Wären Edith und Lyman Stadtkinder gewesen, wären die Dinge vielleicht etwas anders verlaufen. Selbst im Jahr 1915 hatten Stadtkinder einige Fluchtmöglichkeiten, die Kinder vom Land nicht hatten. Stadtkinder konnten sich aus dem Staub machen, zehn oder fünfzehn Häuserblocks zu Fuß gehen oder auf eine Straßenbahn aufspringen, die quer durch die Stadt fuhr, und hatten sich dann so weit von zu Hause wegbewegt, als wären sie in einem anderen Bundesstaat, ja sogar in einem anderen Land. Dort konnten sie sich dann behaupten oder eben nicht, sie konnten ein neues Leben beginnen oder es beenden, doch was auch immer geschah, sie hätten das Band durchtrennt, die Schranken ihres Zuhauses überwunden.
Und auch wenn Edith und Lyman als Kinder heute auf dem Land gelebt hätten, in den 1970er-Jahren, gesund und putzmunter, wären die Dinge vielleicht anders verlaufen. Fernsehen, Kino, Highschool, Leichtbier, schrille Musik, asphaltierte Straßen und schnelle Autos (plus das, was sich auf den Rücksitzen dieser Wagen tut und was dabei herauskommt, bis Bud Sealey mit seiner Taschenlampe das Innere durch ein Seitenfenster ausleuchtet), all das und mehr steht den Kids von heute zur Verfügung, und man könnte eines vom Land nicht von einem aus der Stadt unterscheiden, nicht mal mit einem entsprechenden Plan. Sie sind kaum zu unterscheiden, alle gleich in ihren Autos, mit denen sie in Holt, Colorado, jeden Samstag die Main Street auf und ab rasen, hupend und johlend.
Doch Edith und Lyman hatten so etwas nicht, solche Chancen und Fluchtmöglichkeiten. Sie waren Farmkinder im zweiten Jahrzehnt dieses brutalen Jahrhunderts, und sie saßen in der Falle. Ihre Mutter war früh gestorben, ihr Vater war Roy Goodnough, und auch wenn er manchmal wie ein Irrer wütete und sie viel zu oft anbrüllte, blieb er ihr Vater. Und dann – um die Dinge endgültig zu besiegeln, um die Kurbel des schweren Schraubstocks noch ein paar Mal zu drehen – hatten sie mit ansehen müssen, wie er seine Hände verstümmelte. Sie hatten da sein müssen, als es passierte, sie hatten alles miterleben müssen, sie hatten zusehen müssen, wie seine Hände zu Hackfleisch zerfetzt wurden. Sie hatten losrennen müssen, um Hilfe zu holen, sie hatten ihn in die Stadt schaffen müssen, hatten das, was von seinen Fingern übrig geblieben war, in ein Taschentuch gewickelt mitbringen müssen, und dann hatte einer von ihnen seine Arme festhalten und beide hatten mit ansehen müssen, wie Packer das Wenige tat, was er tun konnte, um mit dem blutigen Chaos fertigzuwerden, während Roy ständig »Ich habs euch gesagt, hab ichs euch nicht gesagt« vor sich hin murmelte.
Wenn ich also von einer Falle spreche, meine ich nicht, dass sie nur ein bisschen Pech gehabt hatten. Ich meine nicht, dass sie in der Patsche saßen, so wie man im Schlamm feststeckt, aus dem man sich wieder befreien kann, wenn man sich ein bisschen anstrengt. Anschließend würde man sich höchstens über den Verlust eines Paars guter neuer Schuhe beklagen, die man hatte zurücklassen müssen. Nein, ich meine, dass sie wirklich tief in der Patsche saßen. Ich meine bis zum Hals, wenn nicht bis zu den Augen, und auch die größte Anstrengung hätte da nichts genützt. Sie konnten hin und wieder ein bisschen mit den Armen rudern, sie konnten die Köpfe ein wenig drehen, aber sie kamen da nicht mehr raus, egal, was passierte, und alles, was sie rings um sich herum sehen konnten, wenn sie die Köpfe ein wenig drehten, egal, in welche Richtung, war nur noch mehr Schlamm. Mehr vom Gleichen. In ihrem Fall mehr Sand, mehr Arbeit, mehr Aufgaben und mehr Pflichten.
Und so machte Edith natürlich weiter mit Kochen und Putzen und Flicken und Waschen und Bügeln. Außerdem war da noch der Garten, um den sie sich kümmern musste: Aussäen, Umgraben und Wässern, Einmachen und Einlegen. Sie musste Holz hacken und es ins Haus tragen, den Ofen anfeuern, die Hühner füttern, die Eier einsammeln und den Haushalt in Ordnung halten. Und nun musste sie obendrein jeden Morgen und jeden Abend die Kühe melken.
Haben Sie schon mal eine Kuh gemolken? Nein, wahrscheinlich nicht. Nun ja, eine Kuh zu melken ist in Ordnung, wenn es nicht anders geht, aber es macht nicht halb so viel Spaß, wie es auf alten Fotos den Anschein erweckt, wo sich ein Milchmädchen mit nackten Armen neben eine nette braun-weiß gefleckte Guernsey-Kuh unter eine Eiche setzt, nicht weit davon entfernt ein blaues Bächlein plätschert, wo alles friedlich und schön aussieht und es irgendwie immer Sommer ist. Nein, man steht jeden Morgen im Dunkeln auf – und das tat Edith –, egal, ob draußen ein Schneesturm tobte oder nicht, egal, wie erschöpft sie war. Sie stand auf, schlüpfte in ein Kleid, warf sich den Mantel über und lief hinaus, um die fünf oder sechs Kurzhorn-Rinder auf der Weide zu suchen. Sie führte sie durch das Tor in die Scheune, band sie fest, lupfte Rock und Mantel, um die Leiter zum Dachboden hinaufzuklettern, warf ein paar Arme Heu in den Futtertrog, kletterte wieder hinunter, stellte den T-förmigen Melkschemel zurecht und setzte sich so, dass der Kopf dicht an der Flanke der Kuh war, damit sie nicht allzu oft von dem harten, mit Dung beschmierten Schwanz der Kuh getroffen wurde, der sie blenden konnte. Dann wusch sie die Zitzen mit einem nassen Lappen ab, zog die ersten Spritzer Milch aus jeder Zitze, um sie noch besser zu reinigen und auf Mastitis zu prüfen, quetschte sich den Eimer zwischen die Knie und molk schließlich die Kuh gerade so weit, dass auch noch etwas für das Kalb zum Saugen und Überleben übrig blieb. Anschließend machte sie dasselbe mit der nächsten Kuh und der übernächsten. Und die ganze Zeit redete sie leise auf sie ein, um sie zu beruhigen, damit sie die Milch laufen ließen und den Eimer nicht umtraten.
Wenn sie mit dem Melken fertig war, führte sie die Kühe wieder auf die Weide und schleppte anschließend die vollen Eimer durch das Haus auf die hintere Veranda, wo sie die Milch in die Zentrifuge kippte und die Kurbel von Hand drehte. Später, irgendwann während des Tages, musste sie Zeit finden, um Butter zu schlagen und Sauerrahm zu machen, die sie in der Stadt verkauften. Ich glaube, das machten sie einmal in der Woche, dann brachten sie die Sahne und die Eier, die sie nicht brauchten, in die Stadt zu Bishop’s Molkerei auf der anderen Seite der Eisenbahnschienen.
Aber Sie verstehen, nicht wahr? Das, was ich Ihnen bislang beschrieben habe, war nur das morgendliche Melken. Denn all das musste sie am späten Nachmittag noch einmal tun, bevor sie das Abendessen zubereitete. Zweimal am Tag war das ihre Aufgabe, an jedem Tag der Woche. Außerdem dürfen Sie nicht vergessen, dass das, was ich Ihnen über das Melken erzählt habe, auf der wackeligen Annahme beruht, dass alles nach Plan lief. Ich meine, so hätte es sein sollen. Aber natürlich war das nicht immer der Fall. An vielen Tagen ging das, was schiefgehen konnte, auch tatsächlich schief. Eine Kuh trat ihr auf den Fuß. Eine andere warf den Eimer um. Eine dritte wurde krank und musste behandelt werden. Manchmal wollten sie von Anfang an die Weide nicht verlassen, um in die Scheune zu gehen. Wer weiß schon, was im Kopf einer alten Kuh mit gesprenkeltem Gesicht vorgeht? Ob da überhaupt etwas vorgeht? Manche Leute behaupten ja, Schweine seien intelligent, und vielleicht stimmt das sogar, aber ich kenne niemanden, der das von Kühen behauptet hätte.
Das Schlimmste am Melken war dieser ewig harte, dreckige Schwanz. Ein mit Scheiße beschmierter Schwanz ist schlimm genug. Aber wenn er Ihre Augen oder den Mund trifft, sind Sie bedient, und das passiert die ganze Zeit. Trotzdem haben Sie keine Ahnung, was wirklich schlimm ist, Sie haben nicht das volle Ausmaß von Gestank und Entrüstung erlebt, bis eine Kuh (besonders eine alte, knochige Scheißkuh, die Sie sowieso nicht ausstehen können) nach der Geburt eines Kalbes zum ersten Mal zum Melken kommt und eine drei Tage alte Nachgeburt an ihr herunterhängt, weil nicht alles richtig rausgekommen ist. Also, da ist das verdammte Zeug, es hängt aus ihr heraus, baumelt zwischen ihren Hinterbeinen, es ist voller Scheiße, schleimig, voller Fliegen, und es stinkt dermaßen widerlich, so gottverdammt ekelhaft, dass man Mühe hat, nicht loszukotzen. Trotzdem muss man sie melken, nicht wahr? Dazu ist sie da. Also stellt man seinen Melkschemel auf, pflanzt seinen Hintern drauf, betet, hofft oder drückt die Daumen und macht die unmöglichsten Versprechen, nur damit man sie gemolken kriegt, ohne etwas von dem fauligen Gestank schmecken zu müssen. Und bei Gott, fast sieht es so aus, als würde es gelingen. Ja, gleich hat man es geschafft. Ganz ruhig, meine Gute, ganz ruhig jetzt. So ists recht. Und wenn man fast fertig ist, wumms, verfluchter Mist, da trifft sie einen voll ins Gesicht, mit all dem Blut, all der Scheiße, all dem Schleim und unglaublicher Empörung. Es verschmiert einem die Augen, die Nase, den Mund. Man spürt sogar, wie es einem hinten am Nacken hinunterläuft. O Mann, hilf mir. Verdammte Scheißkuh. Und dann kann man nicht mehr. Man kotzt es raus, über das Kleid, über die verfluchte Kuh, über den Milcheimer. Man kotzt, bis einem die Galle hochkommt, bis einem der Magen wehtut und man nach Luft schnappt.
Nun, mir ist das einmal passiert. Und einmal hat mir gereicht. Am liebsten hätte ich irgendwas zerdeppert. Aber Edith Goodnough muss es öfter passiert sein. Geht ja nicht anders. Schließlich molk Edith die Kühe zweimal am Tag, an jedem Tag der Woche, all die Jahre.
Und Lyman, was war mit Lyman? Schließlich saß auch er in der Falle. Ich meine, er war alles andere als ein Sechzehnjähriger aus der Stadt. Er war bloß ein großer, stämmiger Bauernjunge mit wuscheligem Haar, kräftigen Handgelenken, geflicktem Overall und knöchelhohen Schuhen, der immer ein bisschen weggetreten wirkte, als hätte er etwas verloren und könnte sich nicht erinnern, was es war, geschweige denn, wo er danach suchen sollte. Lyman war hier draußen auf der Farm in den Sandhügeln gefangen, er saß hier genauso fest wie seine Schwester. Er saß in derselben Patsche, war im selben Schraubstock gefangen, erstickte im selben Schlammloch, aus dem nur sein Kinn hervorlugte (schwach und spitz wie das seiner Mutter). Ich glaube, dass Lyman den Kopf noch nicht einmal weit genug heben konnte, um sich umzusehen und zu erkennen, dass es da draußen in der Welt nichts anderes gab als immer dasselbe.
Dafür sorgte Roy. Mit seinen verstümmelten Händen und seinem durchdringenden Blick rieb Roy es Lyman immer wieder unter die Nase. Es war, als wäre Lyman nur ein geprügelter Straßenköter, den Roy bei Fuß hielt. Und jedes Mal, wenn Lyman auf andere Gedanken kam, zog sein Vater heftig an der kurzen Leine, damit er sich daran erinnerte und besser aufpasste. Denn so blieb es für eine lange Zeit. Roy hielt Lyman zu Hause fest. Er sorgte dafür, dass Lyman keine Zeit hatte, um irgendwelche Fluchtpläne zu schmieden. Er sah zu, dass Lyman all seinen Grips, Mumm und Schweiß darauf verwendete, die Parzellen mit Mais und Weizen zu bestellen, Jahr um Jahr dieselben Reihen Mais zu pflanzen, sie zu wässern und später von Hand zu ernten, auf immer denselben Feldern Weizen anzubauen, das Saatgut einzueggen und zu ernten und zwischendurch, wenn er nicht auf den Mais- oder Getreidefeldern arbeitete, sich damit abzurackern, immer dieselben Wiesen zu mähen und Heuhaufen aufzustapeln.
So blieb Lyman lange Zeit zu Hause und arbeitete. Und daran war nichts ungewöhnlich – alle auf dem Land arbeiteten, arbeiteten hart –, doch was es für Lyman so schlimm machte, war die Tatsache, dass er Tag für Tag von morgens bis abends herumkommandiert wurde, sodass er das Gefühl hatte, einen stacheligen Burzeldorn oder giftigen Sandsporn im Nacken sitzen zu haben. Es gab keinerlei Unterbrechung. Roy entschied alles. Er hatte das alleinige Sagen. Wäre Lyman beteiligt gewesen, hätte er ein Wörtchen darüber mitreden dürfen, wo der Mais angebaut, wo das Heu aufgestapelt oder wie viele Morgen mit Weizen bepflanzt werden sollten, wäre vielleicht alles in Ordnung gewesen. Aber so war es nicht. Er hätte genauso gut gegen den Wind pissen können, wie Roy irgendwelche Vorschläge zu machen.
Und während Lyman auf der Farm in den Sandhügeln arbeitete, konnte er lange nichts anderes tun als abwarten und mit seinem Hundeblick und auf seine weggetretene Art hoffen, dass eines Tages irgendwo ein Scheunentor oder ein Wiesengatter gerade so weit offen blieb, dass er sich hindurchzwängen und von seinem Overall befreien könnte, um loszurennen. Und um Himmels willen nie wieder einen Blick zurückzuwerfen. Nicht einmal, um zu sehen, ob ihm jemand folgte.
Nun ja, er brauchte nicht viel, verstehen Sie, aber irgendetwas brauchte Lyman auf jeden Fall.
So ging es weiter, etwa sieben Jahre lang, dann machte Edith als Erste den Versuch auszubrechen. Zumindest einen Sommer lang, im Jahr 1922, schien sie an diese Möglichkeit zu glauben. Und wenn Sie verstanden haben, was ich über sie erzählt habe – besser gesagt, wenn ich mich deutlich genug ausgedrückt habe –, dann wird es Sie nicht überraschen, dass Edith als Erste versuchte, sich zu befreien. Denn sie war diejenige von beiden, die das Zeug dazu hatte. Außerdem muss Edith mit fünfundzwanzig so schön gewesen sein, wie man als Frau nur sein kann. Und ich glaube, das ist sie noch immer, auf ihre eigene, klarsichtige Art, damals wie heute, vier Tage vor ihrem achtzigsten Geburtstag, während sie noch immer da drüben in dem verdammten Krankenhausbett liegt und darauf wartet, wieder gesund zu werden.
Doch im Sommer 1922 muss sie nahezu vollkommen gewesen sein. Schlank und aufgeweckt mit braunen Augen und braunem lockigem Haar. Sie hatte volle Brüste. Sie hatte kräftige Hände. Sie beschwerte sich nie, obwohl sie eine Menge Grund dazu gehabt hätte. Sie war … verdammt, ich weiß nicht, wie man Frauen beschreibt. Aber warten Sie, ich meine es eher so: Sie war ruhig und konzentriert und auf eine Art für einen da, die einem nicht das Gefühl gab, ungeschickt oder tollpatschig zu sein, selbst wenn man schlimmer war als beides, so unbeholfen auf den Beinen wie ein neugeborenes Fohlen, so benebelt wie ein frisch geworfenes Kalb. Sie erweckte in einem den Wunsch, sie mitten auf dieser Landstraße auf dem Beifahrersitz dieses Autos in den Arm nehmen zu wollen, sie festzuhalten, sie zu küssen, ihren Atem zu riechen, mit ihr zu reden, ihr all die Dinge zu sagen, die man noch nie zuvor jemandem gesagt hatte, all das, was über Alberei und oberflächliche Fakten über die eigene Person hinausgeht, Dinge, von denen man selbst nicht wusste, ob man sie tatsächlich fühlte oder dachte, bis man merkte, dass man sie im Dunkeln zu ihr sagte, im geparkten Wagen, den Arm um sie gelegt, denn irgendwie wäre es in Ordnung, wenn sie sie hörte, und sie wären auch wahr. Edith Goodnough muss in diesem Sommer umwerfend gewesen sein.
Doch was für ein verschwendetes Leben! Allein bei dem Gedanken wird einem schlecht. Man will an alles Mögliche andere denken, bloß nicht an sie.
In jenem Sommer, verstehen Sie, gingen Edith und mein Dad miteinander aus. Und wenn Sie kurz darüber nachdenken, werden Sie vielleicht auch einen von vielen Gründen verstehen, warum meine Gefühle für Edith so sind, wie sie sind. Sechs oder sieben Wochen in diesem Sommer waren sie ein Herz und eine Seele, verknallt oder wie immer man das damals nannte, wenn man in einem alten Ford mit heruntergekurbelten Fenstern zusammen übers Land fährt und die dunkle Luft den Duft von grünem Salbei hereinweht. Beim Fahren wenden sie sich manchmal einander zu, und je später der Abend wird, umso öfter. Sie lachen ein bisschen über etwas, das vielleicht nur ihnen beiden komisch erscheint, während über ihnen die Sterne aufgehen und hinter ihnen nur noch der Staub ist, der auf der Straße aufwirbelt, wenn der Wagen vorbeigefahren ist.
Edith und mein Dad gingen ein paarmal zusammen tanzen. Sie fuhren ein- oder zweimal in die Stadt und gingen ins Kino. Einmal aßen sie in Norka zu Abend, der nächsten Stadt westlich von Holt. Aber meistens fuhren sie in dem alten Ford meines Dads über die Landstraßen zu den Sandhügeln, unterhielten sich und lachten ein bisschen. Es muss ihnen genügt haben, einfach nur zusammen unterwegs zu sein, und fast immer saß Lyman auf dem Rücksitz.
Vielleicht war das der Grund, weshalb Roy es erlaubte. Wenn Lyman dabei war und vom Rücksitz aus seinen Kopf zwischen sie schieben konnte, war es vielleicht in Ordnung, wenn Edith mit meinem Dad auf dem Land herumkurvte. Wahrscheinlich dachte Roy, Lyman würde schon dafür sorgen, dass sie keine Dummheiten machten. Nicht dass Lyman irgendwem irgendwas verraten hätte – Lyman hat nie viel gesprochen, außer vielleicht mit Edith –, aber er schien immer irgendwie anwesend zu sein. Man arbeitete im Geräteschuppen oder unterhielt sich mit jemandem auf der Main Street und sah auf, und da stand Lyman, ein bisschen abseits, und machte sich mit seinem Klappmesser die Nägel sauber, und man wusste nie, wie lange er da schon gestanden, wie viel er gesehen oder gehört hatte, aber er war da und wartete wie ein Straßenköter, um zu sehen, was so los war. Das könnte also der Grund dafür gewesen sein, dass Roy ihr diesen sechs- oder siebenwöchigen Urlaub gestattete und in diesem Sommer die Daumenschrauben kurz lockerte, aber das ist bloß eine Vermutung. Es passte ganz und gar nicht zu ihm. Vielleicht wollte er nur sehen, wie weit es ging, gewissermaßen das Wasser testen. Aber vielleicht wusste er einfach auch schon, was er als Nächstes tun würde.
Eine andere Frage zu diesem Sommer, über die ich nur Vermutungen anstellen kann, ist, warum mein Dad so lange brauchte. Er war bereits zweiunddreißig. Er war noch jung, klar, in bester Verfassung – kräftig, zäh, mit vollem schwarzem Haar, die Art von Mann, zu dem Hunde und Pferde kamen, um sich kraulen oder tätscheln zu lassen, ohne dass er je nach ihnen pfeifen oder mit den Fingern schnipsen musste. Seit mindestens zehn Jahren hatte es keinen Zweifel daran gegeben, dass er mit seiner Viehhaltung erfolgreich sein würde. Er war schon längere Zeit gut aufgestellt, hatte alles unter Kontrolle. Vielleicht wartete er nur. Am Ende war auch er einfach ein Junge vom Land, und nach wie vor half er jeden Herbst den Goodnoughs bei der Ernte, beobachtete Edith, unterhielt sich ein bisschen mit ihr und alberte mit Lyman herum, während nun er die Mähmaschine fuhr, weil Roy es nicht mehr konnte.
Dann starb seine Mutter, meine Großmutter. Das war im Frühjahr 1922. Eines Abends kam er zum Essen ins Haus und fand sie tot im Schaukelstuhl, mit Tabakasche über dem schwarzen Kleid verstreut. Er beerdigte sie da oben auf der kleinen Anhöhe oberhalb des Stalls. Die Pfeife aus Bruyèreholz steckte er unter die verschränkten Hände auf ihrer Brust. Nur Edith war dabei. Zusammen schaufelten sie den Sand auf den Holzsarg.
»Es sollte wenigstens ein Baum oder ein Busch da stehen«, sagte Edith. »Sie sollte Schatten haben, auch wenn es nur so ein Gedanke ist.«
Der Sarg war jetzt mit Erde bedeckt. Mein Dad war dabei, den Sand zu einem Erdhügel zu schaufeln und mit der flachen Seite der Schaufel glatt zu klopfen.
»Ich meine im Juli und August«, sagte Edith. »Ich mag nicht daran denken, dass sie dann hier oben liegt.«
»Wär aber ein verdammt weiter Weg, um Wasser herzuschleppen.«
»Einen Eimer pro Tag oder alle zwei Tage«, sagte sie. »Wir könnten uns abwechseln.«
»Und was für einen Baum?«
»Eine Pappel. Die wachsen schnell, und wenn ein bisschen Wind weht, hört man die Blätter rauschen und sich bewegen. Es sei denn, du würdest lieber etwas anderes haben.«
»Ich glaube, sie mochte Pappeln. Sie hat nie darüber gesprochen.«
»Du könntest eine vom Ufer des Arikaree bringen.«
»Heute Nachmittag hole ich eine«, sagte er. »Ich schätze, wir sind hier jetzt fertig.«
Sie standen auf der Anhöhe und schauten auf den kleinen Hügel aus feuchtem Sand, umgeben von Rutenhirse, Trespe und Salbei. Von dort, wo sie standen, konnten sie nach Süden hin das Haus sehen.
»Soll ich jetzt lieber gehen?«, fragte Edith. »Es macht mir nichts aus.«
»Nein. Warum?«
»Vielleicht willst du lieber allein sein.«
»Das werde ich sowieso sein, wenn ich ins Haus zurückgehe«, sagte er. »Nein, nein, es sieht gut aus, dass du hier bist. Du wärst sogar hübsch, wenn du nicht so viel feuchten Sand auf den Schuhen hättest.«
»Mach nur so weiter«, sagte sie.
»Und deine lange Nase sich nicht pellen würde.«
»Und was sonst noch?«, fragte sie. »Aber John, sie war doch eine gute Frau, nicht? Meine Mutter hat das immer gesagt. Sie war sehr wichtig für sie.«
»Klar, sie war für uns alle wichtig. Aber ich werde nie vergessen, dass der Mistkerl sie im Stich ließ.«
»Und dich auch. Er hat auch dich im Stich gelassen.«
»Für mich war es egal. Ich hatte immer sie. Aber sie hatte nichts – nur einen sechsjährigen Jungen und eine Farm, die er noch nicht mal fertig aufgebaut hatte. Dieser Schweinehund. Ich weiß nicht, wie sie das ausgehalten hat.«
»Manche Leute können es nicht«, sagte Edith. »Aber sie war anders. Sie war stark.«
»So stark hätte sie gar nicht sein müssen. Das meine ich. Er hat sie hier draußen im Stich gelassen – mit mir, einer Milchkuh und einem Pferd. Kann man sich so etwas vorstellen? Er hat sogar das verdammte zweite Pferd mitgenommen!«
»Morgen helfe ich dir, den Baum zu wässern«, sagte Edith.
Vielleicht war es das, worauf er gewartet hatte. Dass seine Mutter starb und Edith Goodnough ihm vorschlug, für Schatten zu sorgen. Jedenfalls pflanzte er eine Pappel, und sie wechselten sich ab mit dem Wässern – oder, besser gesagt, machten es zusammen: Jeder von ihnen trug am Abend einen Eimer voll zur Anhöhe hoch, und später baute er einen Zaum drumherum, und dann fingen sie an, zusammen in seinem Ford rauszufahren, mit Lyman auf dem Rücksitz.
Damals hieß es noch Gem Theater. Es stand auf der anderen Seite der Straße und etwa anderthalb Häuserblocks nördlich von dem Kino, das wir jetzt haben, dem Holt Theater. Vorne über seinem doppeltürigen Eingang ist nun ein Aushang, damit die Leute sehen können, was Blaine Fischer ihnen am Wochenende zur Unterhaltung anzubieten hat, aber man kann ihn nur lesen, wenn man über die Main Street nach Süden fährt, weil Blaine den Spielplan bloß auf der Nordseite des Displays ändert. Wahrscheinlich glaubt er, das sei genug Herumeiern auf der Leiter mit seinem dicken Bauch und seinen dünnen Beinchen und dem hohen Blutdruck. Die andere Seite des Aushangs lässt Blaine immer gleich: GENIESSEN SIE UNSER FRISCHES HEISSES POPCORN. Und man fragt sich, wie frisch und wie heiß es mittlerweile sein mag, wenn man bedenkt, seit wie vielen Jahren er dort dafür Werbung macht.
Ich kann mich nicht erinnern, ob das Gem Theater auch so etwas über der Tür hatte – wahrscheinlich nicht –, und 1922 gab es bestimmt noch keinen Tonfilm. Aber mein Dad und Edith und Lyman müssen dort trotzdem ihren Spaß gehabt haben, wenn die Lichter im Saal erloschen und die flimmernden Köpfe auf der Leinwand größer waren, als jeder menschliche Kopf sein konnte, und dann, bevor sie wussten, wie ihnen geschah, versuchte der Kerl mit dem Menjoubärtchen, die kleine Blondine an die Gleise oder an eine Kreissäge zu fesseln, und sie sah hilfesuchend direkt zu Lyman, der sein Popcorn kaute, und zu meinem Vater und Edith, die auf Ediths Schoß Händchen hielten, und auf ihrem hübschen Lippenstiftmund prangte dieser laute Schrei »Hilfe«. Manches war damals einfacher.
Aber im Spätsommer, nach einem dieser zwei oder drei Abende in der Stadt, nach dem Kino und einem Eis in Lexton’s Süßwarenladen nahm das, was gut angefangen hatte, ein böses Ende und verhinderte alles, was später noch hätte sein können. Sie fuhren in Richtung Süden nach Hause. Lyman schlief auf dem Rücksitz, den Kopf ans Fenster gelehnt. Als sie zu der Kreuzung kamen, an der sie nach Osten abbiegen mussten, um die Meile vom Highway bis zu den Goodnoughs zu fahren, weckten sie Lyman, und Edith bat ihn, den Rest des Weges zu Fuß zu gehen, aber nicht bis zum Haus, sagte sie, er solle auf sie warten, damit sie zusammen reingehen konnten.
»Tust du mir den Gefallen?«, fragte sie. »Machst du das für mich?«
»Und für John«, sagte er.
»Ja. Auch für ihn. Was ist daran so schlimm?«
»Nichts«, sagte Lyman. »Aber was, wenn Pa es mitkriegt?«
»Wird er nicht. Hier, ich geb dir meinen Mantel, um dich ins Gras zu legen.«
»Und wenn er es doch mitkriegt?«
»Keine Ahnung. Machst du es?«
Lyman stieg aus und sprach dann mit Edith durch das Fenster. Er stand so dicht am Wagen, dass sein Atem ihr Haar bewegte. »Vergesst nicht, mich abzuholen«, sagte er.
»Bestimmt nicht. Und danke, Lyman. Willst du meinen Mantel wirklich nicht haben?«
»Nein. Legt euch doch selbst drauf.«
»Sag so was nicht. Warum sagst du das? Was ist los mit dir?«
»Nichts ist los mit mir.«
»Was ist? Du hast doch was?«
»Besser, ihr beeilt euch«, sagte Lyman. »Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
Dann drehte er sich um und ging die Straße im Dunkeln entlang, vom Wagen weg. Mein Dad und Edith fuhren ein oder zwei Meilen weiter auf dem Highway nach Süden, dann bogen sie nach Westen ab in Richtung der Sandhügel.
»Er ist die ganze Zeit müde«, sagte Edith. »Hast du ihn auf dem Rücksitz gesehen? Morgen wird er einen steifen Nacken haben.«
»Lyman gehts gut«, sagte mein Dad. »Er müsste nur öfters ausgehen. Er braucht ein Mädchen, mit dem er rausfahren kann. Selbst wenn sie so viel Eis essen muss wie du. Mit Schokolade und Nüssen bestreut, als wäre es das letzte Eis ihres Lebens. Machen Sie schnell, Mister, und vergessen Sie die Serviette, ich hab keine Zeit für großes Trara.«
»Ach, sei still«, sagte Edith. »Ich hab nur ein einziges Eis gegessen.«
»Genau, nur eine kleine dreifache Portion.«
»Aber ich mag Eis nun mal. Und es war Erdbeer, nicht Nuss.«
»Na gut. Nächstes Mal bitte ich Lexton, dir je einen Eimer voll zu bringen. Soll er sie auf seinem Kopf tragen wie ein dressierter Affe. Da oben auf seiner niedlichen, flachen Glatze, die wie geschaffen ist, um derlei Dinge zu balancieren.«
»Tut er nicht. Und sie ist nicht flach, wie du sagst – sie ist zerfurcht.«
»Ist sie wohl. Flach wie ein Pfannkuchen. Da, wo seine Ma ihm mit der Schaufel eins übergebraten hat.«
»Hat sie nicht!«
»Und ob. Sie hat es ihm mit der Schaufel gegeben. ›Benimm dich‹, hat sie gesagt, ›und hör auf, ständig an deiner Hose rumzufummeln, sonst kriegst du noch mehr ab.‹«
»Wenn du nicht den Mund hältst, mach ich es genauso wie sie«, sagte Edith. »Jetzt sei still und pass auf, dass wir nicht im Straßengraben landen.«
»Ich will doch nur, dass du dein Eis kriegst, Edith. Du sollst nicht hungrig nach Hause zurück.«
»Ich hab genug Eis gehabt. Und ich will noch nicht nach Hause.«
»Das ist gut«, sagte mein Dad. »Ich auch nicht.«
»Trotzdem kann ich mir nichts davon für ihn vorstellen«, sagte Edith. »Du etwa?«
»Für wen? Bernie Lexton?«
»Nein. Lyman. Ich glaube, ich bin die einzige Frau, mit der er sich je unterhalten hat. Abgesehen von Mutter, meine ich.«
»Armes Schwein.«
»Ja. Aber nicht so, wie du meinst.«
Und so waren sie jetzt allein. Es war eins der wenigen Male, er hatte den Wagen auf der Landstraße angehalten. Hier gab es nur sandiges Hügelland, zu steil für Pflüge, deshalb hatten sie auf beiden Seiten nur Sonnenblumen, Salbei, Palmlilien und Moskitogras und, ich weiß nicht, vielleicht auch einen Mond. Jedenfalls hoffe ich, dass sie einen hatten, denn Edith Goodnough hatte es verdient, wenigstens einmal im Leben in seinem blassen blauen Licht angeschaut zu werden. Ich weiß, dass sie hohe Sterne hatten, die hell für sie funkelten, und ringsum nichts als Stille war. Wahrscheinlich hat mein Dad sie dann in die Arme genommen und geküsst, und es war sicher nicht einer dieser Küsse, wo man erst rausfinden muss, wo die Nase hingehört, und sich nicht mit dem Kinn in die Quere kommt, sondern einer, bei dem man diesen Teil schon hinter sich hat und weiß, wie der Mund mit dem des anderen verschmilzt, es schmeckt gut, und beide wollen mehr und kriegen auch mehr. Wahrscheinlich hat er sie geküsst, und sein Kuss wurde erwidert, und dann sind sie hoffentlich aus dem Wagen gestiegen. Ich will gern glauben, dass sie das taten, dass sie in der blassblauen Stille standen und dann zusammen vom Auto weggingen, auf den Hügel kletterten, bis sie eine Mulde im Gras fanden und sich auf seinen Mantel legten und leise miteinander sprachen, fast flüsternd, auch wenn sie nicht flüstern mussten, während er ihre weiche Bluse aufknöpfte und sie ihm in die Augen schaute und seine Augen ihr zeigten, dass er wusste, welches Geschenk sie ihm machte, und das Einzige, wovor er sich fürchtete, war, dass seine von der harten Arbeit schwieligen Hände dieses weiche blaue Weiß verletzen könnten, während sie die ganze Zeit überhaupt keine Angst hatte, sondern nur wartete und ihn still anschaute, in seine dunklen Augen schaute. Dann legte sie ihm ruhig eine Hand in den Nacken, und die andere fuhr ihm durch das schwarze Haar. Und ich will glauben, dass es so schön war, wie es manchmal sein kann, wenn man perfekt zusammenpasst, wenn beide sich wohl miteinander fühlen, denn auch das hatte Edith verdient.
Danach haben sie sich wahrscheinlich noch ein wenig weiter unterhalten, immer noch leise, in einem eher traurigen Flüsterton. Vielleicht hat Edith gefragt: »Was wird aus uns werden, John? Was soll ich jetzt machen?«
»Nun, wir werden heiraten.«
»Ich weiß nicht.«
»Wir werden heiraten. Uns ein schönes Leben machen.«
»Wirklich, das weiß ich nicht.«
»Ich bitte dich um deine Hand. Jetzt und hier. Ist es das, was du erwartest? Ich bin zu faul und zu glücklich, um auf die Knie zu gehen, aber du weißt, dass ich dich zu meiner Frau machen will.«
»Das meine ich nicht. Ich meine, wie soll ich das nur machen?«
»Mensch, Mädchen, du sagst jetzt einfach Ja, und etwas später sagst du: ›Ich will.‹ So läuft das.«
Da hat Edith sich vermutlich aufgesetzt und von seinem Arm gelöst, auf dem sie gelegen hatte, während er ihr Haar um seine Finger wickelte. Vielleicht hat sie angefangen, ihre Bluse und ihren Rock wieder anzuziehen.
»Ich meine Lyman. Er ist auch noch da.«
»Zum Teufel mit Lyman«, sagte mein Dad. »Er ist alt genug. Wie alt ist er jetzt – vierundzwanzig, fünfundzwanzig? Jedenfalls alt genug, um allein klarzukommen, oder etwa nicht?«
»Lyman ist dreiundzwanzig«, sagte Edith. »Seit dem sechsten Juni. Aber es ist keine Frage des Alters, und das weißt du auch. Es geht um ihn, die Art, wie er ist, und auch um mich. Ich musste immer für ihn da sein – gegen Daddy.«
»Ja, natürlich, das weiß ich. Ich habe es oft genug mitgekriegt. Aber bei Gott, Edith, du wärst doch bloß eine halbe Meile entfernt.«
»Es ist auch keine Frage von Meilen.«
»Was zum Teufel ist es dann?«
»Es ist auch Daddy. Verstehst du das nicht? Denk doch mal drüber nach, in welchem Zustand er ist. Seine Hände.«
»Ich will nicht über ihn nachdenken. Er ist ein verschrumpelter Kotzbrocken. Schon vor der Sache mit den Händen war er das.«
»Das ist nicht fair.«
»Es ist eine Tatsache, Edith. Er tut niemandem gut, nicht mal sich selbst.«
»Aber das spielt doch gar keine Rolle«, sagte Edith. »Oder? Ich kann es nicht ändern. Ich kann nur … Es ist wegen Mutter.«
»Um Gottes willen, Edith. Deine Mutter ist tot.«
»Das weiß ich. Genau das meine ich. Als Mutter starb, musste ich die Dinge übernehmen. Und du weißt ja, es spielte keine Rolle, ob ich das wollte oder nicht. Manchmal weiß ich schon gar nicht mehr, was ich mal gewollt habe oder nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Es dauert schon so lange. Im August ist es acht Jahre her, dass Mutter gestorben ist. Trotzdem, diese Dinge und diese Menschen hier, das bin ich. Ich habe die Verantwortung für sie übernommen. Mehr ist da nicht. Und außerdem, was würde aus Lyman werden?«
Was hätte mein Dad zu alldem sagen sollen? Er lag im Gras der Sandhügel, schaute ihr beim Sprechen zu, sah, wie das blasse Licht auf ihr hübsches Gesicht fiel, und vermutlich wusste er da schon, dass er den Kampf gegen die Erinnerung an eine zerbrechliche kleine Frau nicht gewinnen konnte, auch wenn diese Frau dünn und winzig, krank vor Heimweh gewesen und obendrein seit acht Jahren tot war. Aber vielleicht hatte er noch einen Grund zur Hoffnung – das nehme ich zumindest an –, deshalb änderte er möglicherweise seine Taktik und kam auf Ediths Verpflichtung Lyman gegenüber zu sprechen, vielleicht glaubte er, zumindest den Kampf gegen einen dreiundzwanzigjährigen, trägen, schrägen Bruder gewinnen zu können. Wahrscheinlich hat mein Dad dann im Scherz so was gesagt wie: »Na schön, verdammt. Wenn es sein muss, kann Lyman zu uns ziehen. Ich grabe noch ein Loch für ihn im Plumpsklo.«
»Was? Sei nicht albern.«
»Und er kriegt seinen eigenen Sears- und Roebuck-Katalog. Wir werden ihn nicht stören. Wir werden nicht mal mitkriegen, wie er alle Seiten aufbraucht, bis auf diejenigen mit den Korsetts und den Frauenstrümpfen. Er kann so lange da draußen hocken, wie er will – wir werden uns nicht drum kümmern.«
»Du tust mir einfach gut«, sagte Edith.
»Na klar. Der gute Lyman wird eine Menge Schwein haben, wenn er zu uns zieht.«
Edith fasste sich ins Haar, um sicherzugehen, dass sich keine Grashalme mehr darin verfangen hatten. »Gib mir noch einen Kuss«, sagte sie. »Und hör auf, von Plumpsklos und Schweinen zu reden.«
Dann liefen sie zurück, ließen die Sandhügel hinter sich, wo sie eine Weile mit dem Salbei und dem blauen Licht allein gewesen waren, fuhren auf dem Highway wieder nach Norden und bogen an der Ecke Richtung Osten ab, fast eine Meile weit, bis sie das Gelände der Goodnoughs erreichten und Lyman suchten. Doch sie fanden ihn nicht, jedenfalls nicht sofort. Sie mussten den Wagen anhalten und ihn im hohen Gras am Wegesrand suchen, sahen ihn aber erst, als sie die Scheinwerfer des Wagens wieder einschalteten. Und selbst dann nicht sofort. Er lag knapp sechs Meter vom Feldweg entfernt auf der Seite, zusammengerollt wie ein kleines Kind. Speichel rann ihm übers Kinn. Edith wischte ihn ab.
»Bist du jetzt wach?«, fragte sie.
»Wo ist Pa?«
»Im Haus. Los, komm jetzt. Schaffst du es bis zum Wagen?«
Mein Dad fuhr sie auf den Hof und drückte noch einmal Ediths Hand, bevor sie ausstiegen. Dann fuhr er die halbe Meile zu sich nach Hause zurück, und Edith und Lyman gingen zusammen ins Haus. Roy wartete in der Küche auf sie. Er saß in seinem Overall und langer Unterhose am Küchentisch, die verstümmelten Hände mit dem einen gesunden Finger auf der weiß lackierten Holzplatte vor sich. Manches war damals doch nicht einfacher.
»Geh nach oben«, sagte er zu Lyman.
Lyman schaute Edith an. Er war jetzt wieder hellwach und aufmerksam, ging aber trotzdem nach oben. Wieder einmal hatte sich das Scheunentor vor seiner Nase geschlossen.
»Damit ist jetzt Schluss«, sagte Roy zu Edith. »Du hast genug von diesem Roscoe gehabt.«
Edith stand auf der anderen Seite des Tischs und wartete, sah zu, wie ihr Vater mit dem kleinen Finger über die Stummel der rechten Hand strich. Der Finger sah aus wie eine Klaue, die totes Fleisch harkt.
»Ich habe gesehen, wie er den Wagen angehalten hat«, sagte Roy. »Ich habe gesehen, wie die Scheinwerfer auf der Straße aus- und wieder angegangen sind. Aber das hat jetzt ein Ende.«
»Ich bin fünfundzwanzig«, sagte Edith.
»Das heißt gar nichts.«
»John ist zweiunddreißig.«
»Auch das heißt nichts. Er ist ein Halbblut, ein Bastard, und das hat jetzt ein Ende.«
»Er ist keins von beiden.«
»Wenn ich es sage, dann ist er es, verdammt. Und du bist seine Hure. Jetzt mach, dass du ins Bett kommst. Nach diesem Abend musst du ganz schön erledigt sein.«
»Halt den Mund, Daddy. Du weißt ja nicht, was du sagst.«
Da stand Roy auf, und der Stuhl fiel polternd hinter ihm auf den Holzboden. Er beugte sich über den Tisch und holte mit seinem Finger aus, doch sie trat einen Schritt zurück.
»Du wirst mir nicht den Mund verbieten«, brüllte er. »Ich bin dein Vater. Und ich sage, was ich will, verflucht nochmal. Ich hab gesagt, du sollst ins Bett gehen. Auf der Stelle.«
»Ich gehe ins Bett«, sagte Edith. »Aber das höre ich mir nicht länger an.«
»Es ist mein Haus. Ich habe es gebaut. Und hier sage ich, was ich will. Hast du verstanden?«
»Es ist auch mein Haus. Oder Lymans. Und es war Mutters Haus, bevor sie starb.«
»Ich wünschte, sie könnte dich jetzt sehen. Sie wäre entsetzt über deinen gottverdammten Anblick.«
»Nein, wäre sie nicht«, gab Edith zurück. »Garantiert nicht.«
»Bei Gott, sag du mir nicht … du gottverfluchtes …«
Da ließ Edith ihn einfach stehen – er völlig von Sinnen, mit wildem Blick, den Stumpf schwenkend –, ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer und stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Er brüllte noch immer hinter ihr her. »Das hat jetzt ein Ende, hast du verstanden? Verfluchtes Roscoe-Flittchen, damit ist Schluss. Das wars. Du Hure! Hast du verstanden?«
Am nächsten Tag beließ es Roy nicht bei Worten. Als Edith am Nachmittag in der Küche saß und Bohnen palte und Lyman auf dem Feld Heu stapelte, trat Roy Goodnough mit seinem Stiefel den Hackklotz um und rollte ihn mit den Handballen über den Hof in die Scheune. Dort richtete er ihn unter einem Querbalken in der Mitte der Scheune wieder auf. Der Klotz war der abgesägte Stumpf einer Ulme mit tiefen Kerben von den Axthieben und Flecken von dunklem, getrocknetem Blut, wo man den Hühnern den Hals abgehackt hatte. Roy warf ein Hanfseil über den Querbalken und band eine schwere Axt daran, die, wenn sie fiel, tief in den Hackklotz eindringen würde.
Er experimentierte zweimal damit, zog die Axt fast bis zum Querbalken hoch, damit sie genug Schwung aufnahm und beim Herabstürzen das tun würde, was er wollte. Dann zog er sie noch ein letztes Mal hoch und klemmte sich das Seil zwischen den rechten Ellbogen und den Brustkorb. Die Axt schwebte über ihm in der staubigen, von Pferdemist geschwängerten Luft. Er wartete, bis sie ganz still hing und nicht mehr hin und her pendelte. Eine gesprenkelte Taube saß auf einem hohen Dachsparren und beobachtete, wie er seinen kleinen Finger auf den Hackklotz legte und das Seil losließ. Die Taube blinzelte mit ihrem rosa Auge, als die Axt fiel und bei ihrem dumpfen Aufprall den Finger auf dem Block abtrennte.
Doch hackte sie ihm nicht bloß den Finger ab. Vielleicht hatte er sich ein wenig bewegt, als er das Seil unter dem Ellbogen losließ und dann zusah, wie die Axt fiel und fiel und zu lange brauchte, um zu fallen. Vielleicht hatte er nicht genügend experimentiert. Was auch immer schieflief, die Axt durchstieß den oberen Handknochen und zersplitterte ihn, zerfetzte Knochen, Gelenk und Knorpel. Aber wahrscheinlich hat es ihn trotzdem befriedigt.
Er klaubte den zuckenden Finger vom Hackblock, als wäre es der Kopf eines Huhns, klemmte ihn zwischen die Handstümpfe, trug ihn blutverschmiert in die Küche und ließ ihn in die Schale mit den gepalten Bohnen auf dem Tisch vor Edith fallen. Zuerst rührte sich Edith nicht, sie sagte kein Wort. Der Finger blutete ein bisschen zwischen den Bohnen. Dann sah sie von der Schale zu ihrem Vater auf.
»Die Mühe hättest du dir sparen können«, sagte sie. »Ich hatte bereits gestern Abend entschieden, dass ich hier nicht weg kann.«
Dann stand sie auf und trat zu der Küchenschublade, in der sie den Verbandkasten aufbewahrte, kippte ein wenig Alkohol über seine Hand und wickelte einen Verband darum, um die Blutung zu stillen.
»Die Wunde wird sich wahrscheinlich entzünden«, sagte sie. »Vermutlich solltest du noch einmal Doc Packer aufsuchen, aber ich werde dich nicht begleiten. Ich war da schon einmal. Und ich hätte John Roscoe heiraten können. Ich hätte ihn heiraten können. Es ist mir egal, was du sagst. Er wollte mich, und ich hätte Ja sagen können. Bei Gott, ich hätte es tun können. Scher dich zum Teufel.«
Sie weinte. Aber man merkte es nicht. Der Punkt, an dem der ohnmächtige Klang einer Menschenstimme etwas hätte ausrichten können, war überschritten. Sie ging aus dem Haus, weg von ihrem Vater zur Heuwiese, um Lyman Bescheid zu sagen, und die Tränen fielen unbeachtet auf ihre Bluse. Ich weiß nur von zwei weiteren Gelegenheiten, bei denen sich Edith Goodnough Tränen erlaubte. Der Tod ihres Vaters gehörte nicht dazu.