Dom

»Bist du sicher, Dom?«, hallt Jacks Stimme durch meinen Kopf, und mein Gesicht verfinstert sich.

Am liebsten würde ich ihm seine verdammte Fresse polieren. Ja, ich verstehe, dass seine Frau – Ex-Frau – so weit gegangen ist, ihn ans Messer zu liefern. Hab ich kapiert. Aber Becca ist nicht wie seine Frau. Sie ist keine miese Ratte. Ich hab sie in diese Scheiße reingeritten. Sie kann überhaupt nichts dafür.

Deshalb ist Jacks Andeutung auch unverzeihlich. Als ich mich zu ihm umdrehe, starre ich ihm mit meinem härtesten Blick direkt in die Augen, und mein Tonfall ist tödlich, als ich ihm antworte. Was ich ihm zu sagen habe, soll klar und unmissverständlich bei ihm ankommen. »Wenn sie irgendwer anfasst oder auch nur damit droht, ihr oder ihrem Sohn irgendwas anzutun, schlitze ich dir persönlich die Kehle auf.«

»Jetzt krieg dich mal wieder ein, Dom.«

Ich blicke zu meinem Vater hinüber, als hätte er das gerade gesagt, aber er ist derjenige, der mich davon abhält, Jack plattzumachen. Ich habe die Hände so fest zusammengeballt, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten. Wie zur Hölle kann Jack auch nur darüber nachdenken, dass wir Becca töten sollten?

»Sie hat einfach nur ’ne Menge gesehen, deshalb.«

Er lehnt sich gegen die Bücherwand, und ich drehe ihm erneut den Kopf zu, ganz langsam, bevor ich ihn ein weiteres Mal mit meinem Blick durchbohre. Vince, Pops, Jack und ich sind im Büro. Pops’ Büro. Ein dämmriger Raum mit dicken Vorhängen und dunklen Nussbaumregalen an den Wänden, die bis zum Bersten mit Büchern gefüllt sind. Pops liest gern, aber er versteckt auch gern Sachen. Ich weiß, dass einige der Bücher nur dort stehen, um seine Geheimnisse zu verbergen. Welche Bücher und welche Geheimnisse das sind, weiß ich allerdings nicht.

Vince tigert an der Tür auf und ab, die Hände in den Taschen vergraben und den Kopf gebeugt, sodass er beim Laufen den antiken Teppich betrachtet. Nicht mal, als er Jack antwortet, hebt er den Blick. »Sie ist doch noch gar nicht aus dem Koma erwacht. Wir wissen nicht, was sie gesehen hat.«

»Aber während der Schießerei war sie bei Bewusstsein. Es spielt keine Rolle, dass ihr sie gerettet habt. Sie könnte jederzeit plaudern. Und uns ans Messer liefern.«

Mein Vater stemmt seine Hände gegen meine Brust und dann gegen meine Schultern, um mich in den Stuhl zu pressen, der vor seinem Schreibtisch steht. Mir ist für einen Moment die Luft weggeblieben, und nun rauscht Adrenalin durch meine Adern.

»Das reicht jetzt, Jack!«, herrscht Pops meinen »Ziehvater« an, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich spüre, wie sein Blick mich durchbohrt, aber ich sehe ihn nicht an. Stattdessen feuere ich tödliche Blitze auf Jack ab. Ich habe ihm gesagt, dass er sein verdammtes Maul halten soll. Ist mir scheißegal, dass er der Underboss ist, und das weiß Pops auch. Jacks Tage sind gezählt. Ich werde es nicht zulassen, dass jemand, der auch nur seinen kleinen Finger an meine Frau legt, jemals wieder atmet.

Verärgert schiebe ich Pops von mir, lehne mich in meinem Stuhl zurück und verschränke die Arme. Ich kann keine neutrale Miene aufsetzen. Ich sehe angepisst aus, weil ich nun mal verdammt angepisst bin. Aber ich kann warten, auf einen günstigen Moment. Dass ich De Luca am Leben lasse, ist allerdings ausgeschlossen.

»Du musst dich wieder beruhigen, Dom. Und dann denk noch mal in Ruhe alles durch.«

Die Stimme meines Vaters klingt so verdammt friedlich und gelassen. Finster starre ich ihn an. Das meint er doch wohl hoffentlich nicht ernst. Auf seinem Gesicht breitet sich Entsetzen aus, als ihm klar wird, was er da gesagt hat, und er beeilt sich, weiterzusprechen. »Über deine Wut auf Jack, meine ich. Beruhige dich erst mal, und dann mach dir Gedanken.«

Meine harten Schultern entspannen sich etwas, und schließlich nicke ich. Er redet davon, dass ich Jack nicht an die Gurgel gehen soll. Gott sei Dank. Keine Ahnung, was ich machen würde, wenn er von meinem Kätzchen gesprochen hätte. Ich schlucke schwer und fahre mir mit den Händen durchs Haar, bevor ich die Finger in meinen Schopf kralle und mich wieder zurücklehne. Blicklos starre ich die Bürodecke an.

Ich kriege dieses Bild von ihr, wie sie dort hing, nicht aus dem Kopf. In ihrem Gesicht sind lauter Blutergüsse. In ihrem Auge, auf ihrer Wange. Offensichtlich hat sie sich mehrfach den Kopf gestoßen, als sie versucht hat, ihn auf dem Rand dieses Industriestahlbeckens aufzustützen. Aber es geht noch um mehr als das: Die Prellungen und das ganze Blut zeugen davon, wie übel diese Wichser sie zugerichtet haben. Und das alles meinetwegen.

Becca liegt in meinem Schlafzimmer – meinem alten Zimmer im Haus meiner Eltern. Nur ein paar Türen von Pops’ Büro entfernt. Bisher ist sie noch nicht wach geworden, und das macht mir eine Scheißangst. Ihre Haut war eiskalt und leichenblass. Als der Doktor sie ausgezogen hat, habe ich die Messerschnitte an ihren Beinen gesehen. Die Arschlöcher kannten keine Gnade. Mir steigen Tränen in die Augen, aber ich dränge sie zurück. Das ist alles meine Schuld. Weil ich meinen Schwanz nicht in meiner Hose lassen konnte.

Jax ist unten und spielt mit Gino. Ich bin froh, dass die beiden sich auf Anhieb verstanden haben. Jimmy hat irgendwelche ferngesteuerten Monstertrucks mitgebracht, und die Kinder haben einen Heidenspaß dabei, die Autos gegeneinander krachen zu lassen. Natürlich fragt Jax immer wieder nach seiner Mutter und blickt sich ganz ängstlich um, aber Ma kümmert sich um ihn. Ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass er seine Mom in diesem Zustand sieht. Schließlich soll er keinen Schock fürs Leben bekommen. Ich muss den Kleinen so gut wie möglich beschützen. Zum Glück ist Paulie der Einzige, den diese Mistkerle erwischt haben, und er wurde nur am Bein getroffen. Doc konnte die Wunde mit ein paar Stichen nähen. Ein paar Tage Ruhe mit etwas Whisky, und Paulie wird wieder ganz der Alte sein.

»Worüber du dir wirklich Gedanken machen solltest, sind De Luca und seine Gang«, hallt Pops’ Stimme durchs Büro.

Die sind uns verdammt noch mal entwischt. Sie haben auf uns gewartet, um uns in einen Hinterhalt zu locken. Aber sie haben nicht mit so vielen von uns gerechnet. Abgehauen sind sie, diese Feiglinge. Und wir haben einen von ihnen erwischt, wobei es schwer ist, einen Toten zu verhören. Aber wenigstens kennen wir jetzt ihr Territorium und wissen, wo sie sich aufhalten. Es ist so was von vorbei für sie.

»Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich euch gesagt, dass ihr euch aufteilen sollt«, mischt Jack sich erneut ein.

Er wird mit Schweigen bestraft. Er ist nicht der Boss. Das weiß er genau, und Pops weiß das auch. Trotzdem lässt mein Vater ihm diesen Mist aus irgendeinem Grund durchgehen. »Einer muss immer draußen warten.«

»Hätten wir uns aufgeteilt, wären die Wichser vielleicht nicht abgehauen. Aber dann wären wir auch nicht so viele Männer gewesen.« Erst jetzt blicke ich ihn wieder an. »Ich habe diese Anweisung gegeben, und ich stehe verdammt noch mal dazu.« Ich lehne mich in meinem Stuhl vor. »Außerdem war Pops dabei«, bedeutsam sehe ich meinen Vater an, »und hätte er ein Problem damit gehabt, hätte er es gesagt.«

Mein Vater nickt zustimmend.

»Sollten wir zum entscheidenden Schlag ausholen, können wir das nun zu unseren Bedingungen tun. Aber in diesem Fall waren wir nur dort, um Becca da rauszuholen. Sonst nichts.«

Pops drückt meine Schulter, bevor er um seinen Schreibtisch herumgeht und sich in seinen ledernen Ohrensessel sinken lässt. Nachdenklich verschränkt er die Hände und stützt die Ellbogen auf der Mahagoniplatte auf. Er formt ein Dach mit den Fingern und legt die Spitzen an seine Lippen. »Vorher mussten wir uns ruhig verhalten, wegen dir, Jack. Jetzt nicht mehr.«

Ich schüttle den Kopf. »Dazu bin ich noch nicht bereit. Ich gehe nirgendwohin, solange ich nicht weiß, ob sie wieder auf die Beine kommt.«

»Seit wann kommst du bei Außenmissionen mit.«

Pops formuliert diesen Satz nicht als Frage. Oder zumindest ist dies nicht die Frage, die er eigentlich stellt. Er weiß, dass ich mich auf jeden Fall an De Luca und seinen Männern rächen werde. Aber so was habe ich bisher noch nie gemacht. Ich gehe nicht auf die Straße. Ich habe mein eigenes Geschäft. In der Familie bin ich nur, weil er der Boss ist. Ich habe mein Wettbüro, und das reicht mir. Ich kümmere mich um die Bücher der Familia, sodass ich dazugehöre, aber mehr nicht.

»Die Dinge ändern sich«, sage ich, schaffe es jedoch nicht, Pops dabei in die Augen zu sehen.

Ein Klopfen an der Tür unterbricht uns.

»Herein«, ruft Pops und verschiebt damit dieses Gespräch, das ich gar nicht unbedingt führen will.

Der Doktor kommt ins Zimmer und schließt leise die Tür hinter sich. Er ist ein älterer Herr mit kurzem, weißem Haar und blassblauen Augen, die von einem Kranz aus hart erarbeiteten Fältchen umgeben sind. Durch seine Brille wirkt er sehr erhaben, obwohl er eine verwaschene Jeans und einen dünnen Pulli mit V-Ausschnitt trägt.

Er ist nicht zum ersten Mal hier, und es wird sicher auch nicht das letzte Mal sein. Vor fast zehn Jahren hatte sein Sohn Probleme mit einer Gang von der West Side, und er hat meinen Vater um Hilfe angefleht. Pops erkennt einen guten Menschen auf Anhieb, und davon abgesehen ist es praktisch, einen Arzt zu kennen, der auch kurzfristig und gegen Barbezahlung Hausbesuche abstattet.

»Sie ist jetzt stabil, und soweit ich das erkennen kann, hat sie nur äußere Verletzungen.«

»Wird sie wieder ganz in Ordnung kommen?«

»Ja, davon bin ich überzeugt.«

»Haben die …?« Ich kann die Frage nicht aussprechen. Beklommen schlucke ich und suche im Blick des Arztes nach der Antwort. Er versteht, was ich fragen wollte.

»Eine Vergewaltigung konnte ausgeschlossen werden.«

Bei seiner Antwort zucke ich innerlich zusammen, nicke jedoch und stoße die Luft aus, die ich, ohne es zu merken, angehalten hatte. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich nicht verhindern konnte, was diese Wichser ihr angetan haben. Aber gleichzeitig bin ich wahnsinnig erleichtert, dass sie Becca nicht auf diese Weise misshandelt haben. Sie hat das alles nicht verdient. Und sie hat definitiv jemand Besseren verdient als mich, aber nach dem, was passiert ist, kann ich sie einfach nicht gehen lassen. Noch nicht. Die wissen, wo sie wohnt. Wo sie arbeitet. Der Doktor und Pops wechseln noch ein paar Worte, doch ich höre ihnen nicht zu. Ich bin immer noch mit den Gedanken daran beschäftigt, dass Becca wieder in Ordnung kommt.

Gerade ist sie allerdings allein. Das gefällt mir nicht. Ich will bei ihr sein, wenn sie aufwacht. Abrupt stehe ich auf, um zu ihr zu gehen. »Wo willst du hin?«, fragt Jack mich, als ich schon den Türknauf in der Hand habe.

Was zum Teufel denkt er denn? Einen Moment starre ich ihn finster an, damit er unter meinem Blick zusammenschrumpft. Ich habe nicht vergessen, was er gesagt hat. Und er sollte besser nicht vergessen, was ich ihm gesagt habe. Wenige Sekunden später verlasse ich den Raum und schließe die Tür etwas heftiger, als ich sollte.

Ich wünschte, Jacks beschissener Kopf wäre dazwischen gewesen. Mühsam schüttle ich meinen Ärger ab und versuche, mich zu beruhigen. Falls sie schon bei Bewusstsein ist, wird sie es sicher nicht besonders angenehm finden, wenn ich wütend zu ihr ins Zimmer stürme.

Vorsichtig öffne ich ihre Tür und schleiche mich in mein altes Kinderzimmer. Nicht dass es noch so aussehen würde wie damals. Mittlerweile stehen auf meinem Schreibtisch keine Schulbücher mehr, sondern Statistik- und andere Sachbücher, ordentlich aufgereiht am hinteren Ende. Davon abgesehen befindet sich nichts mehr darauf. Genauso, wie ich es mag. Der Tisch ist aus solidem Ahornholz gefertigt und hat die Farbe von dunklem, gebeiztem Espresso. Es ist ein moderner Stil, der sich auch in der übrigen Einrichtung des Raums widerspiegelt. Mein Bettzeug ist strahlend weiß, während die Wände in einem kühlen Grau gestrichen sind. Das Einzige, was diesem Zimmer vielleicht eine persönliche Note verleiht, ist ein vergrößertes Foto, das in einem schlichten Rahmen an der Wand hängt. Darauf ist ein abstraktes Motiv mit Farbexplosionen zu sehen. Keine Ahnung, warum es mir gefällt. Aber es ist so. Abgesehen von dem Bild strahlt mein Zimmer Ordnung und Disziplin aus. Nur dadurch bin ich erwachsen geworden. Und habe es geschafft, nicht in die Mafia einzusteigen.

Im Bett liegt mein Kätzchen. Durch das weiße Bettzeug wirkt es, als hätte sie wieder etwas Farbe bekommen – ein Anblick, für den ich wirklich dankbar bin. Sie liegt vollkommen bewegungslos da, die Arme an den Seiten und die Augen geschlossen. Ohne den Farbkontrast würde sie aussehen, als wäre sie tot. Ich ziehe den Schreibtisch zum Bett, setze mich neben sie und nehme ihre Hand. Sie ist warm. Müde sehe ich zu, wie ihre Brust sich sanft hebt und senkt. Es kommt mir vor, als würde mein Herzschlag langsamer werden, um sich ihrem Rhythmus anzupassen.

Ihr Gesicht ist immer noch mit Blutergüssen übersät, genau wie ihre Arme – und der Rest ihres Körpers. Und was noch schlimmer ist: An den Stellen rund um ihre Knöchel, wo die Stricke ihre Haut abgeschürft haben, könnten eventuell Narben zurückbleiben. Auf dem Nachttisch neben dem Bett liegen Salben und Bandagen. Der Doktor hat sie damit behandelt, bevor er gegangen ist, doch ab jetzt werde ich das übernehmen. Ich werde dafür sorgen, dass sie keine Narben davonträgt. In keinerlei Hinsicht. In diesem Moment atmet sie tief ein und zuckt vor Schmerz zusammen. Ich weiß, dass sie Schmerzmittel bekommen hat, aber vielleicht nicht genug.

»Becca?« Meine Stimme klingt genauso hoffnungsvoll, wie ich mich fühle. Ich will, dass sie aufwacht. Dass sie mir alles erzählt. Und ich will mich bei ihr entschuldigen.

Langsam öffnen sich ihre Augenlider, und sie wirkt benommen, entweder von einer Gehirnerschütterung oder den Medikamenten. Vielleicht ist sie auch einfach nur erschöpft. Ich führe ihre Hand an meine Lippen und küsse ihre Fingerknöchel, während ich den Blick auf ihr Gesicht gerichtet lasse. »Ich bin da, Kätzchen. Du bist in Sicherheit.«

Zögernd blinzelt sie und dreht den Kopf, sodass ihre Wange gegen das Kissen reibt. Es dauert einen Moment, doch dann trifft ihr Blick auf mich. Ihre Augen scheinen sich etwas zu weiten, aber sie ist immer noch benebelt.

»Jax.« Der Name ist kaum mehr als ein Flüstern.

Beruhigend lächle ich ihr zu. »Er ist unten und spielt. Er weiß nicht, was passiert ist.«

Sie schließt die Lider und atmet hörbar auf, bevor sie die Augen ein weiteres Mal langsam öffnet. »Danke.« Geschwächt drückt sie meine Hand. Dann dreht sie den Kopf weg und stöhnt erneut vor Schmerz auf, bevor sie ins Nichts starrt. »Es tut mir leid.«

»Du musst dich für nichts entschuldigen.« Meine Kehle wird so eng, dass ich husten und mich räuspern muss. »Es ist alles meine Schuld, Kätzchen. Mir tut es leid.« Ich hasse die Tatsache, dass ich mich entschuldigen muss. Nicht, weil es unberechtigt wäre, sondern weil sie durch mich erneut verletzt wurde.

Langsam schüttelt sie den Kopf, bevor sie tief und zittrig Luft holt. Dann reibt sie sich die Augen und versucht aufzustehen, doch ich schiebe sie behutsam an den Schultern zurück ins Kissen.

Sie starrt mich an, als hätte ich sie geschlagen. »Ich muss zu Jax.«

»Er ist unten.« Wenn sie wirklich glaubt, dass ich sie gerade irgendwohin gehen lasse, hat sie sich geschnitten.

»Ich muss ihn nach Hause bringen.«

Vergiss es. Das wird nicht passieren. »Ihr kommt heute Abend mit zu mir.« Vor der Fahrt graut es mir jetzt schon, aber wir werden nicht bei meinen Eltern bleiben. Ich habe ein Haus und Gästezimmer für sie und Jax. Ich werde mich um die beiden kümmern.

Sie drückt mich weg, scheint dann jedoch über meinen Vorschlag nachzudenken. »Meinst du, die kommen wieder?«

»Die werden dir nie wieder wehtun. Ich werde sie finden und das erledigen.«

Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Ich kann doch nicht die ganze Zeit hierbleiben«, sagt sie gequält.

»Keine Angst, Becca. Ich kümmere mich um alles.«

Wieder schüttelt sie den Kopf. »Du verstehst mich nicht. Ich habe einen Job. Jax muss zur Schule und zum Fußballtraining. Ich habe ein Leben.« Angestrengt holt sie Luft. »Ich hatte ein Leben.« Sie zieht die Knie an die Brust, rollt sich zur Seite und vergräbt das Gesicht in den Händen. Schluchzend liegt sie da, und ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Keine Ahnung, was ich ihr sagen soll.

Sie kann nicht einfach so zur Arbeit gehen. Wenn sie sich im Spiegel sieht, wird sie es vermutlich sowieso nicht mehr wollen. Sie kann auch nicht nach Hause gehen. Ich kann sie nicht aus den Augen lassen. Noch eine Gelegenheit, ihr wehzutun, werde ich diesen Arschlöchern ganz sicher nicht geben.

»Handy!« Sie setzt sich so rasch auf, dass ich sie nicht mehr aufhalten kann.

»Kätzchen, leg dich wieder hin«, versuche ich, sie zu überzeugen, doch sie ist bereits aufgestanden, hat sich die Bettdecke um die Brust gewickelt und blickt sich im Zimmer um, auf der Suche nach ihren Sachen.

»Ich brauche mein Handy und meine Klamotten.«

Ist sie irre? »Du musst dich ausruhen und es langsam angehen lassen.«

Protestierend schüttelt sie den Kopf, doch wenigstens bleibt sie stehen. »Ich brauche mein Handy«, wiederholt sie.

Schließlich nehme ich das Telefon vom Nachttisch und gebe es ihr.

»Wo sind meine Sachen?«, fragt sie, ohne vom Handy aufzusehen.

»Im Müll.«

Sofort hebt sie den Blick.

»Ich kaufe dir neue.«

»Das brauchst du nicht. Das kann ich selbst.«

Die Art, wie sie das sagt, versetzt mir einen Stich.

»Ich will einfach nur nach Hause. Da ist so viel liegen geblieben.«

Noch während ich sie anstarre, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank, klopft es leise an der Tür, bevor sie direkt geöffnet wird und der Doktor hereinkommt. Seine buschigen weißen Augenbrauen heben sich, als er sieht, dass Becca sich nicht im Bett befindet.

»Mrs Harrison?«, fragt er streng.

Sie blickt ihn mit großen Augen an, bis ihr Handy piept und sie sofort anfängt, darauf herumzutippen. Offensichtlich läuft da gerade etwas ganz gewaltig schief in ihrem Hirn.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle? Ich müsste Sie auch noch mal untersuchen, jetzt, da Sie wieder bei Bewusstsein sind.«

»Mir geht’s gut. Wirklich, alles gut.«

Zweifelnd hebe ich eine Augenbraue. Wie zur Hölle kann sie sagen, dass es ihr gut geht nach dem ganzen Scheiß, den sie durchgemacht hat? Und wem zur Hölle schreibt sie da? Entschlossen stehe ich auf, fasse sie um die Taille und schiebe sie zurück zum Bett. Sie versteift sich in meinen Armen, wehrt sich aber nicht. »Du musst dich wieder hinlegen, Kätzchen. Mit dir ist nicht alles gut.« Ich schiebe sie aufs Bett, doch sie richtet sich sofort wieder auf und klemmt sich die Decke unter die Achseln, das Telefon immer noch in der Hand.

»Wem schreibst du da?«, frage ich schließlich, und sie blickt mich trotzig an.

»Sarah. Ich wollte mich vergewissern, dass alles gut läuft. Aber das tut es nicht!«

»Mrs Harrison …«

»Hören Sie auf, sie so zu nennen!«

»Hören Sie auf, mich so zu nennen!«, blaffen wir den Arzt gleichzeitig an. Na wenigstens bei einer Sache sind wir uns einig.

»Dann … Rebecca?«

»Becca«, korrigiere ich ihn, bevor sie etwas sagen kann.

»Ah ja. Becca, darf ich Sie dann kurz untersuchen und Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Sie presst die Lippen zusammen und nickt kaum merklich. Wieso verhält sie sich so? Sie ist gerade erst entführt und zusammengeschlagen worden. Fast wäre sie sogar gestorben. Verschweigt sie irgendwas? Ja, das muss es sein. Als sie das Handy aufs Bett legt, schnappe ich es mir sofort. Ein Klick auf die Home-Taste, und auf dem Display erscheint das Eingabefeld für die PIN . Gerade will ich sie danach fragen, als mir das Geburtsdatum ihres Sohns wieder einfällt, das in Tonys Unterlagen stand. Einen Tag vor dem Geburtstag meiner Mutter. Ich tippe 0405 ein, und im nächsten Moment wird das Display freigegeben. Beccas Augen weiten sich, und sie schiebt trotzig das Kinn vor.

»Schreib ihr noch nicht zurück. Ich muss mir erst noch was überlegen.« Sie atmet schwer. »Ich denke mir irgendeine Ausrede aus.«

Stirnrunzelnd lese ich mir die Textnachrichten von »Sarah Assistentin« durch. Es sind einige Dutzend. Herrgott, wie kann man in den paar Stunden so viele Fragen stellen? Die letzte lautet: »Wo bist du???«, und alle anderen Fragen hat Becca bereits beantwortet.

»Du wirst ihr gar nichts erzählen«, sage ich bestimmt, stecke das Handy in die Tasche meiner Jogginghose und verschränke die Arme vor der Brust. »Du wirst hier im Bett liegen bleiben, dich untersuchen lassen und dich anschließend ausruhen, damit du wieder auf die Beine kommst.«

»Mir geht’s gut.«

Doktor Koleman ist damit beschäftigt, ihren Puls zu messen, und beachtet uns nicht.

»Dir geht’s nicht gut.« Ich will ja nicht alles aufzählen, was heute passiert ist, aber wie zum Donner kann sie glauben, dass es ihr gut geht?

Der Arzt nimmt das Stethoskop, das er um den Hals trägt, und weist Becca an, sich aufzusetzen und einzuatmen. Na, wenigstens hört sie ihm zu, wenn sie mich schon ignoriert.

»Okay, Becca, wie fühlen Sie sich?«, fragt er schließlich und nimmt in dem Stuhl neben dem Bett Platz, in dem ich eben noch gesessen habe.

»Sag jetzt nicht ›gut‹«, schneide ich ihr das Wort ab, als sie den Mund öffnet, und werfe ihr einen mahnenden Blick zu.

»Es fühlt sich alles etwas angeschlagen an, vor allem mein Brustkorb«, sagt sie ruhig, doch der Doktor unterbricht sie.

»Zwei Ihrer Rippen sind gebrochen. Sie müssen den Oberkörper stützen und sich ausruhen, damit sie heilen können.«

Verwirrt blickt Becca den Arzt an, dann schüttelt sie den Kopf. »Nein, so schlimm ist es doch gar nicht.« Ihre Stimme klingt ganz schwach, aber es schwingen deutliche Zweifel über die Aussage des Arztes mit.

Der Doktor runzelt die Stirn. »Ich bin mir sicher, dass sie gebrochen sind. Sie stehen momentan unter Schmerzmitteln. Kodein. Bis die Brüche richtig verheilt sind, wird es mindestens sechs Wochen dauern. Sie müssen ja nicht den ganzen Tag im Bett bleiben, das ist schon in Ordnung. Aber Sie müssen es langsam angehen lassen. Außerdem sollten Sie alle zwei Stunden mehrmals tief ein- und ausatmen, um zu verhindern, dass Ihre Lunge weiteren Schaden nimmt.«

Sie atmet tief ein, als wollte sie das Gesagte direkt überprüfen. Dann senkt sie den Blick.

»Abgesehen von den Frakturen in Ihrem Brustkorb«, fährt der Arzt fort, »haben Sie einige schwere Hautabschürfungen an den Knöcheln. Ich habe Ihnen Salbe dagelassen. Wenn Sie duschen, sollten Sie die Wunden abgedeckt lassen, aber waschen Sie sie anschließend vorsichtig, und tragen Sie die Salbe auf, damit sie sich nicht entzünden, bis sie verheilt sind.«

Mit ausdruckslosem Gesicht starrt Becca auf den Boden, bevor sie langsam den Kopf hebt und Dr. Koleman ansieht.

»Becca, können Sie sich an das erinnern, was passiert ist?«, fragt er.

Sie schluckt sichtbar, bevor sie antwortet. »Ja.«

»Wäre es in Ordnung für Sie, mir zu erzählen, an was Sie sich erinnern?«

Im Raum ist es so still, dass ich jeden verdammten Atemzug hören kann, und jedes noch so leise Quietschen des Betts, wenn Becca sich bewegt.

»Das ist doch nicht mehr wichtig. Die Vergangenheit ist nicht ohne Grund vergangen und muss nicht noch mal aufgewärmt werden. Ich werde einfach weiter nach vorn schauen.«

Hä? Soll das eine Antwort für die Presse sein, oder was?

»Becca, Ihr Blutdruck ist ziemlich hoch. Nehmen Sie derzeit regelmäßig irgendwelche Medikamente ein?«

Sie blinzelt langsam, bevor sie die Frage mit einem Nicken beantwortet.

»Ich muss wissen, welche das sind.«

»Ich nehme Valium«, entgegnet sie, während sie die Finger ineinander verschränkt und dann unbewusst daran zieht. Ihr Blick huscht zu mir, bevor er erneut den Boden fixiert.

»Noch was?«

Sie kaut auf der Innenseite ihrer Wange herum. »Die Pille danach.« Überrascht hebe ich eine Augenbraue, während sie ergänzt: »Und Clonazepam.« Sie krallt die Hände in die Bettdecke und dreht den Stoff zu einer Wurst zusammen. »Allerdings nur nachts. Es hilft mir beim Einschlafen.«

»Wie lange nehmen Sie das schon?«

»Fast drei Monate. Ich wollte sie eigentlich ausschleichen, aber das hat nicht gut funktioniert«, antwortet sie leicht beklommen.

»Was ist passiert, als Ihr Arzt die Dosis herabgesetzt hat?«

»Ich hatte nur eine kleine Angstattacke.« Sie sagt das so beiläufig, als wäre es gar nicht von Belang. »Das Mittel hilft sehr gut.«

»Das sehe ich. Allerdings ist Ihr Blutdruck momentan ziemlich hoch, Becca.«

»Das sagten Sie schon.« Ihre Worte klingen scharf.

Der Doktor lehnt sich vor, und als er weiterspricht, ist sein Tonfall sehr ernst. »Ich mache mir Sorgen, dass Sie womöglich einen kleinen Schock erlitten haben.«

»Und was kann man dagegen tun?« Erwartungsvoll schaut sie ihn an, und ich bin fassungslos.

»Wir warten ein bisschen ab, und morgen wissen wir mehr. Ich möchte, dass Sie Ihre Medikamente weiternehmen, sofern Sie sie dabeihaben.«

Ihr Blick trifft auf meinen. »Die liegen bei mir zu Hause«, entgegnet sie leicht verärgert.

»Keine Sorge, ich bringe Ihnen heute noch neue vorbei.«

»Das ist doch nicht nötig. Ich muss sowieso nach Hause und ein paar Sachen holen.« Erneut will sie aufstehen, doch ich schneide ihr sofort den Weg ab.

»Ich besorge alles, was du und Jax brauchen. Du fährst nicht nach Hause.«

In ihren Augen flammt Wut auf. »Ich denke, du hast schon genug getan.«

Ihre Worte sollen mich verletzen, und sie verfehlen ihr Ziel nicht, trotzdem ignoriere ich sie.

»Willst du wirklich Jax in Gefahr bringen?« Damit gewinne ich endlich ihre Aufmerksamkeit. Sie presst die Kiefer zusammen.

»Und was soll ich dann machen? Nichts? Mich einfach von allem überrollen lassen?« Ihr Atem geht schneller, während sie immer lauter wird. »Einfach hier rumliegen und abwarten, welche Scheiße das Leben mir als Nächstes vor die Füße wirft?« Unvermittelt versetzt sie mir einen Stoß gegen die Brust, doch ich rühre mich nicht von der Stelle und weiche nicht zurück. »Was willst du von mir?« Ihre Augen füllen sich mit Tränen, während sie auf meine Antwort wartet und mich dabei unverwandt ansieht.

Das ist die Reaktion, mit der ich eigentlich gerechnet hatte, zwar nicht mit so viel Zorn vermischt, aber zumindest entspricht es mehr dem, was ich erwartet hatte.

»Du musst einfach nur mit zu mir kommen. Ich werde mich um alles kümmern.«

Humorlos lacht sie auf. »Nein, das wirst du nicht.« Diesmal ist die Wut aus ihrer Stimme verschwunden. Stattdessen klingen ihre Worte wie eine Tatsache. »Es gibt nur eine Person, die sich um mich kümmert, und das bin ich. Und ich kümmere mich um Jax«, fügt sie hinzu, während sie an mir vorbeihuscht. »Sonst niemand«, höre ich sie noch leise murmeln.

Sie schafft es gerade mal, die Tür einen Zentimeter zu öffnen, bevor ich meine Hand dagegenstemme und sie einschließe.

»Jetzt beruhige dich mal, Becca, und denk nur für einen Moment darüber nach. Du hast eigentlich keine andere Wahl.«

Abwehrend schüttelt sie den Kopf und versucht, die Tür zu öffnen, obwohl sie eindeutig sieht, dass ich sie zuhalte. »Ich gehe einfach zur Polizei. Die werden schon irgendwas machen können.«

Mir gefriert das Blut in den Adern, und ich fixiere den Doktor mit einem warnenden Blick. Becca bemüht sich immer noch, aus dem Zimmer zu kommen, ohne sich im Klaren darüber zu sein, was sie da gerade gesagt hat und welche Konsequenzen diese Worte für sie haben könnten.

Sanft lege ich die Hand auf ihren Rücken und lehne mich näher an sie heran, um ihr ins Ohr zu flüstern. »Ich werde jetzt so tun, als hättest du das nicht gesagt. Aber ich würde dir raten, diese Worte niemals zu wiederholen.«

Sie lässt die Hand von der Tür sinken und weitet die Augen. Dann dreht sie sich sofort um und schüttelt den Kopf. »So habe ich das nicht gemeint.« Sie schluckt und legt ihre Hände an meine Brust, während sie immer noch wie wild den Kopf schüttelt. »So habe ich das nicht gemeint.« Ihr Atem geht schneller, während sie sich zum dritten Mal wiederholt. »So habe ich das nicht gemeint.«

Beruhigend reibe ich mit der Hand kleine Kreise auf ihren Rücken und bedeute ihr, still zu sein. »Ich hab gar nicht gehört, was du gesagt hast, Kätzchen«, entgegne ich und drücke ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. »Was meintest du, hast du vor?« Scharf sehe ich sie mit zusammengekniffenen Augen an und hasse mich dafür. Sie braucht gerade Trost, auch wenn sie mich andauernd zurückstößt. Ich werde alles tun, um das Ganze wiedergutzumachen, selbst wenn das bedeutet, ein Arsch sein zu müssen.

Ihr Gesicht wird von einem Stirnrunzeln getrübt, und ein trauriger Schleier legt sich auf ihre Augen, als sie erkennt, dass sie verloren hat. »Ich hab gemeint, dass ich es so mache, wie du es sagst, Dom«, antwortet sie matt.

»Braves Mädchen. Ich werde für dich sorgen.« Sie schluckt nur merklich, ohne mich anzusehen, und sagt nichts mehr.

Becca ist eine starke Frau. Das wusste ich schon an dem Tag, als sie mein Büro betreten hat, aber gerade muss sie nicht stark sein. Sie kann auch nicht immer stark sein. Das ist unmöglich. Momentan braucht sie jemanden zum Anlehnen; jemanden, der die Führung übernehmen kann. Ihre schmalen Hände liegen immer noch an meiner Brust, als ich sie an mich ziehe. Nur widerwillig lässt sie es zu, dieser kleine Sturkopf. Lächelnd küsse ich sie auf den Kopf. Sie wird lernen müssen, sich von mir helfen zu lasen. Eine andere Wahl werde ich ihr nämlich nicht lassen.