Edith Goodnough ist nicht mehr auf dem Land. Sie liegt jetzt im Krankenhaus der Stadt, in diesem weißen Bett, mit einer Nadel im Handrücken und einem Mann, der auf dem Gang vor ihrem Zimmer Wache hält. Diese Woche wird sie achtzig. Eine schöne, anständige Frau mit weißem Haar, die im ganzen Leben nie mehr als zweiundfünfzig Kilo gewogen hat und seit diesem Silvesterabend noch viel weniger. Trotzdem gehen der Sheriff und die Anwälte davon aus, dass sie sich so weit erholen wird, dass man sie in einen Rollstuhl setzen und dann durch die Stadt zum Gerichtsgebäude fahren kann, um ihr den Prozess zu machen. Sollte es überhaupt dazu kommen, ist nicht klar, ob sie so weit gehen würden, ihr Handschellen anzulegen. Bud Sealey, der Sheriff, hat sich als Mistkerl entpuppt, schon klar, trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er einer Frau wie Edith Goodnough das antut.
Andererseits glaube ich auch nicht, dass Bud Sealey jemals vorhatte, ein Mistkerl zu werden. Erst vor neun Tagen saß er auf einem Barhocker am Tresen des Holt Café. Es war Freitagnachmittag, gegen halb drei, in der täglichen Flaute, wenn aller Papierkram erledigt ist und er nichts mehr zu tun hat, außer abzuwarten, dass die Kids aus der Highschool kommen und anfangen, die Main Street auf und ab zu rasen oder raus auf den Highway 34 zu fahren, um Wendemanöver auf dem Asphalt zu üben. Bud hatte also Zeit. Er ruhte sich ein bisschen aus. Sein Stück Butterscotch Pie hatte er bereits verputzt, und Betty hatte den Teller weggeräumt. Als er jetzt darauf wartete, dass seine zweite Tasse schwarzer Kaffee abkühlte, saß er mit dem Rücken zum Tresen auf seinem Hocker, sodass er die Männer an den Tischen vor sich hatte. Sie waren in ihren Stadtklamotten und Schirmmützen hereingekommen. Zwei oder drei hatten ihm wie immer auf den Rücken geklopft und sich auf die anderen Hocker oder an die nächsten Tische gesetzt, damit sie den Gesprächen folgen konnten und auf dem Laufenden blieben.
An diesem Nachmittag redete fast nur Bud. Er erzählte ihnen eine Geschichte. Ich glaube, ein Großteil der Männer hatte diese Geschichte mindestens schon zweimal gehört, aber vermutlich dachte keiner daran, ihn davon abzuhalten, sie noch einmal zum Besten zu geben, denn das Einzige, was sie im Übermaß hatten, war Zeit. Damit meine ich, dass sich zwei oder drei aus dem Berufsleben, mit dem sie nicht einmal hatten anfangen können, bereits zurückgezogen hatten.
Wie auch immer, die Geschichte, die Bud ihnen an diesem Nachmittag erzählte, handelte von einem Kerl, der auf der National Western Stock Show mit einem Stück rosa Strick herumlief, den er sich umgebunden hatte, als wäre er eins der landwirtschaftlichen Ausstellungsstücke in den Hallen des Pavillons. Er stellte sich sozusagen selbst zur Schau. Das heißt, bis die Polizei ihn festnahm und wegen unsittlichen Verhaltens und Erregung öffentlichen Ärgernisses ins Gefängnis steckte. Man erteilte ihm eine Verwarnung. Ein paar Wochen später, als er vor dem Richter steht – einem alten Mann mit Nickelbrille und kaum noch Haar auf dem Kopf –, sagt der zu ihm: »Ich werde dir nur eine einzige Frage stellen, mein Junge, und ich erwarte eine Antwort darauf. Bist du verrückt?« Und der Kerl mit dem rosa Strick sagt: »Nein, Sir, ich glaube nicht.« Darauf der Richter: »So so, bist du dann vielleicht nur halb verrückt?« Und der Kerl sagt …
Doch dieses Mal kam Bud nicht dazu zu erzählen, was der Kerl antwortet, weil just in diesem Augenblick jemand im Holt Café erschien, den weder Bud noch irgendeiner der anderen Männer kannte. Er fragte, wer von ihnen der Sheriff sei. Und einer der Jungs zeigte auf Bud.
Wie sich herausstellte, war dieser Neue ein Zeitungsreporter aus Denver. Er war gerade erst angekommen. Auf dem Polizeirevier hatte man ihm gesagt, er würde den Sheriff wahrscheinlich im Holt Café finden, und so war es auch. Deshalb ist das für mich der Zeitpunkt, kurz nach halb drei an einem Freitagnachmittag im April, an dem Bud Sealey ernsthaft zum Mistkerl wurde. Denn kurz darauf gingen Bud und dieser Mann aus Denver nach draußen zu Buds Streifenwagen. Anschließend fuhren sie die Main Street hinauf, und ich glaube nicht, dass sie sehr weit gekommen waren, bis Bud ihm die Geschichte von dem fünfundzwanzig Kilo schweren Sack mit Körnerfutter erzählte, den jemand in den Hühnerstall geschleift und in erreichbarer Nähe der sechs oder sieben Hühner, wo er vor Regen oder Schnee geschützt war, aufgeschlitzt hatte.
Doch das reichte nicht. Er war noch nicht zufrieden. Der Mann aus Denver wollte mehr als nur Hühnerfutter. Also bog Bud in eine der Wohnstraßen ein, fuhr unter den blühenden Ulmen am Straßenrand einen Häuserblock oder zwei weiter, und dann in der Birch Street oder Cedar Street packte er den angebundenen Hund noch obendrauf. Erzählte, wie man den milchäugigen alten Köter, der noch nie angebunden worden war, bis auf jenen Dezembernachmittag vor dreieinhalb Monaten, gefunden hatte, ebenfalls in unmittelbarer Nähe von Futter und Wasser, das für mehrere Tage reichen würde.
Doch auch das genügte nicht. Das Hühnerfutter und ein alter Köter hatten den Appetit des Manns aus Denver nur noch mehr angeregt. Außerdem fing er jetzt vermutlich an, Bud zu bedrängen, hartnäckig immer mehr zu fordern. Andererseits kam Bud da aber auch der Gedanke, es könnte für ihn etwas dabei herausspringen. Vielleicht bildete er sich ein, es würde seine zwanzigjährige Investition in die örtlichen Bezirkswahlen absichern, wenn sein Name auf der Titelseite einer Zeitung aus Denver erschiene, als wäre es so etwas wie der endgültige Abschluss einer Versicherung mit uns, die dafür sorgte, dass wir am ersten Dienstag im November das Kreuz neben seinen Namen machten. Denn wenn sein Name in den großen Zeitungen der Stadt an prominenter Stelle oder sogar auf der Titelseite erschiene, wären wir stolz auf ihn, stolz darauf, dass einer von uns so etwas schaffte, und dann müsste er nie wieder Geschichten im Holt Café erzählen, um unsere Stimmen einzusammeln. Er müsste nur noch seinen Namen zur richtigen Zeit auf die entsprechende Wahlliste setzen lassen und dafür sorgen, dass er korrekt buchstabiert wurde, und dann – verdammt noch mal – einfach weiter die Arztrechnungen seiner Frau bezahlen und die Studiengebühren an die staatliche Universität von Boulder überweisen, wo sein Sohn, wie es aussah, es nie zu was bringen, geschweige denn einen Abschluss machen würde.
Aber ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob Bud wirklich so dachte. Was ich angedeutet habe, beruht allein auf dem, was ich von ihm weiß, nach diesen fünfzig Jahren, die ich ihn kenne und mich ungefähr einmal die Woche mit ihm unterhalte. Alles, was ich sagen kann, ist, dass sein Streifenwagen etwas später an diesem Nachmittag draußen auf dem Land war und dass er und der Mann aus Denver noch immer darin saßen, sich noch immer unterhielten, einander beschnüffelten wie zwei Rüden, die sich über die neu entdeckten Wonnen mit einer läufigen Hündin austauschen. Nur ging es hier nicht um Paarung, nicht um Liebe oder das Wetter, nicht mal um den Preis von fetten Mastschweinen auf dem Schweinemarkt in Brush. Es war mehr als das. Ich glaube, es war viel mehr als das, denn genau dann und dort, zwischen Maisstoppeln auf der einen und grünem Weizen auf der anderen Seite der Straße, wurde Bud zum Verräter und lieferte ihm Edith Goodnough aus.
Er erzählte ihm, wie Edith im Dezember hier gesessen hatte, still in ihrem Schaukelstuhl, wartend, während ihr Bruder Lyman schräg gegenüber im Bett lag, mit dem Gesicht zur Wand, und laut schnarchte. Das hätte Bud ihm nicht erzählen müssen. Es gab schon genug, auch ohne das. Nur gut, dass der Mistkerl nichts von Lymans Reiseprospekten und dem Kürbiskuchen wusste, denn dann hätte er ihm als Zugabe auch noch davon erzählt. Ganz sicher.
Ich selbst erzählte ihm, als er mich am folgenden Nachmittag aufsuchte, gar nichts.
Das ist jetzt acht Tage her. Samstag. Als Erstes höre ich die Reifen auf dem Kiesweg, danach die Wagentür. Es ist noch zu früh für die Rückkehr von Mavis und Rena Pickett aus der Stadt, deshalb schaue ich aus dem schmalen Treibgang auf, wo ich die Rinder verarzte, und als ich das Nummernschild aus Denver sehe, denke ich, dass es einer dieser staatlichen Landwirtschaftsvertreter sein muss, der mir eine neue Sorte Dünger andrehen will. Selbst als ich den Schlips und die gelbe Hose sehe, denke ich das noch; mittlerweile ziehen sich einige der Jungen an, als wollte man sie jeden Augenblick zu einem Pingpongmatch auffordern. Wie auch immer, da ist er, steigt aus seinem Wagen und kommt auf mich zu. Er erreicht die Koppel, findet das Gatter und fummelt am Riegel herum. Sieht aus, als käme er nicht dahinter, wie man es öffnet, denn jetzt versucht er drüberzuklettern. Nicht besonders gut für die Scharniere. Trotzdem zieht er sich hoch, und als das Gatter unter ihm hin und her schwankt, schwingt er beide Beine auf die andere Seite und lässt sich in die Koppel neben mich fallen.
»Ich bin auf der Suche nach Sanders Roscoe«, sagt er.
Ich wende mich wieder der Kuh zu. Verpasse ihr die Injektion, sie brüllt auf, dann öffne ich den Treibgang, und sie trottet los, galoppiert dann mit gesenktem Kopf davon und spritzt dabei frischen Kuhmist auf. Ein Spritzer, so groß wie eine halbe Dollarmünze, landet auf seinem Hemd neben dem Schlips.
»Sie haben ihn gefunden«, sage ich.
Er sieht nicht viel älter aus als ein Kind, aber bislang habe ich nicht viel von seinem Gesicht gesehen. Im Augenblick hat er den Kopf gesenkt und begutachtet sein Hemd. Und während ich ihn noch mustere, zieht er einen Eversharp-Stift aus der Hemdtasche und reibt mit der Spitze an dem Mistspritzer herum. Als er ihn ganz gut wegbekommen hat und es aussieht, als hätte er sich bloß mit ein bisschen Bratensauce bekleckert, steckt er den Stift wieder in die Brusttasche und streckt mir die Hand entgegen. Sie fühlt sich an wie das Klopapier, von dem es in der Fernsehwerbung heißt, man solle es nicht zu sehr drücken. Weich.
»Mr. Roscoe«, sagt er. »Ich bin Dick Harrington. Von der Post.«
»Ach ja?«, sage ich. »Ich hoffe, Sie wollen mir nichts andrehen.«
»Nein«, sagt er. »Von der Denver Post. Das ist eine Zeitung. Vielleicht kennen Sie sie.«
»Sicher kenne ich sie«, sage ich. »Wir legen sie gewöhnlich vor die Hintertür, wo wir uns die Stiefel abtreten, damit wir keinen Kuhmist in die Küche tragen.« Dann werfe ich den Kopf zurück und lache. »So kann man sich die Fußmatten schenken«, sage ich.
Er findet das eigentlich nicht lustig. Er sieht mich an, als würde er denken: Wie kann man nur so blöd sein? Kerle wie er glauben, sie fahren 150 Meilen von Denver Richtung Osten, und da, wo sie ankommen, haben die Leute von nichts eine Ahnung. Sie meinen, sie müssten uns arme Hinterwäldler aufklären. Als wüssten wir nicht, was die Denver Post ist. Natürlich wissen wir das. Bloß geht uns das am Arsch vorbei.
Doch jetzt ist er wieder mit seinen Händen beschäftigt. Scheint so, als hätten diese Hände ständig etwas zu tun, als gönnte er ihnen keine Pause. Er greift in die Gesäßtasche nach seiner Brieftasche, öffnet sie und fischt eine kleine weiße Karte heraus. Ich sehe sie mir an. Oben ist das Logo seiner Zeitung, und darunter steht sein Name – hier allerdings Richard – und eine Telefonnummer, damit man ihn im Büro anrufen kann, wenn man ihn dort erreichen will. Ich gebe sie ihm zurück.
»Können Sie behalten«, sagt er.
»Nein«, sage ich. »Hier geht sie nur verloren.«
»Ach so«, sagt er. »Na dann …«
Doch dann scheint es, als wüsste er nicht, wie es weitergehen soll. Er blickt über die Koppel auf die drei oder vier Kühe, die ich bereits behandelt habe und die sich jetzt gegenseitig rückwärts gegen den Zaun drängen, ihn mit verdrehten Augen, in denen fast nur das Weiße zu sehen ist, fixieren und aussehen, als würden sie für einen Vierteldollar entweder den Zaun hinter sich platt walzen oder, wenn das nicht klappt, ihn quer über die Koppel zum Gatter jagen, das er nicht öffnen konnte, um auf diese Weise auszubüxen. Etwa zwei Minuten starren sich die Kühe und er an, über zehn Meter Koppelraum und frischen Kuhmist zwischen ihnen hinweg, bis die Kuh, die ich noch nicht verarztet habe, plötzlich losbrüllt. Als hätte jemand heftig an seinem Ärmel gezerrt, dreht er sich hastig zu ihr um. Sie steckt noch immer im Treibgang, man kann sie zwischen den Gitterstangen sehen. Auch ihre Augen zeigen jetzt jede Menge Weiß, denn sie wird allmählich nervös, weil man sie sich selbst überlassen hat, doch zumindest ist da dieses Gitter, das sie voneinander trennt. So, wie sie in dem schmalen Gang gefangen ist, kann sie auch nicht genügend Anlauf nehmen, um drüberzusetzen. Was sie aber garantiert nicht tun will. Allerdings glaube ich nicht, dass er das weiß.
»Mr. Roscoe«, sagt er. »Können wir uns nicht woanders unterhalten?«
»Oh«, sage ich und zeige auf die Kühe. »Achten Sie einfach nicht auf sie. Sie haben noch nicht so viele gelbe Hosen im Leben gesehen. Geben Sie ihnen noch ein bisschen Zeit – vielleicht gewöhnen sie sich daran.«
Er wirft den Kühen einen skeptischen Blick zu. Zugegeben, sie haben sich nicht viel verändert. Sie sehen noch immer so aus, als wollten sie am liebsten wegrennen, davonfliegen oder sonstwie ausreißen. Sie starren ihn noch immer an, mit verdrehten Augen, und drücken sich mit den Hintern, so fest sie können, gegen den Zaun.
»Nun«, sagt er und wendet sich wieder zu mir um. »Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, wenn das möglich ist. Darf ich?«
»Kommt drauf an«, sage ich.
»Worauf?«, fragt er.
»Auf die Fragen.«
Also stellt er seine Fragen, und was er fragt, zeigt mir, dass er nicht mal so etwas wie ein Landwirtschaftsvertreter ist, nicht ansatzweise vergleichbar. Außerdem wird klar, dass – gelbe Hosen hin, gelbe Hosen her – jetzt Schluss mit lustig ist. Denn seine erste Frage lautet: »Sie sind doch bestimmt ein guter Nachbar, Mr. Roscoe, oder?«
»Ich kann einer sein«, sage ich, denn jetzt weiß ich, wie der Hase läuft. Was als Nächstes kommen wird.
»Ich meine, Sie kennen alle Nachbarn hier in der Gegend.«
»Vielleicht. Ein paar von ihnen.«
»Edith und Lyman Goodnow, zum Beispiel?«, fragt er. »Die Leute haben mir gesagt, Sie kennen sie besser als jeder andere hier. Sie hätten einiges für sie getan. Stimmt das?«
Da haben wir es. Er hat nicht lange gebraucht. »Haben all die Leute, mit denen Sie über die beiden gesprochen haben, wie Sie sagen, Ihnen nicht wenigstens gesagt, wie sie richtig heißen – während sie Ihnen den Rest erzählt haben?«
»Sie meinen, sie heißen nicht Good-now?«
»Nein.«
»Wie dann?«
»Good-no.«
»Okay«, sagt er. »Wie Sie meinen.«
Dann greift er wieder in die Gesäßtasche, zieht einen kleinen Spiralblock raus und macht sich mit dem Eversharp-Stift, den er zuvor benutzt hat, um den Kuhmist von seinem Hemd zu schnipsen, ein paar Notizen. Als er fertig ist, sagt er: »Sie wohnten früher ein Stück weiter die Straße runter, stimmts?«
»Das Grundstück gehört immer noch ihnen«, sage ich. »Bisher hat niemand es ihnen abgekauft.«
»Ja«, sagt er, »und ich weiß auch schon, dass es ein Stück weiter die Straße runter ist.«
So spricht er jetzt also, als wäre er inzwischen wieder etwas selbstsicherer, weil er mit dem Spiralblock und dem Stift in der Hand vergessen hat, dass er auf einem Haufen Kuhmist in einer Koppel steht, wo zehn Meter von ihm entfernt ein paar frisch verarztete Kühe noch immer auf seiner Seite des Zauns stehen und ihn am liebsten zertrampeln würden, statt ihn noch länger anstarren zu müssen.
Doch er fährt fort. »Ich habe gehört, dass Sie in der besagten Dezembernacht als Erster dort waren. Dass die anderen, als sie ankamen, Sie dort vorfanden, dass Sie bereits auf sie gewartet haben und sie nicht ins Haus lassen wollten. Sie haben versucht, sie daran zu hindern, das Haus zu betreten. Warum eigentlich?«
»Sagen Sie es mir. Sie wissen doch schon alles.«
»Hören Sie, Mr. Roscoe«, sagt er. »Ich versuche nur, das herauszufinden, was mein Herausgeber von mir erwartet. Und das heißt nicht, dass es mir besser gefällt als Ihnen. Aber ich kann mir vorstellen, wie Sie sich gefühlt haben müssen …«
»Sie haben keine Ahnung!«, erkläre ich ihm.
»Na schön«, sagt er. »Schön, vergessen Sie das. Aber eine Frage gestatten Sie mir noch. Nur eine einzige Frage: Sie stimmen mir doch zu, dass es Absicht war, oder? Sie glauben nicht, dass es ein Unfall war.«
Ich antworte nicht. Da steht er, in seiner gelben Pingponghose, keine Armlänge von mir entfernt, und für das, was er aus mir herauszukriegen versucht, müsste ich ihm eine reinhauen. Aber das mache ich nicht. Ich sehe ihn nur an.
Und dann sagt er: »Darüber sind wir beide uns doch einig, oder? Ich will nur wissen, wie Sie darüber denken.«
Jetzt habe ich genug von ihm. Mehr als genug. »Sie wollen wissen, was ich denke?«
»Ja.«
»Ich denke, dass Sie das Ganze einen Scheißdreck angeht. Ich denke, Sie fahren jetzt besser nach Denver zurück.«
»Mr. Roscoe«, sagt er und spricht meinen Namen jetzt aus, als sagte er Scheiße. »Ich habe bereits mit dem Sheriff gesprochen, Bud Sealey. Und der hat gesagt …«
»Nein«, sage ich. »Nein, Sie gehen jetzt besser.« Und mache einen Schritt auf ihn zu. Er wirkt überrascht, als hätte er gerade eine falsche Tür geöffnet und sei auf etwas gestoßen, womit er nicht gerechnet hat. Er weicht ein paar Schritte zurück.
»Es wird sowieso alles rauskommen«, sagt er. »Ich werde es von irgendwem anders erfahren.«
»Nicht von mir. So viel steht fest.«
Ich mache noch einen Schritt auf ihn zu und schaue ihn an, höchstens dreißig Zentimeter sind unsere Gesichter voneinander entfernt. Der Schnurrbart unter seiner Nase ist dünn, und auf den Wangen hat er Pockennarben. Er könnte einen Haarschnitt gebrauchen. Aber er weicht – so viel will ich ihm zugestehen – keinen Schritt mehr zurück, obwohl er so ein Jungspund ist, deshalb habe ich genug von dem Spielchen. Ich gehe um ihn herum zum Gatter, schiebe einfach den Riegel zurück und halte das Tor für ihn auf.
Er kommt auf mich zu, und gerade als er an mir vorbeigehen will, nehme ich ihm den kleinen Spiralblock aus der Hand und reiße die oberste Seite raus, die, auf der er sich etwas notiert hat, als er mit mir sprach. Dann gebe ich ihm den Block zurück. Sein Gesicht sieht aus, als hätte ihm jemand eine Ohrfeige verpasst.
»Was machen Sie da?«, fragt er. »Das dürfen Sie nicht.«
»Hör zu, mein Junge«, sage ich. »Beweg deinen Arsch von meinem Grundstück. Und lass dich hier nie wieder blicken. Verstanden? Ich will dich hier nicht noch mal sehen.«
Er will noch etwas sagen, sein Mund unter dem Schnurrbart öffnet sich, schließt sich dann wieder. Dann dreht er sich um und geht von mir weg auf seinen Wagen zu. Er steigt ein und fixiert mich noch eine volle Minute lang durch das Fenster. Am Ende dreht er den Zündschlüssel, der Wagen setzt sich in Bewegung und wirbelt den Kies hinter sich hoch, als er wegfährt. Ich sehe ihm nach, wie er über den Schotterweg auf die Landstraße und weiter Richtung Stadt fährt. Als ich ihn aus den Augen verliere, werfe ich einen Blick auf das Gekrakel auf dem Stück Papier, das ich aus seinem Block gerissen habe. Sanders Roscoe – um die fünfzig – korpulent – stur – Goodnoughs Nachbar Good-no. Ich zerreiße es und lasse es fallen. Mein Stiefelabsatz zermalmt es in der Kuhscheiße, bis es weg ist, verschwunden, in braunes Nichts verwandelt. Was für ein gottverdammter Schnösel.
Aber es nützte nichts. Er kam trotzdem dahinter. Es stand in allen Zeitungen. Wahrscheinlich hatte er nochmals mit Bud Sealey und ein paar anderen in der Stadt gesprochen. Sie packten es auf die Titelseite. Deshalb reden sie jetzt von einem Gerichtsverfahren. Sein verdammter Zeitungsbericht hat das ganze Gerede erst ausgelöst.
Einiges stimmte sogar. Manches von dem, was sie auf die Titelseite zwischen die beiden Fotos von Edith und Lyman klatschten, entsprach der Wahrheit. Vermutlich kann sogar ein Zeitungsreporter aus Denver in das Gerichtsgebäude von Holt County gehen und sich ein Datum aus dem Eintrag im Grundbuchamt abschreiben und, wenn er das hat, zum Friedhof fahren und lesen, was auf den drei Grabsteinen eingraviert ist, die dort nebeneinander im braunen Gras stehen, ganz hinten, am Ende des Friedhofs, wo zwischen dem letzten Grabstein und dem Maisfeld von Otis Murray gerade noch Platz genug für ein weiteres Grab ist. Denn ja, okay, das alles hat er korrekt hingekriegt. Und anschließend hat seine Zeitung es schlauerweise auf die Titelseite platziert.
Sie druckten Ediths Foto oben links und Lymans genau gegenüber oben rechts ab, sodass beide in die Mitte blickten. Damit wirkte es nicht nur so, als würden sie sich gegenseitig anschauen, sondern auch das, was zwischen ihnen stand. Und das, was zwischen ihnen stand, wie eine Art Todesanzeige oder vielleicht ein Eintrag auf der Innenseite der Familienbibel, war Folgendes:
ROY GOODNOUGH, GEBOREN 1870 IN CEDAR COUNTY, IOWA
ADA TWAMLEY, GEBOREN 1872 IN JOHNSON COUNTY, IOWA
R. GOODNOUGH & A. TWAMLEY, VERHEIRATET 1895
GOODNOUGHS FAMILIENSITZ, HOLT COUNTY,
COLORADO 1896
EDITH GOODNOUGH, GEBOREN 1897
LYMAN GOODNOUGH, GEBOREN 1899
ADA TWAMLEY GOODNOUGH, GESTORBEN 1914
ROY GOODNOUGH, GESTORBEN 1952
Und darunter schließlich nur noch ein weiteres Datum, dieses letzte Datum, das den Ausschlag gab für die Story auf der Titelseite:
FREITAG, 31. DEZEMBER 1976
Insofern entsprach dieser Teil von dem, was der Reporter aus Denver herausfand, und dieser Teil von dem, was seine Zeitung abdruckte, der Wahrheit. Doch das war nicht alles. Das war nicht mal besonders viel. Der Artikel ging nicht auf das Wie ein. Erwähnte nicht mal das Warum. Und obwohl er wiedergab, was Bud Sealey dem Reporter über das halbe Dutzend Hühner erzählt haben musste, den alten Köter und Lyman, der in seinem Bett schlief, während Edith still im Schaukelstuhl saß, war es nicht mal vollständig. Erstens, weil es Roys Stümpfe ausließ. Und zweitens, weil es kein Wort über Lymans Warten verlor oder über seine Pontiacs, die Postkarten und Zwanzig-Dollar-Scheine. Außerdem erfuhr man nichts darüber, wie Edith selbst gewartet hatte, zuerst darauf, dass der eine starb, später darauf, dass der andere zurückkam, was sie alles mit ihm machte, als er zurückkam, und wie sie es schließlich geschafft hatte, die vielen Jahre seiner Reiseberichte zu ertragen. Auch mein Dad wurde nie erwähnt.
Doch ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass dieser Reporter aus Denver darüber hätte schreiben können, selbst wenn er gewollt hätte, denn zunächst einmal hatte ihm niemand davon erzählt, sodass er darüber hätte berichten können. Ich erzählte ihm nichts. Und ich wäre der Einzige gewesen, der es gekonnt hätte. Da hatte Bud Sealey recht. Aber ich habe es nicht getan. Bei Gott, das hätte ich nicht fertiggebracht.
Doch hören Sie. Wenn derjenige nicht vorhätte, es in einer Zeitung abzudrucken oder zwischen zwei Fotos auf die Titelseite zu setzen, die so platziert waren, dass die Leute auf den Fotos auf das starren mussten, was zwischen ihnen stand, als wäre es etwas, für das sie sich schämen müssten – wenn sich jemand an einem Sonntagnachmittag ganz friedlich mir gegenüber an diesen Tisch setzen und seinen Kaffee trinken würde, während ich rede, und wenn er mich nicht allzu sehr drängte – nun ja, dann könnte ich es erzählen. Ich würde es so erzählen, dass es vollständig wäre, und ich würde es so erzählen, dass es richtig wäre.
Denn: