»Dahinten! Dahinten ist sie!« Isabella nickte aufgeregt über den Bahnsteig hinweg. Tatsächlich! Ganz hinten, am anderen Ende von Gleis 8, hüpfte Tante Winnie auf und ab und ließ ihre wilden Locken zwischen den Reisegästen hindurchtanzen.
Adlerauge hatte unterdessen eine Kleinigkeit bemerkt. »Aber … das ist das falsche Gleis! Dieser Zug hier fährt nach K-I-E-L. Nach Kiel. Und da wollen wir doch gar nicht hin!« Neugierig versuchte er aus Pollys Jackentasche zu klettern, doch Polly drückte ihn sanft mit dem Ellenbogen zurück.
»Es gab eine kleine Planänderung.« Mühsam folgte sie Isabella mit den Saftflaschen durchs Gedränge.
Adlerauge runzelte die Stirn. »Was denn für eine Planänderung?«
Polly atmete tief durch. »Papa hat Windpocken. Und Mama braucht dringend jemanden, der sich um ihn kümmert. Sie hat nämlich einen wichtigen Auftrag und letzte Nacht ist ein Teil des Bühnenbildes verschwunden.«
»Verschwunden?« Adlerauge hielt erschrocken die Luft an. »Du meinst … es wurde gestohlen?«
Polly zuckte mit den Schultern. »Alles, was ich weiß, ist, dass Mama alle Hände voll zu tun hat und Papa … na ja, du kennst ihn ja.« Sie seufzte. »Wir fahren also nach Hause und greifen Mama unter die Arme. Sonst bindet sie Papa am Ende noch auf einem Floß fest und setzt ihn auf der Ostsee aus.«
Adlerauge gluckste amüsiert. »Papa Schlottermotz auf einem Ostseefloß, das ist wirklich witzig. Vielleicht wird er dann ja doch noch ein waschechter Pirat!«
Polly allerdings war nicht zum Lachen zumute. Sie hatte sich diese Ferien ganz anders vorgestellt. Potzblitz! Es würde sicher kein Kinderspiel werden, ihren Vater eine Woche lang zu pflegen und zu beschäftigen, immerhin war Cornelius Schlottermotz ein Mann, der erstklassig leiden konnte. Der einzige Trost war, dass Polly Leni wiedersehen würde. Und natürlich ihre Ponys Gulasch und Suppe!
Hoch konzentriert schlängelten sich Isabella und Polly durch das Labyrinth aus Reisenden und duckten sich unter unzähligen schweren Rucksäcken hindurch. Schon bevor sie Tante Winnie erreichten, hörte Polly ihr fürchterliches Wanderlied. »… oder Tante Winnie fragen, die kennt immer einen Trick, die kennt immer einen Triiiiiiiiick!« Am liebsten hätte Polly sich die Ohren zugehalten, doch sie brauchte ihre Hände, um den Blutorangensaft nicht fallen zu lassen.
Als Winifred die beiden Mädchen entdeckte, hüpfte sie heiter auf sie zu und wedelte mit den Fahrkarten. »Der Zug ist restlos ausgebucht, aber heut ist unser Glückstag: Ich habe gerade noch die letzten zwei Tickets ergattert!«
»Zwei Tickets?« Isabella runzelte die Stirn. »Aber wir sind doch zu dritt.«
Winifred grinste. »Nicht, wenn ihr beide alleine nach Kalifornien fahrt.«
»Was?« Ungläubig sah Polly ihre Großtante an.
Winnie stupste ihr frech an die Nasenspitze. »Es heißt wie bitte, junge Dame.« Sie kicherte. »Gewöhn dich lieber schon mal daran, immerhin verbringst du die nächsten Tage mit deinem humorlosen Vater.«
Auch Isabella musste lachen. In der Tat legte Cornelius Schlottermotz viel Wert auf gepflegte Umgangsformen. Und dennoch fand Polly das alles kein bisschen witzig.
»Du kannst uns nicht einfach alleine fahren lassen! Wie stellst du dir das denn vor? Wir kümmern uns um Papa und du kochst zu Hause Kleebeerengelee?«
Winifred rieb sich den Ellenbogen. »Wer sagt denn, dass ich zu Hause bleibe …?« Polly und Isabella löcherten sie mit einem verständnislosen Blick. »Na ja, also …« Winnie biss sich kleinlaut auf die Lippe. »Wir haben ja immer noch die Fahrkarten zur Grotte und ich dachte mir …«
»Du willst alleine zur Grotte des Vergessens reisen?« Isabella fiel ihr überrascht ins Wort.
Winifred zuckte mit den Schultern. »Einen Versuch ist es wert, oder? Die nächsten Ferien sind erst in drei Monaten. Vielleicht verrät mir die Grotte ja auch ohne dich das Geheimnis, wo deine Familie ist.« Entschlossen verschränkte sie die dünnen Ärmchen vor der Brust. »Außerdem halte ich es keine zwei Tage an der Seite deines Vaters aus, Polly, das weißt du doch. Glaub mir, er wird viel schneller gesund, wenn ich nicht mit einem Schimpfwörter-Schluckauf hinter ihm herjage!«
Damit hatte Winnie sicherlich recht. Papa war ein sehr empfindsamer Mann, und der Schimpfwörter-Spuk, mit dem Winifred ihr Gegenüber verzaubern konnte, brachte ihn regelmäßig an den Rand der Verzweiflung.
Und trotzdem war Polly sich nicht sicher, ob sie den Plan ihrer Großtante wirklich gutheißen sollte. Eigentlich wollten sie dieses Abenteuer doch gemeinsam bestehen. Was, wenn Tante Winnie sich unterwegs verfuhr, zum entscheidenden Zeitpunkt die falschen Fragen stellte oder die anderen Grottenbesucher mit ihrem fürchterlichen Gesang vergraulte? Nein, sie sollten diese potzblitzwichtige Reise zu dritt unternehmen! Auf der anderen Seite … Was hatten sie schon zu verlieren? Vielleicht würde Winnie ja tatsächlich einen Hinweis erhalten, einen Hinweis, der die Suche nach Isabellas Familie beschleunigte …
Ratlos blickte Polly zu Isabella. Auch die schien zunächst zu zögern, dann aber schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. »Ich finde, das ist eine wunderbare Idee, Winnie. So können wir Pollys Mama helfen und trotzdem nach meiner Familie suchen. Also … nur wenn du das Angebot wirklich ernst meinst natürlich.«
»Und ob ich es ernst meine!« Winifred klatschte begeistert in die Hände, da blies der Schaffner in seine Trillerpfeife. »Euer Zug fährt ab!« Vergnügt nahm Tante Winnie den Mädchen die Saftflaschen ab und stopfte sie in einen alten Jutebeutel, den sie Polly über die Schulter hängte. »Das wird wunderbar! Ein großes Abenteuer! Grüßt mir Papa Windpöckchen und …«
»Nicht so schnell!« Polly blickte ihre Großtante forschend an. »Isabella und ich steigen nur allein in diesen Zug, wenn du ein paar Bedingungen erfüllst!«
»Bedingungen? Was denn für Bedingungen?« Winifred legte überrascht den Kopf schief.
Polly prüfte sie mit einem strengen Blick. »Du rufst an, sobald du aus der Grotte raus bist!«
»Anrufen?« Verwundert blies Winnie sich eine Locke aus der Stirn. »Aber ich hab doch gar kein Handy.«
»Dann suchst du dir eben ein Münztelefon.«
Die Trillerpfeife ertönte zum zweiten Mal. Tante Winnie zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Ich ruf euch an. Jetzt müsst ihr aber dringend einsteigen, sonst …«
»Ich bin noch nicht fertig!« Entschlossen verschränkte Polly die Arme vor der Brust. »Wir steigen nur in diesen Zug, wenn wir in Zweierteams reisen.«
»Zweierteams?« Jetzt konnte auch Isabella nicht mehr folgen. »Aber wie soll man denn drei Leute in Zweierteams einteilen?«
»Wer sagt, dass wir nur zu dritt sind?« Polly grinste und zupfte Adlerauge aus ihrer Jackentasche.
Tante Winnie riss überrascht die Augen auf. »Oh nein! Nein, nein, nein! Du denkst doch nicht etwa, dass ich diesen quiekenden Putzlappen mitnehme?«
Auch Adlerauge wand sich empört zwischen Pollys Fingerspitzen. »Das kannst du gleich vergessen, Polly! Ich gehe nicht mit der rothaarigen Drahtbürste mit, nie und nimmer nicht!«
Polly musste kichern. Zum Glück verstand Tante Winnie nicht, was Adlerauge sagte, sonst hätte sie ihm garantiert einen handfesten Schimpfwörter-Schluckauf verpasst. Im nächsten Moment aber pfiff der Schaffner ein drittes Mal. Polly seufzte und blickte Winnie und Adlerauge eindringlich an.
»Bitte! Es würde mir viel bedeuten, wenn ihr gemeinsam reist. Selbst wenn du Adlerauge nicht verstehst, Winnie: Solange ihr zu zweit seid, muss ich mir keine Sorgen machen und kann mich ganz auf Papa konzentrieren.«
Tante Winnie verdrehte die Augen und zuckte schließlich mit den Schultern. »Ist gut, ich nehm den Wicht mit. Dann hab ich wenigstens einen Lappen zur Hand, mit dem ich meine Wanderschuhe polieren kann …«
Adlerauge ließ seufzend die Flügel hängen. »Dafür schuldest du mir einen Gefallen, Polly, einen riesengroßen Gefallen! Und wehe, deine verrückte Tante attackiert mich unterwegs mit ihrem Haarspray!«
Dankbar setzte Polly Adlerauge auf Winnies Schulter ab und ergriff Isabellas Hand. Gemeinsam sprangen die beiden Mädchen die Zugtreppe hinauf. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Moment schlossen sich die Türen hinter den Freundinnen und die Bahn setzte sich mit kreischenden Rädern in Bewegung.
Isabella sah aufgeregt zu, wie der Zug aus dem Bahnhof rollte und Adlerauge und Winnie mit jedem Meter kleiner wurden. Glücklich lächelte sie Polly an. »Du wirst sehen, mit Winnies Hilfe schaffen wir beides: Wir helfen deiner Mama und sie findet meine Familie!«
Polly nickte. Und dennoch fiel es ihr schwer zu lächeln, ja, denn auf einmal hatte sie ein ungutes Gefühl. Es war das potzblitzblöde Gefühl, dass sie Winnie und Adlerauge nicht so bald wiedersehen würde …