Isabella rannte und rannte, und wäre sie nicht über eine verwachsene Baumwurzel gestolpert, hätte Polly sie womöglich nie eingeholt. So aber warf Polly sich auf ihre weinende Freundin und umarmte sie, so fest sie konnte.

Auch Polly liefen dicke Tränen übers Gesicht. Das alles war so ungerecht, ja, so potzblitzgemein! Polly erinnerte sich noch genau daran, wie es sich anfühlte, seine Familie zu verlieren. Aber für Isabella war es noch schlimmer: Sie hatte ihre Familie nach zweihundert Jahren endlich wiedergefunden und sollte sie nun wieder gehen lassen.

»Wir finden einen Weg, sie zu befreien!«, versuchte Polly ihre Freundin zu trösten.

Aber Isabella ließ sich nicht beruhigen. »Du hast es selbst gehört! Nicht mal die Siebenschläfer wissen, wie man meine Familie retten könnte!« Sie schluchzte laut auf. »Wenn ich doch nur Zauberkräfte hätte! Aber nein! Meine Vampirzähne sind vollkommen nutzlos, ich bin nutzlos!« Sie ließ sich verzweifelt in Pollys Arme sinken. »Mein Vater hat mich in den Rahmen gerettet. Und was kann ich nun für ihn tun? Was kann ich für Charlotte und meine Mutter tun? Nichts!«

Isabella grub ihr nasses Gesicht in Pollys Schoß. Polly weinte mit ihr. Sie wusste, dass es keine Worte gab, die Isabella jetzt trösten konnten. Und deshalb hielt sie ihre Freundin einfach ganz, ganz fest.

Erst zwei Stunden später kamen Isabella und Polly zurück auf den Hof. Die beiden Theaterleute waren für einen Spaziergang an den Strand verschwunden. Währenddessen hatten die Siebenschläfer bereits einen Geheimtransport angeordnet, der die Steinfiguren an einen sicheren Ort bringen würde. Isabella sollte sich von ihrem Vater, ihrer Mutter und Charlotte verabschieden, aber stattdessen verschwand sie mit einem Knall in Pollys Zimmer. Der Reihe nach versuchten alle, Isabella zu überreden, wieder rauszukommen – aber sie weigerte sich!

Schließlich schlurfte Polly mit hängendem Kopf hinaus zu Hubertus Glockenschuss. »Sie kommt nicht …«

Der Vorsitzende des Siebenschläferrates seufzte. »Dann müssen wir sie ohne Abschied wegbringen. Wir haben nicht viel Zeit. Wer weiß, wo diese Schurken mittlerweile sind …« Glockenschuss gab den Fahrern des Lieferwagens ein Zeichen.

Gerade als sich die beiden kräftigen Kerle die Familie aus Stein auf die Rücken hieven wollten, platzte Isabella plötzlich doch noch aus dem Haus.

»HALT!« Auf wackeligen Beinen stand sie in der Haustür. Ihr Gesicht war vom vielen Weinen ganz rot und geschwollen. Polly schluckte. Arme Isabella … Vorsichtig setzte sie einen Schritt vor den anderen und ging auf ihre Familie zu. Alle machten den Weg frei für dieses kleine potzblitztapfere Mädchen.

Als Isabella direkt vor ihrer Familie stand, hielt sie inne und gab ihrer Mutter einen Kuss. »Ich hab dich lieb, Mama.« Dann fuhr sie ihrem Vater über die Wange. »Es tut mir so leid, dass ich nicht mehr für euch tun kann, Papa. Aber ich verspreche: Ich gebe nicht auf.« Zuletzt wandte sie sich an ihre Schwester. »Charlotte, ich …« Ihre Stimme versagte und wieder schossen dicke Tränen aus ihren Augen. Nicht nur ihre Freunde, nein, sogar Mama, Papa, Winnie und die Siebenschläfer kämpften mit den Tränen. Das hier war wirklich zu schrecklich! Isabella warf sich ihrer Schwester schluchzend um den Hals. »Ich vermisse dich so fürchterlich! Ohne dich bin ich nur halb!«

Aber was war das …? Durch ihren Tränenschleier entdeckte Polly plötzlich etwas kleines Leuchtendes. Ja, während Isabella die ausgestreckte Hand ihrer Schwester ergriff, glühte etwas auf Charlottes Zahn! Ein Glühwicht? Kündigte sich hier etwa eine neue Gefahr an?

Polly zögerte. »Da sitzt ein Glühwicht auf Charlottes Zahn!«

Alle Augenpaare richteten sich blitzschnell auf Isabellas Schwester.

Hubertus Glockenschuss hob ungläubig seine Brille und wischte sich die Tränen weg. »Nein, Polly. Das … das ist kein Glühwicht. Das ist ihr Vampirzahn, der leuchtet!«

Der Zahn? Aber was um Himmels willen hatte das zu bedeuten? Im nächsten Moment schon hörten sie das Knirschen. Konnte es etwa sein, dass …? Potzblitz, tatsächlich!

Während Isabella schluchzend die Hand ihrer Schwester umfasste, zeichneten sich Risse im Stein ab, und dann begannen auch Isabellas Vampirzähne zu glühen! Es schien ganz so, als ob … Natürlich! Plötzlich fiel es Polly wie Schuppen von den Augen. Charlotte hatte zwei Vampirzähne auf der rechten Seite, Isabella hatte zwei Zähne auf der linken Seite. Einzeln hatten sie zwar keine Zauberkraft – aber vereint waren sie potzblitzmächtig!

»Ihr brecht den Stein auf!«, rief Polly und deutete auf die Risse, die sich unermüdlich ausbreiteten.

Unter den ungläubigen Blicken der Siebenschläfer platzte der schwere Steinmantel der Familie Zappenduster. Isabella konnte nicht glauben, was hier gerade passierte. Niemand konnte das!

Es grummelte und grollte und ein dichter Nebel hüllte sich um die Familie aus Stein. Dann erhellte ein Blitz den Himmel und alle stolperten einen Schritt zurück.

Als sich der Nebel langsam lichtete, lagen sie auf dem staubigen Boden: Friedebald, Konstanze und Charlotte Zappenduster – schwach zwar und ein wenig verwirrt, aber unversehrt!

Graf Friedebald richtete sich ganz vorsichtig auf. »Isabella …?«

Isabella aber fand keine Worte. Mit einem überglücklichen Freudenschrei stürmte sie auf ihren Vater zu und fiel ihm um den Hals.

Graf Zappenduster blinzelte seine Tochter ungläubig an. »Du … du bist aus dem Rahmen gekommen. Und du hast uns befreit!«

Lachend fielen auch Charlotte und ihre Mutter in die Umarmung ein. Tränen schossen aus Isabellas Augen. Aber diesmal waren es keine Tränen der Verzweiflung, nein, es waren Freudentränen. Sie hatte ihre Familie gerettet! Nach zweihundert Jahren war Familie Zappenduster endlich wieder vereint.

Plötzlich brachen alle in Jubel aus. Mama wirbelte Papa durch die Luft, Winnie drückte dem ollen Glockenschuss einen Kuss auf die Wange, und Polly umarmte Justus! Der Bann war gebrochen! Isabellas Familie würde sich nicht länger verstecken. Sie waren frei!

Obwohl sie schon am Abend zuvor gefeiert hatten, gab es auch heute wieder ein prächtiges Fest! Ausgelassen sangen und tanzten alle miteinander. Clemens und Barbara Ringelröschen, die von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen hatten, gaben einen ersten Vorgeschmack auf ihr Theaterstück. In einer Woche schon würde es Premiere feiern – mit dem tollsten Leuchtturm der Welt!

Friedebald, Konstanze und Charlotte hingen stundenlang an Isabellas Lippen und ließen sich bis ins kleinste Detail berichten, was in den vergangenen zweihundert Jahren alles vorgefallen war. Sie waren unglaublich stolz auf ihre Tochter und schlangen ununterbrochen ihre Arme um sie.

Isabella war glücklich, oh ja, das konnte Polly sehen.

Auch für Justus gab es Grund zur Freude. Weil er außer Winnie und Polly keinen anderen Vampir kannte und seine Familie in Kalifornien ungern verlassen wollte, bot Hyazinthe Blumentopf an, ein paar Wochen an der See zu bleiben, um den Jungen auf die Siebenschläferprüfung vorzubereiten. Justus’ Schwester Emmi fiel ihr dankbar um den Hals.

»Nicht doch, nicht doch«, wiegelte Hyazinthe verlegen ab. »Ich wollte schon lange mal wieder Urlaub an der See machen. So kann ich das Schöne mit dem Nützlichen verbinden!«

Am nächsten Morgen herrschte Aufbruchsstimmung. Die Theaterleute hatten angeboten, die gesamte Festgesellschaft ein Stück mitzunehmen, immerhin fuhren sie auf ihrem Weg zur Premiere direkt an Hamburg vorbei.

Familie Zappenduster hatte beschlossen, mit Polly und Winnie zurück aufs Hausboot zu kommen. In Hamburg würden die Finsterfürsten sie nicht so leicht finden wie hier im kleinen Kalifornien. Außerdem gab es noch so viel zu erzählen!

Polly konnte es kaum abwarten, Isabellas Familie besser kennenzulernen. Und so verabschiedeten sich alle schweren Herzens von Mama, Papa, Lotti, Leni, den Ponys, Justus und seiner Familie und stiegen in das bunte Wohnmobil ein. Greta und Paul klemmten sich zu Polly ans Fenster, während der Wagen mit einem quakenden Kuckucksuhrenkonzert vom Hof fuhr.

Mama hatte ihren Arm um Papa gelegt, während Lotti Hand in Hand mit Emmi im Kreis tanzte. Seufzend sah Polly zu, wie ihre Familie am Horizont immer kleiner wurde. Irgendwann würde auch sie zu ihrer Familie zurückkehren, aber eben noch nicht jetzt. Jetzt galt es erst mal, ein paar weitere Abenteuer zu bestehen. Nachdenklich sah Polly zu Isabella und ihrer Familie, die glückselig auf dem großen Sofa lümmelten und sich die allertollsten Geschichten erzählten. Was waren das nur für potzblitzaufregende Ferien! Eigentlich wollten sie doch nur diese Grotte besuchen. Jetzt hatten sie Papa gesund gepflegt, eine Diebstahlserie aufgeklärt, Gulasch wiedergefunden, die Finsterfürsten geschrumpft und Isabellas Familie gerettet!

Polly hatte zwar zu Beginn der Ferien gehofft, dass es eine spannende Zeit werden würde, aber dass es so aufregend sein könnte, hätte sie sich in ihren wildesten Träumen nicht ausgemalt!

Hier saß sie nun also, inmitten ihrer Freunde Paul und Greta, ihrer trällernden Tante Winnie, den Siebenschläfern – und der Familie Zappenduster! Und plötzlich breitete sich ein Lächeln auf Pollys Gesicht aus. Vielleicht würden die Finsterfürsten wiederkommen und die Zappendusters suchen, ja, das war sogar sehr wahrscheinlich. Aber Polly hatte keine Angst, oh nein. Denn sie wusste: Solange sie mit ihren Freunden und ihrer Familie vereint war, würde sie jeden noch so fiesen Schurken besiegen. Und potzblitz! Dieses Wissen fühlte sich verdammt gut an …