Noch vor den Siebenschläfern tuckerte am nächsten Morgen ein großes buntes Wohnmobil in den Hof der Familie Schlottermotz. Überall an seinen Seiten hingen Plakate, Balkone und farbenfrohe Kuckucksuhren.

Pollys Mama ließ vor Schreck ihre Kaffeetasse fallen.

»Die Theaterleute! Das sind die echten Theaterleute!« Und tatsächlich!

Kaum waren alle in den Hof hinausgelaufen, stiegen zwei fröhliche Herrschaften aus dem Wagen und tänzelten auf Mama zu. »Frau Schlottermotz! Wie schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen!« Die freundliche Frau schüttelte Mamas Hand.

»Ringelröschen«, stellte sich ihr langer glucksender Mann vor. »Ich bin Clemens Ringelröschen. Und das ist meine Frau Barbara! Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen?« Unsicher kratzte er sich am Kopf.

Mama aber lachte heiter los und umarmte die beiden Gäste überschwänglich.

»Nein, Sie kommen kein bisschen ungelegen! Die Leuchtturmtreppe ist gerade wieder aufgetaucht … ähm … fertig geworden! Und ich habe sogar noch eine Ersatztreppe für Sie angefertigt! Falls mal eine verloren gehen sollte!«

»Wie wunderbar!«, freute sich Barbara Ringelröschen und erwiderte Mamas Umarmung. »Ich wusste gleich, dass wir mit Ihnen die Richtige für diesen Job ausgewählt haben!«

Während die Theaterleute mit Mamas, Papas und Winnies Hilfe das Leuchtturm-Bühnenbild auf den Anhänger des Wohnmobils hievten, sattelten die Kinder Gulasch und Suppe und genossen einen herrlichen Vormittag am Meer.

Als Polly ihre Freunde betrachtete, seufzte sie vor Glück. Die Familie war das Allerwichtigste, ja, das stimmte. Aber genauso wichtig waren gute Freunde – und Polly hatte mit Justus sogar noch einen Freund dazugewonnen!

Erst als die Kinder gegen Mittag auf den Hof zurückritten, trübte sich die Stimmung.

Die Siebenschläfer waren eingetroffen. Sie hatten sich einen Kleinbus geliehen und sich etwa ein Dutzend Mal verfahren. Außerdem mussten die beiden Zwillinge Hugo und Egon Pepperdorn an jeder Raststätte auf die Toilette, sodass die Reise viel länger gedauerte hatte, als es Hubertus Glockenschuss lieb gewesen wäre.

Erleichtert rückte sich der Vorsitzende des Siebenschläferrates die Brille auf der Nase zurecht und musterte Justus. »So, so. Du bist also der junge Mann, der unsere Briefe ignoriert …«

Winifred rollte mit den Augen und klopfte dem alten Glockenschuss mächtig auf den Rücken. »Jetzt stell dich nicht so an, Hubertus. Seine Mutter dachte, eure Briefe wären Rechnungen. Ihr hättet ja auch einfach mal anrufen können, anstatt immer diese altmodischen Briefchen zu verschicken.«

Altmodische Briefchen? Hubertus Glockenschuss hob empört die Augenbrauen.

Doch bevor er noch etwas sagen konnte, schnappte Agathe Löffelstiel nach Luft. »Sind sie das?« Ungläubig deutete sie auf die versteinerten Figuren im Hof. »Ist das Familie Zappenduster?«

Winnie blies sich frech eine rote Locke aus der Stirn. »Nein, Agathe. Das ist nur eine Leihgabe aus dem Legoland.« Sie kicherte. »Mein Gott! Natürlich sind das die Zappendusters! Wer denn sonst?«

Agathe Löffelstiel rümpfte die Nase und bestrafte Winifred mit einem bösen Blick.

Unterdessen näherten sich die restlichen Siebenschläfer ehrfürchtig den Steinfiguren. Unglaublich! Nach all den Jahren war Familie Zappenduster wieder aufgetaucht! Rufus Reibeisen grummelte anerkennend und Hyazinthe Blumentopf ließ sich von Letizia Bodenbecken in die Pobacke kneifen, um sicherzustellen, dass sie nicht träumte.

Hubertus Glockenschuss räusperte sich und blinzelte Polly an. »Und … könnten wir auch die finsteren Winzlinge sehen?«

Die Winzlinge? Natürlich! Der alte Glockenschuss sprach von Lavinia und Fridolin, die noch immer im Marmeladenglas steckten. Polly und Isabella hatten sie gestern nach all der Aufregung im Brunnenschacht versteckt. Hier würden sie sicher niemandem in die Hände fallen oder Unheil stiften.

»Ich hol sie schnell!« Polly grinste und lief los. Sie hatte ein gutes Gefühl, ja. Sicher würden die Siebenschläfer eine Lösung finden, wie sie Isabellas Familie zum Leben erwecken konnten!

Doch als Polly den Boden des Brunnens erreichte, verflog ihre gute Laune. Das konnte doch nicht …! Nein, unmöglich! Polly rieb sich die Augen und tastete ein weiteres Mal. Potzblitz! Das Marmeladenglas war weg …

»Sie sind verschwunden!« Völlig außer Atem stolperte Polly zurück auf den Hof.

Alle Köpfe drehten sich gleichzeitig zu ihr um.

»Verschwunden?« Hubertus Glockenschuss riss erschrocken die Augen auf. »Was soll das heißen?«

Polly schnappte nach Luft. »Sie sind weg! Das ganze Glas. Ich hab alles abgesucht!«

Isabella runzelte besorgt die Stirn. »Und gibt es keine Spuren?«

»Doch.« Polly nickte geknickt. »Da sind Fußabdrücke auf der Lichtung. Aber sie sind ziemlich groß …«

Gemeinsam eilten alle zur Lichtung. Und tatsächlich: Rund um den Brunnenschacht waren riesige Fußspuren im feuchten Boden zu erkennen. Wer immer die winzigen Finsterfürsten weggebracht hatte, musste mächtig groß sein.

Hubertus Glockenschuss seufzte. »Das war der Warzentroll …«

»Der Warzentroll?« Hyazinthe Blumentopf drohte in Ohnmacht zu fallen.

Auch die anderen Siebenschläfer tauschten bedeutungsvolle Blicke und raunten auf.

Polly runzelte die Stirn. »Was ist ein Warzentroll?«

»Er ist ein alter Freund der Finsterfürsten«, erklärte Rufus Reibeisen.

»Und die Legende besagt, dass er seit zweihundert Jahren schläft«, fuhr Agathe Löffelstiel fort.

Letizia Bodenbecken stieß einen Klagelaut aus. »Aber jetzt ist er offenbar aufgewacht. Und hat die Winzlinge hier weggeschafft …«

Winifred, die bis jetzt still geblieben war, blies sich erneut eine Locke aus der Stirn. »Und was hat das zu bedeuten?«

Hubertus Glockenschuss blickte die anderen Siebenschläfer unsicher an. Als Agathe Löffelstiel ihm zunickte, ging er vor Isabella in die Hocke. »Ich weiß, das klingt furchtbar hart, aber du musst dich von deiner Familie verabschieden.«

Isabella riss erschrocken die Augen auf. »Nein!«

Der alte Glockenschuss ergriff ihre Hände. »Wir müssen sie fortbringen und verstecken, Isabella.«

Polly warf sich wütend dazwischen. »Aber das könnt ihr nicht machen! Ihr sollt Isabellas Familie befreien, deshalb haben wir euch hergerufen!«

Hubertus Glockenschuss seufzte. »Das werden wir auch tun – sobald wir wissen, wie es geht. Aber bis dahin müssen die Zappendusters gut versteckt werden. Hier sind sie nämlich nicht mehr sicher …«

Dicke Tränen schossen aus Isabellas Augen. »Niemals! Ich lasse meine Familie nicht noch mal gehen!« Dann riss sie sich los und rannte davon. Und Polly lief hinterher …