Im nächsten Augenblick stolperte Winifred zurück in die Küche. »Einen Eisbeutel habe ich leider nicht gefunden, aber das hier!« Eifrig klatschte sie Polly eine gefrorene Frikadelle an die Stirn.

Polly verzog das Gesicht. »Ich soll mir meine Beule mit Hackfleisch kühlen?«

»Kein Hackfleisch, Polly! Du weißt doch, dass wir Vampire kein Fleisch essen.« Winnie grinste stolz. »Das hier ist die allerfeinste Gemüsefrikadelle! Selbst gemacht! Und sie ist höchstens … elf, zwölf Jahre alt. Schau doch: Die Erbse da ist fast noch lila!«

Isabella verzog das Gesicht und Polly hielt die Frikadelle weit von sich. Igittigitt!

Tante Winnie rollte mit den Augen und entriss Polly den kalten Gemüseklops. »Meinetwegen. Dann eben keine Kühlfrikadelle! Ich konnte ja nicht wissen, dass ihr so empfindlich seid …« Mit einem gekonnten Wurf katapultierte sie die steinharte Frikadelle durch das Küchenfenster ins Kanalwasser. Dann fiel ihr Blick auf das kleine weiße Steinchen in Isabellas Hand. »Heiliger Krötenschiss! Ist das etwa …?«

Polly ließ die Schultern hängen und nickte. »Ein Eckzahn, ja. Der Koffer hat ihn mir ausgeschlagen …«

Winifred klatschte begeistert in die Hände »Das ist ja wunderbar!«

Polly aber war sich nicht so sicher, ob das wirklich wunderbar war. Immerhin würde bestimmt bald ein neuer Vampirzahn in ihrem Mund auftauchen, und der brachte höchstwahrscheinlich eine neue Zauberkraft mit sich. Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin für eine neue Vampirkraft …«

Draußen im Flur begann das Telefon zu klingeln. Tante Winnie grinste Polly munter an. »Zauberkraft hin oder her: Du hast jetzt auf jeden Fall einen weiteren Zahn der Zeit! Pack ihn gut weg! Wer weiß, wann er dir noch mal nützlich ist.« Dann tänzelte sie hinaus zum Telefon.

Ein Zahn der Zeit war natürlich praktisch, keine Frage, immerhin konnte man damit den Zauber eines jeden Vampirs rückgängig machen. Nachdenklich nahm Polly ihren Milchzahn aus Isabellas Handfläche und schob ihn ganz tief in ihre Hosentasche hinein. Isabella bemerkte, dass Polly noch immer nicht begeistert war.

»Kopf hoch, Polly. Vielleicht bringt der neue Eckzahn ja gar keine Kraft mit sich. Und selbst wenn …« Isabella lächelte wehmütig. »Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn ich endlich eine Zauberkraft hätte.« Obwohl Isabella schon zwei Vampirzähne auf der linken Seite hatte, hatte sie bisher nicht eine einzige Zauberkraft. Das machte sie oft traurig.

Polly schluckte ihren Unmut hinunter und griff tröstend nach Isabellas Hand. »Du wirst schon noch eine Kraft bekommen, da bin ich mir sicher!« Aufmunternd zwinkerte sie ihr zu. »Aber jetzt fahren wir erst mal zu dieser Grotte und finden heraus, wo deine Familie steckt, okay?«

»Ich fürchte, daraus wird nichts …« Ohne dass sie es bemerkt hatten, war Tante Winnie in die Küche zurückgekehrt und sah die Mädchen betroffen an.

Polly und Isabella wechselten einen irritierten Blick. »Wie … wie meinst du das?«

Winifred seufzte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Am Telefon … Das war deine Mama, Polly.«

»Meine Mama?« Polly runzelte besorgt die Stirn. »Ist was passiert?«

Tante Winnie nickte geknickt. »Deine Mutter braucht dringend einen Babysitter.«

Isabella biss sich auf die Lippen. »Einen Babysitter für die kleine Lotti?«

»Nein, viel schlimmer.« Missmutig blies sich Winifred eine Locke aus der Stirn. »Sie braucht einen Babysitter für … Cornelius!«

Eine halbe Stunde später schoben sich Polly und Isabella durch das dichte Gedränge in der Bahnhofshalle.

»Windpocken! Dass Papa ausgerechnet jetzt die Windpocken kriegen muss!« Verärgert presste Polly die Flaschen mit dem Blutorangensaft an sich, die sie eben in dem Supermarkt im Obergeschoss gekauft hatten. Isabella stieß sie vorsichtig mit dem Ellenbogen an.

»Ärger dich nicht zu sehr, sonst platzen noch die Flaschen in deiner Hand. Für einen weiteren Supermarktbesuch haben wir keine Zeit mehr.«

Polly blickte auf die große Bahnhofsuhr. Isabella hatte recht. Ihr Zug nach Kiel würde bereits in zehn Minuten abfahren. Wenn sie keinen fiesen Vampirschwindel riskieren wollte, musste sie gut auf die Saftflaschen aufpassen … Und trotzdem konnte Polly es sich nicht verkneifen, ein ganz klein bisschen wütend zu sein. Was war das nur für ein potzblitzblöder Tag? Erst die Suche nach Adlerauge, dann der ausgeschlagene Eckzahn – und zu guter Letzt auch noch der Anruf von Mama! Polly ärgerte sich, dass der erste Ferientag so eine unglückliche Wendung genommen hatte …

Isabella jedoch schien die Planänderung erstaunlich gut zu verkraften. Obwohl es um die Rettung ihrer Familie ging, hatte sie Polly nach dem Anruf von Antonia Schlottermotz tröstend den Arm um die Schultern gelegt.

»Ist schon gut, Polly. Wenn deine Mama unsere Hilfe braucht, sollten wir nach Kalifornien fahren. Du weißt doch: Nichts ist wichtiger als die Familie!«

Polly hatte betroffen den Kopf hängen lassen. »Aber wir wollten deine Familie retten! Darum ging es doch bei der Reise zur Grotte des Vergessens!«

»Wir fahren einfach in den nächsten Ferien zur Grotte!«, hatte Isabella erwidert. »Meine Familie ist seit zweihundert Jahren versteinert, da kommt es jetzt auf ein paar Wochen auch nicht mehr an.« Dann hatte sie ihre Mundwinkel zu einem breiten Grinsen auseinandergezogen. »Außerdem wollte ich schon immer mal Urlaub auf einem Ponyhof machen!«

Polly bewunderte Isabella dafür, dass sie in allem etwas Gutes sah. Selbst jetzt, mitten im dichtesten Bahnhofsgedrängel, schien sie etwas Lustiges entdeckt zu haben. Grinsend nickte sie in Richtung der großen Anzeigetafel.

»Da ist ja unser blinder Passagier.«

Verwundert blickte Polly in die Höhe und sah, was Isabella meinte: Adlerauge! Wie ein aufgescheuchter Glühwicht flatterte er vor der Anzeigetafel herum und versuchte zu entziffern, von welchem Gleis der Zug zur Grotte fuhr. Da er aber noch immer nicht besonders gut lesen konnte und sich die Anzeige jede Minute änderte, hatte er große Mühe, den Überblick zu behalten. Polly musste lachen. »Dieser Passagier ist wirklich blind!« Dann stieß sie einen schrillen Pfiff durch ihre Schneidezähne.

Adlerauge zuckte in der Höhe zusammen und vergaß vor Schreck, mit den Flügeln zu flattern. Quiekend stürzte er in den Pelzkragen einer Dame ab, die unterhalb der Anzeigetafel stand und sich den pinken Lippenstift nachzog. Als sie das Ergebnis in einem Schaufensterspiegel betrachten wollte, entdeckte sie den zappelnden Fledermäuserich in ihrem Nacken und stieß einen hysterischen Schrei aus!

»EINE RATTE! DA SITZT EINE RATTE AUF MEINEM KOPF!«

Nur mit Müh und Not konnte Adlerauge den langen, spitzen Fingernägeln entgehen, die im Pelz herumstocherten. Taumelnd stürzte sich der kleine Wicht aus dem Kragen in die Tiefe und flatterte zwischen den gehetzten Menschenbeinen hindurch. Dann endlich erreichte er die beiden Vampirmädchen und schlüpfte erleichtert in Pollys Jackentasche.

»Eine Ratte? Ich darf doch sehr bitten!« Entrüstet steckte Adlerauge sein feuchtes Näschen aus der Tasche und blickte zur schreienden Lippenstiftdame hinüber. »Ich bin ein Fledermäuserich – noch dazu ein besonders stattliches Exemplar! Und wenn diese Kreischhenne das nicht erkennt, braucht sie wohl dringender eine Brille als ich!«

Polly musste kichern und drängte sich an Isabellas Seite die Rolltreppe zu Gleis 8 hinab. »Du hast recht, Adlerauge. Jeder Blindfisch erkennt, dass du eigentlich ein Löwe im Gewand einer Fledermaus bist …«

Skeptisch blinzelte der kleine Flatterwicht seine Freundin an. »Machst du dich etwa über mich lustig? Ich erkenne so was, oh ja! Mit meinen höchstpersönlichen Adleraugen!«

Polly grinste und ließ ihren Blick über den Bahnsteig schweifen. »Nutz deine tollen Adleraugen lieber, um Tante Winnie zu finden.« Hunderte Menschen tummelten sich am Gleis. Sie trugen riesige Rucksäcke und zogen schwere Koffer oder quengelnde Kinder hinter sich her. Die Ostsee war offenbar ein sehr beliebtes Ferienziel. Polly seufzte. Wie sollten sie Winnie in diesem Gewühl nur finden …?