleine Emmi schlossen einander sofort ins Herz. Gemeinsam zogen sie über den Hof und stellten eine Menge Unsinn an. Emmi zeigte Pollys kleiner Schwester, wie man große dicke Käfer fangen und damit Leute erschrecken konnte, und Lotti brachte ihr im Gegenzug die allertollsten Schimpfwörter bei.
»Krötenködel, Rotzrakete«, trällerte Lotti vergnügt vor, und Emmi stimmte sofort heiter mit ein. Papa verzog zwar leidvoll das Gesicht, sah aber davon ab, die beiden kleinen Frechdachse zu belehren. Dieser Tag war einfach viel zu besonders und wunderbar, um zu schimpfen. Es wurde ein potzblitzschöner Abend!
Nachdem die Kinder am Lagerfeuer Stockbrot gebacken hatten, überredeten sie ihre Eltern, heute Nacht im Stall schlafen zu dürfen. Immerhin wollten sie auf keinen Fall riskieren, dass gleich wieder eines der Ponys verschwand. Mama und Papa hatten nichts dagegen, genauso wenig wie Frau Rottlaus, Lenis Mutter und die Mama von Paul. Letztere fuhr ohnehin noch am späten Abend zurück nach Hamburg, weil sie am nächsten Morgen wieder arbeiten musste …
Die Kinder bauten sich im Stroh das allerfeinste Schlaflager. Dicht aneinandergekuschelt quatschten sie noch eine Weile, bevor sie alle selig einschlummerten.
Mitten in der Nacht wurde Polly wach. Erschrocken tastete sie zur Seite. Isabella war weg! Als ein heller Mondstrahl vor die Tür fiel, entdeckte Polly sie draußen im Hof. Sie saß bei ihrer versteinerten Familie und streichelte ungläubig das Gesicht ihrer Schwester. Mama hatte die Familie Zappenduster noch am Abend vom Kran gelassen, und nun standen die drei Steinfiguren vor der Werkstatt der Familie Schlottermotz. Vorsichtig setzte Polly sich zu Isabella und drückte ihre Hand.
Isabella wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Erst jetzt merke ich, wie sehr sie mir gefehlt haben. Sie sind so nah und doch so weit weg …«
Polly betrachtete sie voller Mitleid. »Alles wird gut, Isabella. Die Siebenschläfer haben sicher einen Rat, wie wir sie aus ihrem Steingefängnis befreien können.«
Isabella runzelte skeptisch die Stirn. »Aber wenn die Finsterfürsten sie versteinert haben, dann können nur sie diesen Zauber rückgängig machen. Und das würden sie niemals tun …« Isabella schluchzte. »Ich hab solche Angst, meine Familie wieder zu verlieren!«
Auch Polly stiegen Tränen in die Augen. Sie schlang ihre Arme fest um Isabella. Die Siebenschläfer mussten eine Lösung finden. Sie mussten, mussten, mussten! Hoffentlich konnten sie Isabellas Familie retten …