Als Polly und Isabella in Kiel aus dem Zug stiegen, tummelten sich auch hier unzählige Reisende. Nur von Mama fehlte jede Spur. Verwundert warf Polly sich den Beutel mit den Saftflaschen über die Schulter. »Merkwürdig. Sie hat doch gesagt, sie holt uns am Gleis ab.«

Isabella griff sich ihren Rucksack. »Hier ist ganz schön was los …«

Unsicher schoben sich die Mädchen durch das Gedränge in Richtung Kiosk, da sah Polly plötzlich etwas langes Glänzendes über den Köpfen der Menschen aufblitzen. Aber das war doch …! Potzblitz, ja! Es war eine riesige Bohrmaschine – und sie sah mächtig gefährlich aus. Die Urlauber auf dem Bahnsteig sprangen kreischend auseinander. Polly schüttelte ungläubig den Kopf, als sie sah, wer sich nun durch die aufgescheuchte Menge drängte. »Mama?«

»Na also! Geht doch!«, schimpfte Antonia Schlottermotz und schob sich hastig durchs Gewühl. »Muss man denn immer erst einen Superbohrer auspacken, um sich ein wenig Gehör zu verschaffen?« Dann fiel ihr Blick auf Polly und Isabella. Erleichtert ließ sie das schwere Werkzeug auf den Boden gleiten und rannte auf die Mädchen zu.

Polly fiel ihrer Mutter lachend um den Hals und Mama drückte sie so fest an sich, dass ihr die Luft wegblieb. Als Nächstes hob sie Isabella in die Luft und wirbelte sie im Kreis herum, bis das Mädchen vor Vergnügen gluckste.

Polly deutete kichernd auf den gewaltigen Bohrer am Boden. »Mit so einem Ding wird man sonst nur in einem Horrorfilm begrüßt!«

Mama schnappte sich das gigantische Gerät. »Tut mir leid. Ich hatte das alles ganz anders geplant, ehrlich.« Sie seufzte und griff sich die Rucksäcke der Mädchen. »Eigentlich hatte ich vor, die Ponys mitzubringen. Aber als ich Gulasch auf die Rückbank von Papas Wagen schieben wollte, hat er vor Aufregung einen dicken, stinkenden Pferdeapfel verloren – mitten auf Papas neue Sitzbezüge!«

Isabella prustete los. »Du hast versucht, die Ponys in ein Auto zu quetschen?«

»Ich wollte euch eben eine Freude machen …« Mama zuckte unschuldig mit den Schultern. »Leider lief die Sache beschissen, im wahrsten Sinne des Wortes! Sagt es bitte nicht Cornelius, ihr wisst ja, wie empfindlich er ist.« Mit schnellen Schritten marschierte sie in Richtung Parkplatz. Grinsend stolperten die Freundinnen hinter ihr her.

»Das erklärt aber noch lange nicht, warum du uns stattdessen mit einem Gruselbohrer abholst.«

»Das ist der Turbo3000, Polly, der König unter den Bohrmaschinen!«, erklärte Mama stolz. »Und ich hab das Prachtstück nur dabei, weil ich es eben erst im Baumarkt gekauft habe.« Energisch riss sie die Kofferraumklappe von Papas Wagen auf. »Ich hätte das Ding ja gerne im Auto gelassen, aber ich wollte nicht riskieren, dass es mir in der Zwischenzeit geklaut wird. Ich brauch den Bohrer nämlich dringend für die weitere Arbeit am Bühnenbild.«

Isabella runzelte verwundert die Stirn. »Wer sollte denn bitte eine riesig große Bohrmaschine stehlen?«

Antonia Schlottermotz ließ erschöpft die Schultern hängen. »Keine Ahnung, Schätzchen. Frag das den Schuft, der mir meinen alten Bohrer aus der Werkstatt geklaut hat …«

Nachdem sie das Gepäck im Kofferraum verstaut hatten, steuerte Mama Papas Klapperkiste aus Kiel hinaus. Obwohl Antonia Schlottermotz die Sitzbezüge abgezogen hatte, lag der Geruch von Pferdeäpfeln noch immer in der Luft.

»Im Moment geht alles drunter und drüber«, entschuldigte sich Mama geknickt. Im Rückspiegel konnte Polly sehen, wie erschöpft ihre Mutter war. Unter ihren müden Augen lagen dunkle Schatten und das Haar hing ihr in strähnigen Locken ins Gesicht. Potzblitz! So hatte Polly ihre Mutter noch nie erlebt. Eigentlich war Antonia Schlottermotz eine Frau, die alles mit links schaffte. In ihrer Werkstattscheune baute sie die abenteuerlichsten Bühnenbilder für große Theaterstücke, versorgte nebenbei Lotti und die beiden Ponys und kümmerte sich darum, dass der Hof nicht auseinanderfiel. Jetzt aber schien sie wirklich dringend Hilfe zu brauchen.

Mitleidig legte Polly ihr von hinten die Hand auf die Schulter. »Seit wann ist Papa denn krank?«

Mama stieß ein bekümmertes Seufzen aus. »Vor drei Wochen hatte Lotti Windpocken. Sie hat es gut weggesteckt und ist mittlerweile wieder gesund. Ich dachte, wir hätten es überstanden, aber dann, vor drei Tagen …« Erschöpft ließ sie die Schultern hängen. »Es war nur ein einzelnes, winziges Pünktchen auf der Stirn deines Vaters, aber er hat gejammert, als hätte ihm jemand eine Gabel zwischen die Augen gerammt!« Mama holte tief Luft. »Mittlerweile sieht Cornelius aus wie ein Streuselkuchen. Er kratzt sich den ganzen Tag und jault wie ein Werwolf bei Vollmond! Der Doktor hat gesagt, er darf zwei Wochen nicht arbeiten. Zwei Wochen mit deinem Vater zu Hause, Polly! Das halt ich nicht durch!« Entschlossen trat Mama aufs Gaspedal und überholte einen Lieferwagen, der für ihren Geschmack viel zu langsam fuhr.

Polly grinste. »Jetzt übertreibst du aber, Mama. So schlimm ist Papa nun auch nicht.«

»Schlimmer, mein Schatz! Viel, viel schlimmer!« Antonia Schlottermotz musste scharf bremsen, weil ein Traktor aus einer Hofeinfahrt tuckerte. »Dein Vater macht mich wahnsinnig! Bis Ende der Woche muss ich das Bühnenbild für ein Wandertheater fertigstellen. Es handelt sich um einen riesigen Leuchtturm. Ich lag gut in der Zeit, aber dann ist heute Nacht plötzlich die Leuchtturmtreppe verschwunden! Zack, futsch, weg!«

Isabella verzog irritiert das Gesicht. »Eine Treppe kann doch nicht einfach so verschwinden.«

Wütend hupte Mama den Traktor an, der gemächlich vor ihr herschlich. »Das ist es ja! In den letzten Tagen verschwinden ständig Dinge. Erst der Bohrer, dann die Leuchtturmtreppe …« Verschwörerisch kniff sie die Augen zusammen und blickte Polly an. »Ich wette, dass dein Vater etwas damit zu tun hat!«

Polly prustete los. »Du meinst, Papa hätte den Bohrer und die Treppe gestohlen?«

Ertappt sah Mama die kichernden Mädchen an. »Gestohlen nicht, nein. Aber vielleicht hat er sie ja irgendwo … versteckt! Oder verbummelt? Fakt ist jedenfalls, dass ich jetzt die ganze Treppe neu machen muss. Und diese Theaterleute kommen schon in drei Tagen auf den Hof! Was meint ihr wohl, was die zu einem Leuchtturm ohne Treppe sagen?« Entschlossen erhöhte Antonia Schlottermotz das Tempo und zog mit Karacho am Traktor vorbei. Isabella drückte sich besorgt in den Rücksitz.

Polly dachte nach. Ihre Mutter schien wirklich ziemlich verzweifelt zu sein …

»Hast du Papa schon mal auf die verschwundenen Sachen angesprochen?«

Mama nickte und verdrehte die Augen. »Natürlich! Aber er streitet alles ab. Er meint, das wären diese Leute vom Rottlaus-Hof nebenan.«

Erschrocken riss Polly die Augen auf. »Der alte Rottlaus ist wieder da?«

Isabella blinzelte erstaunt. »Ist das nicht der Schuft, der den Stall von Gulasch und Suppe angezündet hat?«

Ja, das war er! Und der Gedanke, dass dieser potzblitzgemeine Schurke wieder zurück war, gefiel Polly gar nicht.

Mama aber schüttelte bereits heftig den Kopf. »Keine Sorge, Horst Rottlaus sitzt noch im Gefängnis. Aber seine Nichte ist vor zwei Wochen mit ihren beiden Kindern auf den Hof gezogen und …«

Weiter kam Mama leider nicht, denn plötzlich ging ein fürchterlicher Ruck durch Papas Wagen. Die Räder polterten und die Sitze ruckelten, als würden sie über eine Piste aus Knallerbsen düsen. Schnell lenkte Mama das Auto an den Straßenrand und sprang zur Tür hinaus. Auch Isabella und Polly purzelten aus dem Wagen und betrachteten den Schlamassel: Ein Reifen war geplatzt!

Mama stöhnte. »Das hat mir grade noch gefehlt.«

Polly musste sich ein Lachen verkneifen. »Eigentlich kein Wunder, dass so was passiert, Mama. So, wie du fährst …«

Empört stemmte Antonia Schlottermotz die Hände in die Hüften. »Na hör mal, Fräulein Neunmalklug! Du bist hier, um mir Papa vom Hals zu halten und nicht, um mir genauso schlaue Tipps zu geben wie er!« Dann zwinkerte sie Isabella zu, schnappte sich die neue Bohrmaschine aus dem Kofferraum und marschierte schnurstracks in das gelb leuchtende Rapsfeld am Straßenrand hinein.

Isabella blickte ihr irritiert hinterher. »Wo willst du denn jetzt hin?«

Mama stampfte heiter weiter. »Bis nach Hause ist es nicht mehr weit. Ich nehm die Abkürzung durchs Feld.« Sie hob den Bohrer in die Höhe. »Ihr wisst ja: Ich hab furchtbar viel zu tun!«

Polly war sprachlos. »Aber … willst du nicht erst den Reifen wechseln?«

Energisch schüttelte Mama den Kopf. »Geht nicht. Der Ersatzreifen ist nämlich schon letzte Woche geplatzt. Polly, sei bitte so lieb und trag den Wagen nach Hause, dann kümmere ich mich heut Abend um das Problem.«

Isabella musste schlucken. »Polly soll das Auto nach Hause tragen?«

Grinsend zuckte Mama mit den Schultern. »Sie ist superstark, schon vergessen?«

»Aber nur wenn ich wütend bin!« Polly sah ihrer Mutter ratlos nach, doch im nächsten Moment ertönte ein schriller Schrei aus der Ferne. Das war Papa, kein Zweifel! Obwohl Mama schon einige Meter entfernt war, konnte Polly erkennen, wie sie mit den Augen rollte.

»Dein Vater. Wahrscheinlich hat er wieder eine klitzekleine Spinne entdeckt und meint, sie würde ihm den Arm abbeißen.« Dann drehte sich Antonia Schlottermotz um und verschwand im glühenden Rapsfeld.

Und langsam, ja, ganz langsam dämmerte Polly, dass die Reise nach Kalifornien vielleicht doch ein größeres Abenteuer werden würde, als sie vermutet hatte …