Als Polly die Küche erreichte, hörte sie es auch: Da war tatsächlich ein Poltern in der Speisekammer!

Winifred, die an Isabellas Hand die Treppe hinuntertapste, runzelte die Stirn. »Heiliger Vogelschiss! Da veranstaltet aber jemand eine ganz schöne Rumpelei!«

Polly legte behutsam den Finger auf die Lippen. »Am besten, ihr geht unter dem Küchentisch in Deckung! Ich kümmere mich um den Poltergeist da drinnen …« Auf Zehenspitzen schlich sie sich an die Speisekammer heran und atmete tief durch. Potzblitz! Wer auch immer hinter dieser Tür steckte, machte Lärm wie ein entflammter Silvesterkracher! Polly musste schlucken. Konnte es wirklich sein, dass Isabella ein echtes Monster eingesperrt hatte? Eigentlich glaubte Polly kein bisschen an Monster. Aber an Vampire hatte sie schließlich auch nicht geglaubt – und jetzt war sie selber einer!

Es gab nur einen Weg, sich Gewissheit zu verschaffen: Polly musste die Tür öffnen und sich dem Raufbold gegenüberstellen! Entschlossen straffte sie die Schultern, kniff die Augen zusammen und führte die Hand zum Schlüssel, der außen in der Tür steckte.

»Schnall lieber deine Hosenträger enger, du Schurke!«, zischte Polly durch das Schlüsselloch. »Jetzt lernst du nämlich Polly Schlottermotz kennen. Und das wird sicher kein Vergnügen!«

Doch halt! Was war das? Als Polly den Schlüssel das erste Mal umdrehte, verstummte der Lärm plötzlich und ein schrilles Fiepen erklang.

»Polly? Bist du das?«

Überrascht hielt Polly inne und lauschte an der Tür. Sie kannte diese piepsige Stimme, ja! Das war doch …! »Adlerauge?«

»Polly! Ein Glück!« Adlerauge quietschte vor Aufregung. »Du musst mich re-he-heeeetten! Ich wurde von einem Ungeheuer verschlungen!«

Polly musste lachen. Kein Wunder, dass sie den kleinen Flatterwicht nicht gefunden hatte. Er saß in der Speisekammer fest und polterte herum wie ein Dinosaurier im Teestübchen!

Gerade wollte Polly den Schlüssel ein weiteres Mal drehen, da schoss plötzlich ein rotes Licht auf sie zu. Ein Glühwicht! Potzblitz! Die leuchtenden Brummer warnten Vampire vor drohenden Gefahren.

Auch Winifred hatte den blinkenden Wicht entdeckt. »Polly! Pass auf!«

Polly aber grinste frech und fegte den Brummer mit einem Handschlag von ihrem Gesicht weg. »Keine Panik, Winnie, das ist nur ein Fehlalarm. Da drinnen sitzt kein Monster, sondern Adlerauge!« Im nächsten Moment drehte sie den Schlüssel und riss fröhlich die Tür auf. Von Adlerauge aber war keine Spur, nein! Alles, was sie sah, war ein gigantischer Reisekoffer, der im obersten Fach lag und bedrohlich wackelte. Polly konnte gerade noch einen Schrei ausstoßen, bevor das riesige Gepäckstück vom Regal rutschte und mit einem gewaltigen Scheppern mitten auf ihrem Kopf landete …

»Alles okay, Polly?« Besorgt stürzte Isabella auf sie zu.

Winifred schnappte sich einen Kochlöffel und wedelte hektisch vor Pollys Gesicht herum. »Luft! Das Kind braucht frische Luft!«

Polly fasste sich an den schmerzenden Kopf und schob den Löffel beiseite. »Danke, Winnie. Aber ein Eisbeutel zum Kühlen wäre mir lieber …«

»Eisbeutel! Kommt sofort!« Winnie sprang auf und hastete die Kellertreppe hinab.

Isabella sah Polly mitleidig an. »Tut es sehr weh?«

»Ach was, das ist nur eine Kleinigkeit …« Polly lächelte tapfer, doch Isabella durchschaute sie sofort: Pollys Kopf tat schrecklich weh! Bevor sie aber noch etwas sagen konnte, polterte es schon wieder im großen Reisekoffer, der nun auf dem Küchenboden lag.

»Hey! Halloooooo? Adlerauge an Vampirmädchen: Könntet ihr mich endlich aus dem Schlund der Bestie befreien? Ich krieg nämlich langsam Migräääne!«

Polly beugte sich seufzend über den Koffer und ließ die Metallschnalle aufschnappen. Kaum hatte sie den schweren Kofferdeckel angehoben, schoss Adlerauge wie ein Pfeil aus der dunklen Höhle und heftete sich stürmisch an Pollys Hals.

»Du bist die Beste! Die Beste, Beste, Beste!« Im nächsten Moment aber hielt der kleine Flatterich verdutzt inne, schob sich die winzige Brille auf der Nasenspitze zurecht und blickte irritiert in die Speisekammer. »Wie sieht es denn hier aus?«

Und tatsächlich. Als Polly ihren Kopf zur Seite drehte, sah sie es auch: Der Koffer hatte bei seinem Sturzflug nicht nur sie selbst umgerissen, sondern auch sämtliche Regale in Winnies Vorratskammer zu Fall gebracht. Auf dem Fußboden glitzerten Tausende Scherben, an den Wänden klebte Winnies Kalksteinpaste und das allerfeinste Kleebeerengelee tropfte vom Türgriff direkt vor Pollys Füße. Am schlimmsten aber war die klebrige Brühe aus Blutorangensaft, die sich hinaus auf den Küchenboden schlängelte. Was für eine Schweinerei!

Isabella verzog das Gesicht. »Mist! Ich fürchte, das war unser gesamter Vorrat an Blutorangensaft …« Auch das noch! Polly schloss die Augen und stöhnte. Sie konnte Blutorangensaft kein bisschen ausstehen, aber wenn ein Vampir nicht täglich ein großes Glas davon trank, wurde ihm potzblitzschwindelig. Und zwar nicht nur in den Beinen, sondern auch auf der Zunge. Das konnte Polly nun wirklich nicht gebrauchen!

Zornig funkelte sie Adlerauge an. »Das ist alles deine Schuld!«

»Meine Schuld?« Der Fledermäuserich wackelte empört mit der Nasenspitze. »Was kann ich denn dafür, dass mich dieses Ungetüm verschluckt hat? Ich wollte mir nur ein passendes Gepäckstück suchen und ZACK! hat das Monster sein Maul zugemacht. Das war ein Hinterhalt, jawohl! Ein ganz hinterhältiger Hinterhalt!« Eingeschnappt schüttelte der Flatterich seine zerknitterten Flügel.

Polly runzelte die Stirn. »Und wofür braucht ein winziger Wicht wie du bitte so einen großen Koffer?«

»Na ja, also …« Adlerauge räusperte sich verlegen. »Ich wollte Roberta einpacken …«

Ungläubig starrte Polly ihren kleinen Freund an. »Du wolltest Roberta in einen Koffer packen?«

Roberta war eine Elefantendame aus dem Zoo, und Adlerauge hatte sich auf den ersten Blick in die graue Riesin verliebt, nachdem Paul ihm eine Brille aus Kontaktlinsen geschenkt hatte. Ohne diese Mini-Brille war der Fledermäuserich nämlich blind wie ein Maulwurf …

Als Isabella nun von Polly hörte, was Adlerauge vorhatte, kicherte sie los.

»Eine Elefantendame in einem Reisekoffer? Das ist wirklich witzig!«

Auch Polly konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Adlerauge stemmte entrüstet die Flügel in die Seiten. »Ihr habt gut Lachen. Aber denkt hier vielleicht mal einer an mich?« Seufzend ließ er sein Köpfchen hängen. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, von Roberta getrennt zu sein. Selbst wenn es nur ein paar Tage sind …«

Als Polly sah, wie geknickt Adlerauge war, tat es ihr plötzlich leid, dass sie gelacht hatte. Sie wusste, wie es sich anfühlte, wenn man von jemandem getrennt wurde, den man sehr lieb hatte. Auch Polly hatte sich schrecklich gefühlt, als sie damals ihr Zuhause an der Ostsee hatte verlassen müssen, um sich bei Tante Winnie auf die Vampirprüfung vorzubereiten. Und auch wenn sie hier in Hamburg mittlerweile eine Menge Freunde gefunden hatte, vermisste sie ihre Eltern, ihre kleine Schwester Lotti und ihre beste Freundin Leni noch immer sehr. Ganz zu schweigen von den Ponys Gulasch und Suppe, die zu Hause in Kalifornien auf der Koppel auf sie warteten.

Behutsam rückte Polly Adlerauges kleine Brille zurecht. »Der Koffer ist zwar groß, aber ich glaube trotzdem nicht, dass Roberta da hineinpasst … Und denk doch mal an die vielen Kinder im Zoo!«

»Die Kinder?« Adlerauge schniefte unsicher.

»Ja! Die bezahlen extra Eintritt, um Roberta zu bewundern. Ich glaube, sie wären ganz schön traurig, wenn die Elefantendame verreist wäre …« Polly wusste genau, dass Adlerauge es nicht ertragen könnte, die Kinder im Zoo unglücklich zu machen.

Und tatsächlich holte er nun tapfer Luft und straffte die Schultern. »Also gut, Roberta bleibt hier.« Schüchtern blinzelte er Polly an. »Kann ich mich wenigstens noch von ihr verabschieden?«

Polly blickte auf die Uhr. Eigentlich blieb für einen Ausflug in den Zoo keine Zeit. Andererseits tat ihr Adlerauge irgendwie leid … Sie seufzte. »Meinetwegen. Aber beeil dich! In anderthalb Stunden müssen wir am Bahnhof sein, sonst verpassen wir den Zug zur Grotte.«

Adlerauge stieß einen übermütigen Freudenschrei aus und flatterte beschwingt zum Fenster hinaus.

Polly sah ihm lächelnd hinterher. Doch als sie sich im nächsten Moment zu Isabella umdrehte, verflog ihr Lächeln wieder. Isabella starrte wie gebannt auf ein kleines mattes Teilchen auf dem Küchenboden.

»Polly! Siehst du, was ich sehe?«

Polly nickte betroffen. »Ich sehe eine ganze Menge Scherben, ja …«

Isabella schüttelte den Kopf. »Das da ist aber keine Scherbe.« Behutsam beugte sie sich hinunter und hob das Steinchen auf. »Das hier ist ein … Eckzahn!«

Ein Eckzahn? Unmöglich! Ungläubig fasste Polly sich an den Mund und zuckte erschrocken zusammen. Tatsächlich! Dort, wo bis eben noch ihr unterer Milcheckzahn gesessen hatte, klaffte jetzt eine Lücke. Potzblitz! Es stimmte also: Adlerauge hatte Polly einen Zahn ausgeschlagen …